DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
EDITORIAL
Die Halbwertszeit:
Eine „Weltformel"?
is vor kurzem war die Halb- wertszeit (HWZ) ein Fach- ausdruck, der im wesentlichen den Naturwissenschaftlern (und hier wiederum den Physi- kern) vorbehalten war. Die HWZ ist vor allem im Zusam- menhang mit der Beschrei- bung des radioaktiven Zerfalls bekannt geworden.
Radioaktive Elemente zerfallen mit einer physikalischen Halb- wertszeit HWZp (T 112p), die für sie charakteristisch ist; zum Beispiel wird das radioaktive Jod-131 mit einer HWZp von ungefähr 8 Tagen umgewan- delt; Gold-198 (HWZp = 2,7 Tage), Tritium (HWZp = 12,3 Jahre), Kalium-40 (HWZp 1,3 109 Jahre)*) und Radi- um-226 mit einer HWZp von 1,622 • 10 3 Jahren **).
Wenn auch für das Einzelindi- viduum der Zeitpunkt nicht voraussehbar ist, so ändert sich dieser Aspekt, wenn man vom Einzelindividuum (Atom- kern) zu einer Vielzahl von In- dividuen, zum „Kollektiv" (zu dem sich aus vielen Einzelindi- viduen zusammensetzenden, radioaktiven Element) extrapo- liert. Dann nivelliert sich ge- wissermaßen bei einer Vielzahl (Kollektiv, Gruppe) von Einzel- individuen der einzelne Zer- fallsakt auf eine statistisch konstante Zerfallsgröße, reprä- sentiert durch die in Rede ste- hende HWZ; das heißt, „im Schnitt" zerfällt immer der gleiche Prozentsatz der jeweils vorhandenen Gesamtmenge an Einzelindividuen (Gesamt- menge der Atomkerne des ra- dioaktiven Elements).
lersche Zahl, die als Basis des natürlichen Logarithmus dient (e = 2,7 ...); k die Proportio- nalitäts-, hier Zerfallskonstan- te. Der Wert 100k gibt an, wie- viel Prozent der noch nicht veränderten Individuen in der nächsten Sekunde umgewan- delt werden.
Stellt man diese Formel um zu N t
— = e -xt N o
und setzt man N, = 0,5 N o zum Zeitpunkt t = T 112 , so folgt nach Logarithmierung:
In 0,5 = —?\.T1/2 In 2 0,693
T112
k = ti Der radioaktive Zerfall hat ge- wissermaßen sein Pendant im exponentiellen Wachstum:
N t = N o at Der radioaktive Zerfall besteht
in einer selbständigen (sponta- nen) Umwandlung des Atom- kerns eines radioaktiven Ele- mentes. Hierbei erfolgt unter Aussendung radioaktiver Strahlung ein Übergang von einem „angeregten", labilen Energiezustand in einen stabi- len Grundzustand. Für einen einzelnen Atomkern ist der Zeitpunkt des Zerfalls nicht voraussehbar; es ist ein zufälli- ges Ereignis. Der Zerfall kann beispielsweise innerhalb der nächsten 100 000stel Sekunde, aber auch erst in 100 000 Jah- ren erfolgen.
*) 109 Jahre = 1 000 000 000 Jahre!
**) 1,622 10 3 Jahre = 1622 Jahre
So vielfältig und kompliziert die Phänomene der radioakti- ven Kernumwandlungen im einzelnen auch sein mögen, so folgen sie letzten Endes in ih- rem quantitativen Verhalten doch dem gleichen einfachen Gesetz, welches besagt, daß eben von der Gesamtmasse in gleichen Zeitintervallen ein gleichbleibender Prozentsatz von Einzelindividuen zerfällt:
N t = N o e -xt Hierbei bedeuten: N o die Zahl der anfangs vorhandenen Indi- viduen, Kerne; Nt die Zahl der Individuen, die zu einem Zeit- punkt t noch nicht verändert, umgewandelt sind; e die Eu-
Die Formel unterscheidet sich nur im Vorzeichen des Expo- nenten. Hierbei bezeichnet man X in Analogie zur Zerfalls- konstanten als Vermehrungs- konstante. Unter der Verdop- pelungszeit T2 versteht man denjenigen Zeitraum, in wel- chem die ursprüngliche (stati- stische) Masse N o verdoppelt wird (N t = 2 N0), Daraus resul- tiert eine analoge Gleichung:
In 2 0,693
T2=
In diesem Sinne ist also der radioaktive Zerfall ein „negati-
1956 (56) Heft 27 vom 2. Juli 1986 83. Jahrgang Ausgabe A
700 140 70 35 18 14 10 7 0,1
0,5 1,0 2,0 4,0 5,0 7,0 10,0 Zerfalls- bzw.
