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Archiv "Traumatisierung/ Menschenrechte: Die Leiden der Opfer nicht privatisieren!" (28.07.2000)

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ach dem Hurrikan ,Mitch‘ reisten psy- chotherapeutische Helfer durch Nicaragua, ließen die Katastrophen- opfer antreten und ihre schreckliche Geschichte erzählen – eine wahrlich satirische Praxis.“ Tho- mas Gebauer, Medico In- ternational, Frankfurt am Main, eine Organisation, die seit mehr als 15 Jahren psychosoziale Arbeit in Entwicklungsländern un- terstützt, kommentierte die hilflosen Versuche, den Menschen nach den katastrophalen Über- schwemmungen in Mit- telamerika zu helfen, sar- kastisch. Medico Interna- tional veranstaltete die Tagung „Psychosoziale Arbeit nach Krieg und Diktatur“, um mit Vertre- tern von Entwicklungshil- fe-Projekten die Frage zu diskutieren: „Was ist kon-

textuell angepasste psychosoziale Ar- beit?“

In der Entwicklungspolitik und Kata- strophenhilfe haben „Traumaprogram- me“ in den letzten Jahren einen festen Platz eingenommen. Die Notwendig- keit psychosozialer Arbeit ist unum- stritten; die WHO hat ein gesondertes Arbeitsfeld für diesen Ansatz. Rita

Süßmuth verlangte sogar eine „schnelle Eingreiftruppe Seele“*. Doch es mache wenig Sinn, betonte Gebauer, Men- schen nach Kriegserlebnissen, Folter oder Naturkatastrophen mit Kurzzeit- programmen – zum Beispiel struktu- rierten Debriefing-Gesprächen – helfen zu wollen, die auf der Theorie der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD: post traumatic stress disorder) beruhen. Nach der PTSD gilt ein Trau- ma als das, was zu Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen, Aggressivi- tät, Ängsten und psychosomatischen

Erkrankungen führt. Dr. David Becker, Freie Universität Berlin, ehemaliger Direktor von „Ilas“ (Lateinamerikani- sches Institut für Psychosoziale Gesund- heit und Menschenrechte), Santiago de Chile, kritisiert die Diagnose PTSD in der Entwicklungshilfe: Die Opfer wür- den „individuell pathologisiert und auf einen im Bereich der psychischen Krankheiten angesiedelten Symptom- katalog reduziert“. Der politische Kon- text der Situation, in der das Trauma ausgelöst wurde, werde verleugnet; das Leiden der Opfer und auch das Handeln der Täter werde somit privatisiert.

Doch wer schwere traumatische Erfahrungen durchlitten hat, betonte Usche Merk, Medico, werde ein Leben lang daran zu tragen haben: „Das Ge- webe, das Halt gibt, wurde zerrissen.

Die Anerkennung der Zerstörung und des tiefen Leids sowie das Eingeständ- nis der eigenen Hilflosigkeit sind Vor- aussetzungen, um Hilfe annehmen zu können.“ So habe in Chile die Aner- kennung des Leids – zuerst die Verhaf- tung des Ex-Diktators Augusto Pino- chet Duarte und dann die Aufhebung seiner Immunität – sowohl zu sponta- nen Heilprozessen als auch psychischen Zusammenbrüchen geführt.

Trauma lange verdrängt

Pinochet wird der Ermordung und Fol- terung während der Militärdiktatur zwischen 1973 und 1990 beschuldigt.

„Zum ersten Mal seit 25 Jahren kamen Folteropfer und Angehörige von ,Ver- schwundenen‘ zu uns und suchten Hil- fe. Menschen mit schweren psychischen Problemen, die das Trauma solange T H E M E N D E R Z E I T

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A2020 Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 97½½Heft 30½½28. Juli 2000

Traumatisierung/Menschenrechte

Die Leiden der Opfer nicht privatisieren!

Wie wichtig es ist, psychotherapeutische Hilfe in den jeweiligen politischen und kulturellen Kontext einzubetten, wurde bei der Tagung „Psychosoziale Arbeit nach Krieg und Diktatur“ deutlich.

* Diese Formulierung inspirierte Medico zum Titel einer lesenswerten Textsammlung: Schnelle Eingreiftruppe

„Seele“ – auf dem Weg in die therapeutische Weltgesell- schaft, Medico-Report 20, 96 Seiten, 10 DM. Medico In- ternational, Obermainanlage 7, 60314 Frankfurt/Main.

Demonstranten in Santiago de Chile protestieren gegen die Aufhebung der Immunität Pinochets. Bilder von Ermorde- ten während der Militärdiktatur zeigen seine Verbrechen

an. Foto: Codepu

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T H E M E N D E R Z E I T

Deutsches Ärzteblatt½½Jg. 97½½Heft 30½½28. Juli 2000 AA2021

verdrängt hatten“, berichtet Paz Rojas von der Menschenrechtsorganisation

„Codepu“ (Corporación de Promoción y Defensa de los Derechos del Pueblo) in Santiago de Chile. Die Ärztin für Neurologie und Psychiatrie behandelt seit zwanzig Jahren Patienten mit Ex- tremtraumatisierung, ausgelöst durch Verfolgung seitens der Militärdiktatur.

Codepu, wie Ilas ein Partnerprojekt von Medico, bietet psychotherapeuti- sche Betreuung an und betreibt zurzeit die juristische Strafverfolgung Pino- chets. Psychosoziale Arbeit, die in den gesellschaftlichen und politischen Kon- text eingebettet ist, bedeutet für Code- pu: eine eindeutige Position gegenüber dem Regime beziehen, das die Trauma- tisierungen verursacht hat.

