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Archiv "Katastrophenmedizin: Übliche Rechtfertigung für Triage zweifelhaft" (15.09.2006)

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A2362 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 37⏐⏐15. September 2006

T H E M E N D E R Z E I T

D

ie katastrophenmedizinischen Lehr- und Handbücher lassen erkennen, dass die Triage nicht als eine ärztliche Tätigkeit wie jede an- dere empfunden wird, sondern als ein außergewöhnlicher, ethisch heikler und einzig durch die beson- deren Umstände zu rechtfertigen- der Vorgang. Aber was genau ist der

ethisch heikle Punkt? Die Tatsache, dass nicht alle Patienten mit dem medizinisch Notwendigen versorgt werden können, ist zwar außerge- wöhnlich, aber ein ethisch heikler Aspekt des Handelns in der Kata- strophe ist sie nicht. An der Tatsache der Knappheit im Verhältnis zum Bedarf können die in der Triage-Si-

tuation befindlichen Akteure (de- finitionsgemäß) nichts ändern.

Ethisch heikel kann nur ein Aspekt des Vorgangs sein, hinsichtlich des- sen die Akteure einen Entschei- dungsspielraum haben. Nicht dass überhaupt Verletzte unversorgt be- ziehungsweise vorerst unversorgt bleiben, ist also das Problem; das Problem ist, ob man rechtfertigen kann, wer unversorgt bleibt. Sehen wir uns also die Prinzipien, denen die Patientensortierung folgt, auf ihre Vereinbarkeit mit allgemein anerkannten ethischen Geboten wie insbesondere dem Gebot der glei- chen Achtung vor jedem Menschen hin an.

Kategorisierung der Dringlichkeit

Das Prinzip, dem die Triage am of- fensichtlichsten und ausdrücklich- sten folgt, ist das des Vorrangs des dringlicheren Bedarfs. Es sind je- doch zwei verschiedene Deutungen oder Aspekte von Dringlichkeit im Spiel: a) Es werden die weniger schwer Verletzten zurückgestellt, weil die Verhinderung der bleiben- den Gesundheitsschäden, die ihnen drohen, auch später noch möglich ist (zeitbezogene Deutung); b) es werden die weniger schwer Verletz- ten zurückgestellt, weil die bleiben- den Schäden, die ihnen drohen, ge- ringer sind (schadensbezogene Deutung). Im Standardprozedere (1) lautet die Beschreibung der Sichtungskategorie I „akute, vitale Bedrohung“; die Behandlungskon- sequenz ist „Sofortbehandlung“.

Die Beschreibung der Kategorie II lautet „schwer verletzt/erkrankt“;

hier wird als Konsequenz „aufge- schobene Behandlungsdringlich- keit“ angegeben. Logischerweise müsste es „aufgeschobene Behand- lung“ heißen. Im zeitlichen Sinn weniger dringlich („aufschiebbar“) ist die Behandlung von Schwerver- letzten ohne akute vitale Bedrohung tatsächlich nur hinsichtlich der vita- len Bedrohung, nicht jedoch eo ipso auch hinsichtlich drohender schwe- rer bleibender Schäden.

Die rechtfertigende Kraft dieser beiden Deutungen ist nun aber nicht dieselbe. Es ist ein Unterschied, ob man einen Patienten B gegenüber ei-

Foto:ddp

KATASTROPHENMEDIZIN

Übliche Rechtfertigung für Triage zweifelhaft

Eine Priorisierung, die sich an der Wirksamkeit orientiert, lässt sich nur mit einem von allen getragenen Ex-ante-Konsens begründen. In der Alltagsmedizin sind solche Priorisierungen viel schwerer begründbar.

Weyma Lübbe

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nem akut lebensbedrohten Patienten A zurückstellt mit der Begründung, B werde seine gequetschten Beine durch den Aufschub der Behandlung nicht verlieren, oder ob man B zurückstellt mit der Begründung, der Verlust seiner Beine wiege nicht so schwer wie der Verlust des Lebens von A. Im ersten Fall mutet man ei- nem Menschen zu, zugunsten des Erhalts des Lebens eines anderen Menschen eine oder ein paar zusätz- liche schmerzhafte Viertelstunden in Kauf zu nehmen; im zweiten Fall je- doch mutet man ihm den lebenslan- gen Verzicht auf seine Beine zu.