Wachstumsrate (in Prozent pro Jahr)
Verdoppelungszeit bzw. Halbwertszeit
(in Jahren) Tabelle: Positive und negative Wachstumsprozesse
(In 2 = 0,69315 auf 0,7 aufgerundet)
Beispiel aus der Praxis: Erhalten Sie bei einer Bank 7% Zinsen, dann verdoppelt sich Ihre Einlage in zehn Jahren.
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ver" exponentieller Wachs- tumsprozeß und vice versa.
Während der Zerfallsprozeß seine Domäne auf physikali- schem Gebiet hat, ist der Wachstumsprozeß ein bedeu- tendes Charakteristikum biolo- gischer Vorgänge. Die mathe- matische Anwendung dieser Gesetze von positiven und ne- gativen Wachstumsprozessen ist nun über die ursprüngli-
chen naturwissenschaftlichen Disziplinen hinausgegangen und hat sich inzwischen als ein wichtiges heuristisches Prinzip für Deutung und Analy- se relevanter Vorgänge, insbe- sondere auf ökonomischen, technischen, bevölkerungspo- litischen, sozialmedizinischen, ökologischen und environtolo- gischen Gebieten erwiesen.
Die Wachstumsprozesse in komplizierten Strukturen ge- horchen zwar im Prinzip die- sen abgeleiteten Gesetzen, können sich aber in praxi recht kompliziert gestalten.
Denken wir in diesem Zusam- menhang nur an das Wachs- tum der Weltbevölkerung.
Im Jahre 1650 soll es auf der Erde ungefähr 0,5 Milliarden Menschen gegeben haben; die Wachstumsrate selbst wurde damals mit ungefähr 0,3 Pro- zent pro Jahr veranschlagt, was einer Verdoppelungszeit (T2) von ungefähr 250 Jahren entspricht. 1970 hingegen leb-
ten auf der Welt bereits 3,6 Milliarden Menschen bei einer Wachstumsrate von 2,1 Pro- zent, woraus sich eine kürzere Verdoppelungszeit von nur 33 Jahre ergibt. Das bedeutet, daß die Weltbevölkerung nicht nur exponentiell gewachsen ist, sondern darüber hinaus die Wachstumsrate selbst auch noch gewachsen ist.
Meadows spricht in diesem Zusammenhang von einer Art superexponentiellen Wachs- tums.
Kybernetisch kann auch das Bevölkerungswachstum als
Regelkreissystem mit positiver Rückkopplung beschrieben werden. In dieses System greift aber noch ein anderes Regelkreissystem mit negativer Rückkopplung ein, das durch die Absterberate charakteri- siert wird.
Ist das Zusammenspiel zwi- schen diesen beiden Phäno- menen positiven und negati- ven exponentiellen Wachstums noch leicht überblickbar, so sind komplizierte Systeme so- zioökologischer Strukturen mit ihren vielfältigen miteinander vermaschten Regelkreisen und Parametern nur noch mit Näherungsformeln zu be- schreiben.
Mathematisch analysierbar bei gleichzeitiger Berücksichti- gung der wichtigsten Interde- pendenzen sind aber solche
„Supersysteme" nur noch durch Einsatz von Groß- rechenanlagen, in denen allein derartige komplizierte Modelle durchgespielt werden können.
Die Berücksichtigung derarti- ger Gesetze des exponentiel- len Wachstums in fast allen Lebensbereichen ist zu einer Conditio sine qua non, zum Beispiel für die Beurteilung von Schäden durch inkorpo- rierte Spaltprodukte und des künftigen Schicksals unserer Erde und seiner Lebewesen geworden.
Professor Dr. med. Dr. rer. nat.
Emil-Heinz Graul Direktor des Instituts für Environtologie und Nuklearmedizin der Universität Marburg Bahnhofstraße 7 3550 Marburg/Lahn
Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 27 vom 2. Juli 1986 (57) 1957