Reinigungsrituale

tabuisieren das Sprechen

Ebenso wichtig wie die Anerkennung des Leids für den Erfolg psychosozialer Arbeit ist die Anerkennung der lokalen Gegebenheiten. Usche Merk, Medico, berichtet, dass in Mosambik westliche Therapeuten Schwierigkeiten hatten, sinnvolle Hilfsangebote für ehemalige Kindersoldaten zu entwickeln. Diese suchten Hilfe bei traditionellen Hei- lern, die Reinigungsrituale durchführ- ten und damit das Sprechen über die Kriegserlebnisse tabuisierten. Die mo- sambikanische Organisation „Recon- struindo a Esperança“ (RE) versucht, die Heilmethoden der traditionellen Medizin in die psychotherapeutische Arbeit zu integrieren: Sie arbeitet mit den Heilern zusammen. Wichtige Prin- zipien der Arbeit mit den Kindern, be- richtete der Psychologe Boia Efraime Junior, RE, waren, ihr Vertrauen wie- der aufzubauen, den traumatischen Er- fahrungen einen „Sinn“ zu geben, Ag- gressionen zu kontrollieren und ihnen eine Zukunftsvision zu geben. Deshalb habe die schulische und berufliche Qualifikation im Mittelpunkt der psy- chosozialen Arbeit gestanden. Tenden- ziell sei die soziale und wirtschaftliche Wiedereingliederung hinter die psy- chotherapeutische Arbeit getreten – kontextuell angepasste psychosoziale Arbeit in Mosambik. Aber was nützt das beste Konzept, wenn sich die po-

litischen und gesellschaftlichen Ursa- chen für Traumatisierungen nicht än- dern? – „Wir therapieren die Kin- dersoldaten, und danach werden sie wieder eingezogen“, stellt Boia Efrai- me Junior fest.

Wie wichtig es im psychotherapeuti- schen Setting ist, eine eindeutige politi- sche Haltung einzunehmen, beschreibt Marie Rössel-Cunovic, Frankfurter Ar- beitskreis Trauma und Exil (Fatra). Das Team von Fatra – Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter – betreut zurzeit 165 Flüchtlinge aus Bosnien, die wegen Traumatisierungen durch Kriegserleb- nisse in Behandlung sind, führt psycho- therapeutische Gespräche mit Flücht- lingsfamilien aus dem Kosovo und bie- tet Kunsttherapie für Flüchtlingskinder an. Zwischen 1992 und 1995 hatte Deutschland etwa 350 000 Kriegsflücht-

linge im Rahmen hu- manitärer Hilfe aufge- nommen. Doch nach dem Dayton-Abkom- men wurde bald mit der Rückführung in die Heimatländer be- gonnen. Aufgrund der Proteste von Hilfsor- ganisationen wurden Patienten mit post- traumatischen Bela- stungsstörungen aus- genommen, die sich nachweislich in ärztli- cher oder psychothe- rapeutischer Behand- lung befinden.

Die Mitarbeiter von Fatra stellten ei- nen „permanenten Zweifel der Behör- den“ fest, dass es sich tatsächlich um traumatisierte Menschen handelt. Vier- teljährlich müssen Therapeut und Pa- tient den Ausländerbehörden nach- weisen, dass PTSD vorhanden ist, um die Duldung der Flüchtlinge zu verlän- gern. Fragen wie, ob man statt Psycho- therapie nicht Medikamente einsetzen könnte, um die Patienten „rückkehr- fähig“ zu machen, seien an der Tages- ordnung. „Warum lässt man Menschen über Jahre in einem unsicheren Rechts- status, einem Zustand permanenter Angst, in das Land der Peiniger zurück- geschickt zu werden“, fragt Marie Rös- sel-Cunovic: „Nach jeder Abschiebe- androhung begannen wir in der Thera- pie wieder von vorn, sie in den Krisen zu stützen, Suizid zu verhindern.“ Psy- chotherapeutische Behandlung unter diesen schwierigen Bedingungen könne nur dann funktionieren, „wenn man kei- ne neutrale Haltung den gesellschaftli- chen Verhältnissen gegenüber hat, die weiter traumatisierend wirken“.

Das Problem der langfristigen Finan- zierung psychosozialer Projekte im Rahmen der Entwicklungshilfe wurde ebenfalls angesprochen. „Jedes Land bräuchte ab und zu einen Hurrican ,Mitch‘, um die Projekte finanziell si- chern zu können“, stellte David Becker fest. Denn die Bereitschaft der Bevöl- kerung, zu spenden, beschränke sich zunehmend auf die Katastrophenhilfe, gab das katholische Hilfswerk Misereor bekannt. Der Entwicklungshilfe-Etat sei zudem gesunken. Petra Bühring Der Frankfurter Arbeitskreis

Trauma und Exil e.V. benötigt dringend Spenden, um die Ar- beit in diesem Jahr weiterführen zu können. Spendenkonto:

Frankfurter Volksbank Konto-Nummer: 500 144 890 BLZ: 501 900 00

Medico Internationalfinanziert sich ebenfalls hauptsächlich über Spenden und unterstützt damit die Partnerprojekte im Ausland. Spendenkonto:

Sparkasse Frankfurt Konto-Nummer: 1 800 BLZ: 500 503 01

Ehemalige Kindersoldaten im Projekt Reconstruindo a Esperança in Mosambik Foto: Peter Steudter, Medico-Bildarchiv

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