Zugunsten anderer derart hohe persönliche Nachteile hinnehmen zu sollen ist nicht Bestandteil unse- rer Alltagsmoral, und eine Rechts- pflicht ist es auch nicht. Das Recht erlegt uns das Hinnehmen von Nachteilen zugunsten anderer, so- weit es sich nicht ohnehin nur um finanzielle Lasten handelt, vor allem im Rahmen der §§ 34 und 323c StGB auf (rechtfertigender Not- stand und unterlassene Hilfelei- stung). Beide Normen verpflichten selbst im Fall lebensgefährlichen Unglücks anderer nicht zur Inkauf- nahme derart erheblicher eigener Gesundheitsschäden.

Man müsste also, soweit die Zurückstellung wegen geringerer Dringlichkeit auch bei starken blei- benden Schäden praktiziert wird, entweder erklären, warum die Zu- mutung, erhebliche eigene Interes- sen zugunsten größerer Interessen anderer schlicht als vernachlässi- genswert eingestuft zu sehen, beim Massenanfall über das im Alltag ak- zeptierte Maß hinausreichen soll, oder es muss die Zurückstellung des Patienten B im geschilderten Fall an- ders begründet werden, nämlich oh- ne Rekurs auf die These, der größere Schaden sei eo ipso auch der, der zu verhindern ist.

Ethisch zu hinterfragende Zuordnung der Verletzten In der Literatur werden Verletzte, die in die Kategorie IV eingeordnet wer- den, meist als Verletzte „ohne Überlebenschance“ bezeichnet. So- fern diese Bezeichnung zutrifft, sind Rettungsanstrengungen vergeblich und können ohne ethische Bedenken

unterlassen werden. Bekanntlich ist das aber nicht alles, was zur Katego- rie IV zu sagen ist. Das ergibt sich be- reits aus dem häufigen Zusatz, auf die Behandlung der in diese Katego- rie Eingeordneten müsse „zunächst“

verzichtet werden oder sie würden

„vorerst“ aufgegeben. So formuliert man nur, wenn eine Behandlung nicht schlechthin als aussichtslos gilt. Meist findet sich dazu der Hin- weis, die Einordnung in die Katego- rie IV sei nicht nur vom Verletzungs- grad der fraglichen Person abhängig, sondern auch von den Verhältnissen am Unfallort. Das leuchtet ohne wei- teres ein, wenn eine zur Rettung ge- eignete Ressource am Unfallort nicht vorhanden ist. Es könnte aber auch sein, dass die rettende Ressour- ce am Unfallort nicht in ausreichen- der Menge vorhanden ist und bevor-

zugt anderswo eingesetzt wird. In diesem Fall wäre es nicht korrekt zu sagen, dass der betreffende Verletzte keine Überlebenschance hat.

Es fragt sich also: In welche Ka- tegorie fällt ein Patient, der bei schwersten Verletzungen durchaus gute Überlebenschancen hätte, falls man einen weit überdurch- schnittlichen Anteil der am Unfall- ort knappen Ressourcen auf ihn konzentrieren würde? Dieser Fall heiße der des ressourcenintensiven Verletzten. Wenn auch ein solcher Patient zurückgestellt wird, bedarf das einer anderen Begründung, als sie der Gesichtspunkt der Vergeb- lichkeit bietet. Eine explizite, defi- nitorische Einordnung solcher Fäl- le in die Kategorie der Hoffnungs- losen ist in der Literatur unüblich.

Es finden sich aber Passagen, die auf dasselbe hinauslaufen, zum Beispiel die folgende: „Man wird versuchen, das Beste zu erreichen, ohne durch unvernünftigen Einsatz hochwertiger Mittel bei extremen Situationen andere Menschenleben zu gefährden . . . Eine chirurgische Equipe für die Versorgung eines

komplizierten Einzelfalles für Stun- den zu binden kann die Erfolgsaus- sichten der anderen Wartenden beim Massenanfall infrage stel- len.“ (2)

Den Einsatz von Mitteln für die Rettung eines Menschenlebens als

„unvernünftig“ zu bezeichnen, das hat natürlich etwas Bedenkliches. In der zitierten Passage wird das gemil- dert durch die Behauptung, durch solchen Mitteleinsatz würden ande- re Menschenleben gefährdet. Tat- sächlich gefährdet man aber auch umgekehrt ein Menschenleben, nämlich den komplizierten Einzel- fall, wenn man die von ihm benötig- ten Ressourcen an die weniger kom- plizierten Fälle verteilt. Als einzige Basis für die unterstellte Unvernunft der Rettung des komplizierten Falles bleibt offenbar die Tatsache, dass die

weniger komplizierten Fälle, die al- ternativ gerettet werden können, in der Mehrzahl sind.

