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Archiv "Zyanidvergiftung durch Leinsamen?" (05.04.1979)

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin AUSSPRACHE

Ausgangspunkt ist Ihre Angabe, wo- nach 100 g Leinsamenmehl zu le- bensgefährlichen Vergiftungen füh- ren können. Ich nehme an, daß für diese Angabe die Toxikologie-Fibel von Wirth, Hecht und Gloxhuber, Georg Thieme Verlag, Stuttgart, 2.

Auflage, Seite 176, als Quelle ge- dient hat.

Bei optimaler enzymatischer Spaltung des zyanogenen Glykosi- des Linamarin, die in vivo niemals stattfindet (Näheres darüber in Punkt 2 + 3 der Stellungnahme), kann in 100 g Leinsamen nur soviel HCN entstehen, daß - ungeachtet der Entgiftungsfaktoren - nur bei ei- nem Kinde eine Vergiftung theore- tisch auftreten könnte. In 100 g Lein- samen können formal 15 bis 30 mg Blausäure aus dem Linamarin ent- stehen.

Als mittlere tödliche Dosis werden in dem gleichen Handbuch 50 mg HCN, also die Menge an HCN, die in rund 200 g Leinsamen vorhanden wären, angegeben.

© Von einer ganzen Reihe von Au- toren wurde festgestellt, daß die en- zymatische Spaltung von

Linamarin durch das Enzym Lina- se (in älteren Angaben auch als Li- namarase bezeichnet)

> in Blausäure + Glucose + Aceton

nur in schwach saurem Milieu (pH 4-6) stattfindet; das heißt also, bei normalen physiologischen Bedin- gungen erfolgt durch die Inaktivie- rung der Linase durch den Magen- saft keine Abspaltung von HCN. Das Entstehen von Blausäure ist also nur bei stark gestörten Aziditätsverhält-

nissen denkbar, und zwar muß dabei der pH-Wert des Magensaftes über 4,0 liegen.

®

In vitro erfolgt die Freisetzung von Blausäure bei optimalen Bedin- gungen (pH 5,5 und bei einer Tem- peratur zwischen 40° und 50° C) erst nach ca. 4 Stunden. Dieser langsa- men Entstehungskinetik steht der relativ schnell funktionierende Ent- giftungsmechanismus in vivo ge- genüber. Blausäure wird durch das Enzym Rhodanase an Schwefel ge- koppelt:

CN - + S CNS - .

Das entstehende Rhodanid ist viel weniger toxisch als das Zyanid.

Hierzu zitiere ich Ch. Härtling wört- lich:

„Mit Hilfe dieser Entgiftungsmecha- nismen (Anmerkung: In der Publika- tion werden neben der Rhodanidbil- dung noch weitere zusätzliche Ent- giftungsmechanismen genannt.) kann der Mensch schätzungsweise 30 bis 60 mg HCN in der Stunde unschädlich machen, das ist 12- bis 24mal mehr als in einer Stunde aus einer Dosis von 30 g Leinsamen theoretisch freigesetzt werden kann."

® Die in mehreren Handbüchern jüngsten Datums zitierten Vergif- tungsfälle bei Pferden beruhen nicht nur auf Übertragungsfehlern son- dern auch auf einer vermutlich fal- schen Interpretation der toxikologi- schen Symptome der bekanntge- wordenen Vergiftungsfälle im Lehr- buch der Toxikologie aus dem Jahre 1897.

Während in dem eben erwähnten Lehrbuch (2. Auflage, Urban und

Schwarzenberg, 1897) von „fre- quenten kleinem Puls und Be- schleunigung der Atmung" berich- tet wird, zitiert 0. Gessner in seinem Handbuch „Die Gift- und andere Arzneipflanzen von Mitteleuropa"

diese Literaturquelle mit: „Bei Mas- senvergiftungen von Pferden trat der Tod unter den für Blausäurever- giftungen typischen Erstickungs- symptomen ein". Letztere Sympto- me sind in der Tat ein Merkmal für eine Blausäurevergiftung.

Allerdings besteht ein sehr großer Unterschied zwischen den Sympto- men der Urquelle, nämlich „der Be- schleunigung der Atmung" und der Wiedergabe dieser Symptome durch 0. Gessner. Weitere Handbücher verwenden in der Folge diese fal- sche Wiedergabe von 0. Gessner.

Wenn man weiter die Angaben in der Urquelle (im Lehrbuch der Toxikolo- gie, 1897) kritisch analysiert, dann muß man zu dem Schluß kommen, daß die damals aufgetretene Mas- senvergiftung nicht durch Blausäu- re, sondern durch andere Substan- zen verursacht worden ist. Die ange- gebenen Symptome: Frequenter kleiner Puls, Erweiterung der Pupil- le, Beschleunigung der Atmung, Ko- lik mit Diarrhöe (!) oder Verstopfung (Leinsamen und Verstopfung?!), Be- nommensein, akute Nephritis (!), Lungenödem, kapillare Extravasate an den Hirnhäuten lassen eher eine Vergiftung durch Mikroorganismen, z. B. durch Mykotoxine oder durch Eubacteriales glaubhaft machen.

Mit Sicherheit ist die angegebene Vergiftung nicht auf das Blausäure- glykosid Linamarin zurückzuführen.

Wenn man auf der anderen Seite die unhygienische Weiterverarbeitung und die meist sehr primitive Lage- rung des Leinsamenpreßkuchens, der ja als Abfall bei der Leinölher- stellung anfällt, berücksichtigt, dann ist eine mikrobiologisch bedingte Vergiftung rückwirkend eher zu konstruieren als die angegebene Blausäurevergiftung, die im übrigen durch chemisch-analytische Daten nicht belegt worden ist. Hinzu kommt, daß seit rund 10 Jahren rie- sige Mengen an Leinsamenmehl als

Zyanidvergiftung durch Leinsamen?

Zum Beitrag von Dr. med. Volker Schulz in Heft 46/1978, Seite 2757 f.

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Heft 14 vom 5. April 1979 955

(2)

Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Zyanidvergiftung

Eiweißlieferant in der Tieraufzucht verwendet werden.

Zusammenfassung

Aufgrund der Untersuchungen meh- rerer wissenschaftlicher Arbeitskrei- se, unterstützt durch eigene Arbei- ten mit Linamarin, kann eine Zyanid- vergiftung mit 100 g Semen Lini (laut Notiz im DEUTSCHEN ÄRZTE- BLATT, Heft 46) mit aller Sicherheit ausgeschlossen werden.

Dies, weil in erster Linie über „ech- te" und exakt nachgewiesene Zya- nidvergiftung mit Leinsamen in der wissenschaftlichen Literatur nicht berichtet wird, während die angebli- chen Blausäurevergiftungen sich auf eine Urquelle aus dem Jahre 1897 zurückführen lassen, die da- mals falsch interpretiert und in der Folgezeit noch zusätzlich falsch weitergegeben wurde.

Literatur

(1) Lewin, L: Lehrbuch der Toxikologie, 2. Auf- lage, Urban und Schwarzenberg, Wien und Leipzig, 1897 - (2) Gessner, 0.: Die Gift- und andere Arzneipflanzen von Mitteleuropa, Ver- lag Carl Winter, Heidelberg, 1. Auflage 1953 und 2. Auflage 1974 - (3) v. Werz, R.: Münch- ner Medizinische Wochenschrift, 103 (1961) Heft 37, — (4) Lüdtke, M.: Biochem. Z. 322 (1952) 310 — (5) Härtling, Ch..: Dtsch. Apoth.- Ztg. 109 (1969) Nr. 27 — (6) Wirth, W.; Hecht, G., und Gloxhuber, Ch.: Toxikologie Fibel, 2. Auf- lage, Thieme Verlag 1971 - (7) Hagers Hand- buch der Pharmazeutischen Praxis, 4. Auflage, Springer Verlag 1976

Professor Dr. Heinz Schilcher Öffentlich bestellter und vereidigter Sachverständiger Weingartenstraße 47

7033 Herrenberg 2

Schlußwort

Der Gedankengang von Herrn Pro- fessor Schilcher erscheint uns ver- ständlich, und wir stimmen teilweise auch damit überein. Die besondere Schwierigkeit bestand für uns aber darin, daß das Problem „Leinsamen und Blausäure" sehr unterschied- lich interpretiert werden kann, je

nachdem, ob man es aus therapeuti- scher oder aus toxikologischer Sicht betrachtet. In dem Beitrag „Zyanid- vergiftung" war das letztere unser Anliegen.