Eine solche Rücksicht auf die Anzahl der Geretteten gehorcht dem Gesichtspunkt der Effizienz.

Bekanntlich ist es dieser Gesichts- punkt, der typischerweise den ge- nerellen Benennungen des Triage- ziels zugrunde liegt (die genauen Formulierungen variieren etwas:

„möglichst viele Verletzte mit Überlebenschance behandeln“, „das Bestmögliche tun für die größte Zahl“, „ein ausreichendes Maß me- dizinischer Versorgung einem möglichst großen Kollektiv zu- kommen lassen“ und Ähnliches mehr). Wer meint, es handle sich um einen ethisch ohne weiteres zu- stimmungspflichtigen Gesichts- punkt, der möge über die folgenden Fragen nachdenken: Würde man es für richtig halten, dass Transplanta- tionsmediziner Patienten mit dop- peltem Organbedarf (zum Beispiel Herz und Leber) gar nicht erst auf die Warteliste setzen, anstatt sie, wie es de facto meist geschieht, als Hochdringlichkeitspatienten anzu-

Statistische Leben sind Leben, die Politiker retten oder nicht

retten, wenn sie Gesetze und Verordnungen erlassen, die die

Allokation von gesundheitsrelevanten Ressourcen betreffen.

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A2366 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 37⏐⏐15. September 2006

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melden? Nämlich deshalb, weil mit den benötigten Ressourcen zwei andere Patienten überleben könn- ten? Würde man es für richtig hal- ten, dass im Anschluss an ein Schiffsunglück die Passagiere an- gewiesen werden, die nicht in aus- reichender Menge verfügbaren Ret- tungsboote in der Reihenfolge ihres Körpergewichts zu besteigen (die Dicken zuletzt) – nämlich deshalb, weil dann insgesamt mehr hinein- passen?

In beiden Fällen scheint die richti- ge Antwort „nein“ zu lauten, und es wird in der Praxis auch nicht so ver- fahren. Dass Einzelne auf ihre Überlebenschance verzichten sol- len, weil man mit den Ressourcen bei alternativem Einsatz einen größeren Gesamtnutzen erzeugen kann, ist ganz offensichtlich keine triviale Norm. Warum sie in der Katastro- phenmedizin leitend sein soll, in an- deren Fällen dagegen nicht, das be- darf einer Begründung.

Effizienzbegründung:

Ex-ante-Konsens

Meines Erachtens muss die Begrün- dung auf einem Weg gesucht wer- den, der auf den angeblichen ethi- schen Gesichtspunkt der Gesamt- nutzenmaximierung nicht zurück- greift. Eine haltbare Begründung stützt sich auf die Legitimationsfigur des so genannten Ex-ante-Konsen-

ses. Auf diesem Weg wäre zugleich auch die oben diskutierte Zurück- stellung bei geringerem, aber erheb- lichem bleibenden Schaden legiti- mierbar.

Die Grundidee ist folgende: Nie- mand von uns weiß vorab, wer im Großschadensfall in welcher Weise verletzt sein wird. Die Zuordnung konkreter Personen zu den Kategori- en der Patientensortierung ist uns vor dem Schadensereignis unbekannt.

Deswegen, aber auch nur deswegen, liegt es ex ante (nämlich vor der Ka- tastrophe) im Interesse aller, sich auf eine Form der Ressourcenverteilung einzulassen, die nicht drastisch inef- fizient ist. Denn damit erhöht sich für alle potenziell Betroffenen, und zwar für alle in gleicher Weise, die Chance, die Katastrophe zu überle- ben beziehungsweise sie mit mög- lichst geringen Schäden zu überle- ben. Daher widerspricht es auch nicht dem Grundsatz der gleichen Achtung, diese Regeln zu be- schließen.

In der Alltagsmedizin dagegen, wie auch in dem erwähnten Ret- tungsbootfall, gibt es keine derart klare Übereinstimmung der Ex-an- te-Interessen. In der Alltagsmedizin ist nicht einmal klar, was „ex ante“

überhaupt heißen soll, denn hier fehlt die Trennung zwischen Nor- mallage und Schadenslage. Im All- tag sind ja immer schon viele auf

vielerlei Weise krank oder haben er- höhte Risiken, manche von Geburt an. Man kann daher immer schon wissen, dass bestimmte Individuen bei einer effizienzorientierten Ver- teilung die Verlierer wären. Ent- sprechend sind in der Alltagsmedi- zin effizienzorientierte Priorisie- rungsprogramme politisch und auch in der wissenschaftlichen De- batte höchst umstritten. Die mittler- weile in vielen Ländern, auch bei uns, detailliert geführte Diskussion über Fragen der Rationierung im Gesundheitswesen zeigt das mit al- ler Deutlichkeit (3, 4, 5).

Pflicht zur vorsorgenden Kapazitätserhöhung?

Wer intensiv oder auch weniger in- tensiv Katastrophenvorsorge be- treibt, der entscheidet, anders als der Notarzt auf dem Katastrophen- platz, über sogenannte statistische Leben, nicht über individuelle oder konkrete Leben. Wenn es ans Ster- ben geht, stirbt freilich immer ein Individuum – mit allen Ängsten und allem Schmerz, die es für die Betroffenen und ihre Angehörigen bedeutet. Sollte man also das Ret- ten sogenannter statistischer Le- ben, präventiv, nicht ebenso um- sichtig betreiben wie das Retten der individuellen Leben, die man akut versorgt?

„Statistische Leben“ sind Leben, die Politiker retten oder eben nicht retten, wenn sie Gesetze und Ver- ordnungen erlassen, die die Allo- kation von gesundheitsrelevanten Ressourcen betreffen. Katastro- phenschutzwesen und Gesund- heitswesen sind nicht die einzigen Politikbereiche, in denen das ge- schieht. Auch Verordnungen zur Verbesserung der Luftreinhaltung, technische Vorschriften zum Ar- beitsschutz oder Maßnahmen zur Erhöhung der Sicherheit im Stra- ßenverkehr retten Leben. Gleich- wohl identifizieren wir makro- allokative Ressourcenzuteilungen im Allgemeinen nicht als die Ursa- chen individueller Todesfälle. Wir sagen zum Beispiel, dass Herr Mül- ler einem Verkehrsunfall zum Opfer fiel, nicht, dass er ein Opfer der geltenden Straßenverkehrsordnung

wurde.

Vorab-Konsens Niemand weiß vorab, wer im Großschadens- fall in welcher Weise verletzt sein wird.

Foto:vario-press

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A2368 Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 37⏐⏐15. September 2006

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Das verhielte sich anders, wenn die Identitäten der künftigen Opfer zum Zeitpunkt der betreffenden Ent- scheidungen bekannt wären. Stellen wir uns einmal vor, sie wären be- kannt. Die künftigen Opfer der poli- tischen Ressourcenallokation wür- den den Entscheidern sozusagen di- rekt ins Gesicht blicken. Das politi- sche Entscheiden käme wohl sofort zum Stillstand.

Das Gedankenexperiment macht deutlich, dass die Attraktivität effi- zienzorientierten Entscheidens an der Anonymität der Opfer hängt.

Wann immer Sterbe- oder Verlet- zungsrisiken sich erkennbar auf in- dividuelle Personen zuspitzen, küm- mert man sich um diese Personen und nicht um die möglicherweise viel zahlreicheren anonymen Perso- nen, die sterben werden (aber ganz ebenso wirklich sterben werden!), weil man Vorsorgemaßnahmen nicht optimiert hat. Effizient ist das nicht.

Aber offenbar wollen wir oder wol- len jedenfalls die meisten von uns nicht vor allem in einer Welt leben, in der möglichst viele Menschen mög- lichst lange überleben. Wir wol- len lieber in einer Welt leben, in der man sich von akuter Not nicht um statisti- scher Lebenszeitge- winne willen abwen- det. Diese Präferenz lassen wir uns etwas kosten, wenn auch vermutlich – was die Zukunft des Ge- sundheitswesens er- weisen wird – nicht be- liebig viel.