Schilcher hat die „Toxikologie-Fi- bel" von Wirth et al. (1) zitiert. Dort heißt es auf der Seite 176 wörtlich:

„Für einen erwachsenen Menschen stellen also ... unter Umständen auch 100 g Leinsamenmehl die mitt- lere tödliche Gabe dar." Er stellt selbst fest, daß „rein theoretisch"

ein Kind durch 100 g Leinsamen le- bensgefährlich vergiftet werden könnte, und bezieht sich dabei auf einen Gehalt an Blausäure von 15 bis 30 mg pro 100 g Leinsamen.

Andere Autoren (2, 3) geben jedoch den maximalen Blausäuregehalt von Leinsamenprodukten auch mit 50 mg pro 100 g an, und eine solche Dosis könnte theoretisch auch für einen Erwachsenen lebensgefähr- lich sein.

Die berechtigten Zweifel an der To- xizität der Blausäure aus Leinsamen begründen sich in der Dynamik ihrer Aufnahme und Entgiftung im Körper sowie darin, daß entsprechende Ver- giftungsfälle bei Menschen nicht be- kannt geworden sind. Wir hatten uns jedoch vergeblich bemüht, in der Li- teratur stichhaltige Beweise für die Unbedenklichkeit, zum Beispiel an- hand pharmakokinetischer Messun- gen der Blausäureresorption nach der Einnahme von Leinsamenmehl zu finden. In-vitro-Messungen rei- chen bei solchen Fragestellungen als Grundlage für die Therapie- sicherheit unseres Erachtens nicht aus.

Über die Freisetzung der Blausäure im Magen—Darm gibt es außerdem recht unterschiedliche Meinungen:

Während beispielsweise Professor Schilcher in seinem Gutachten schreibt, daß die Linase im Magen- saft inaktiviert wird (aus toxikologi- scher Sicht müßten allerdings auch gestörte Aziditätsverhältnisse be- rücksichtigt werden), nimmt der von ihm zitierte Autor v. Werz (2) an, daß für die enzymatische Freisetzung

der Blausäure im Darmkanal „opti- male" Verhältnisse bestünden.

Wie schwer die nachträgliche Inter- pretation von Vergiftungsfällen nur anhand beschriebener Symptome schließlich ist, das wird aus dem Ab- schnitt vier des Gutachtens von Herrn Professor Schilcher deutlich.

Einige der dort zitierten Beobach- tungen (frequenter Puls, Beschleu- nigung der Atmung, Erweiterung der Pupille) können typischerweise im Frühstadium von Zyanidvergiftun- gen auftreten, andere dagegen nicht.

Zusammenfassend sind wir mit Herrn Professor Schilcher der Mei- nung, daß selbst 100 g Leinsamen- mehl, in einer Dosis genommen, bei einem erwachsenen Menschen wahrscheinlich nicht zu einer Zya- nidvergiftung führen würden.

Den sicheren Beweis für eine solche Unbedenklichkeit konnten wir aber nicht finden. Wir kamen deshalb nicht umhin, die entsprechende An- gabe aus dem Lehrbuch von Wirth et al. (1) zu übernehmen.

Wir sehen das jedoch als eine unum- gängliche Feststellung im Rahmen eines Beitrages über die Zyanidver- giftung an. Wir sind keineswegs ge- gen die Anwendung von Leinsamen- mehl als Laxans.

Literatur

(1) Wirth, W., Hecht, G., Gloxhuber, Ch.: Toxi- kologie-Fibel, 2. Auflage, Georg Thieme Ver- lag, Stuttgart (1971) - (2) Werz, R., Blausäure im Leinsamen, Münchner Med. Wschr. 103 (1961) — (3) Baumeister, R. G. H.; Schievelbein, H.; Zickgraf-Rüdel, G.: Toxicological and Cli n- ical Aspects of Cyanide Metabolism, Arzneim.- Forsch. 25 (1975) 1056-1064.

Anschrift des Verfassers:

Dr. Volker Schulz Medizinische

Universitätsklinik Köln (Direktor Prof. Dr. R. Gross) Joseph-Stelzmann-Straße 9 5000 Köln 41

956 Heft 14 vom 5. April 1979 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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