Nach Großschadenser- eignissen, während derer die akute Not einiger Opfer unberück- sichtigt bleiben musste, kommt es oft zur Suche nach den „Verantwort- lichen“. Es gibt ja immer irgend- etwas, das hätte besser laufen kön- nen, und vor allem gibt es vieles, das hätte besser laufen können, wenn man besser vorgesorgt hätte. Da es um Leben geht, wird gerne unter- stellt, dass das, was hätte besser lau- fen können, auch hätte besser laufen müssen. Bei gewöhnlichen Ver- kehrsunfällen geht es freilich eben- falls um Leben, und auch hier gäbe es stets allerlei, was man vorsorglich

hätte besser machen können (über- sichtlichere Streckenführung, gründ- licherer Winterdienst, häufigere Lkw- Kontrollen und anderes). Dennoch ist die öffentliche Reaktion nicht dieselbe. Das hängt nicht nur mit dem psychologischen Effekt von plötzlichen im Unterschied zu so- genannten schleichenden Katastro- phen zusammen, die sich erst nach und nach zu großen Opferzahlen akkumulieren. Vermutlich hat es

auch damit zu tun, dass die Opfer von Katastrophen, anders als die meisten Opfer gewöhnlicher Ver- kehrsunfälle, nicht selbst als die Ver- antwortlichen zur Verfügung stehen.

Sie sind nicht zu schnell gefahren, sie sind nicht am Steuer eingeschla- fen – sie sind nur Opfer. Infrastruk- turelle Vorsorge ist daher der einzige Hebel, an dem man ansetzen kann beziehungsweise hätte ansetzen können, um sie zu schützen. Deshalb richtet sich die öffent- liche Aufmerksam- keit hier ganz auf

diesen Hebel.

Dennoch ist der Schluss von der Möglichkeit besse- rer Katastrophenvor- sorge auf die Pflicht zur besseren Katastrophen- vorsorge, so häufig er nach Katastrophen auch zu hören ist, unberechtigt. Er ist ebenso unbe- rechtigt wie die These, dass, solange es noch irgendwelche zur Senkung der Verkehrstotenzahlen geeigneten infrastrukturellen Maßnahmen gibt, diese ergriffen werden müssten.

Denn ebenso wie im Fall der Ver- kehrstoten haben wir es im Fall von Katastrophenopfern, solange es um Vorsorge geht, mit statistischen Le- ben zu tun. Hier ist auch Kosteneffi- zienz ein Argument. Statistische Katastrophenopfer konkurrieren mit statistischen Verkehrsunfallopfern, Arbeitsunfallopfern, Schadstoff-

emissionsopfern, mit den statisti- schen Opfern sozialer Gewalt und Verwahrlosung und so fort. In der hochkomplexen Welt, in der wir le- ben, gibt es keine Möglichkeit, sol- che makroallokativen Entscheidun- gen aus ethischen Prinzipien zu de- duzieren. Aber eben weil wir das nicht können, ist die Frage nach dem Umfang präventiver Aufwendun- gen, die für den Katastrophenfall zu treiben sind, keine Prinzipienfrage,

sondern eine politische Frage. Un- vermeidlich wird dabei der kollekti- ven Risikowahrnehmung Tribut ge- zollt, die unter dem Eindruck der je- weils aktuellen Medienberichter- stattung stark variiert. Man kann im- merhin froh sein, dass es sich bei Entscheidungen zur Katastrophen- vorsorge zumeist um infrastrukturel- le Maßnahmen handelt, die sich nicht im Wochentakt ändern lassen.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2006; 103(37): A 2362-2368

LITERATUR

1. Sefrin P, Weidringer JW, Weiss W: Sichtungs- kategorien und deren Dokumentation. Dtsch Arztebl 2003; 100(31–32): A 2057–8.

2. Rossetti M: Besonderheiten und Schwer- punkte der ärztlichen Tätigkeit. In: Lanz R, Rossetti M (Hg.): Katastrophenmedizin.

Stuttgart: Ferdinand Enke 1980; 23–8.

3. Nagel E, Fuchs C (Hg.): Rationierung und Ra- tionalisierung im deutschen Gesundheitswe- sen. Stuttgart, New York: Georg Thieme 1998.

4. Ubel PA: Pricing Life. Why It’s Time for Health Care Rationing. Cambridge/Mass., London:

MIT 2000.

5. Lübbe W: Patientenorientierung und Kosten- orientierung. Über (Un-)vereinbarkeiten von Kostenbewusstsein und ärztlichem Ethos.

Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaf- ten 2006; 47: 177-92.

Anschrift der Verfasserin:

Prof. Dr. Weyma Lübbe Institut für Philosophie Universität Leipzig Beethovenstraße 15 04107 Leipzig

Wir wollen lieber in einer Welt leben, in der man sich von

akuter Not nicht um statistischer Lebenszeitgewinne willen

abwendet. Diese Präferenz lassen wir uns etwas kosten.

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