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Archiv "Haiti nach dem Erdbeben: Ein Land liegt am Boden" (26.11.2010)

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A 2328 Deutsches Ärzteblatt

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Heft 47

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26. November 2010

HAITI NACH DEM ERDBEBEN

Ein Land liegt am Boden

Bis heute leben in Haiti circa eine Million Erdbebenopfer in behelfsmäßigen Lagern.

Schon vor der Katastrophe galt der Karibikstaat als gescheitert. Die Bevölkerung wird deshalb noch lange am Tropf der internationalen Hilfe hängen.

D

ie 28-jährige Ilemise Joseph war gerade im ersten Stock ihres Hauses in Port-au-Prince, als die Erde bebte. Trümmer des ein- stürzenden Dachs zerfetzten ihr Bein. „Tagelang irrte ich durch die Stadt, und als ich endlich ein Krankenhaus fand, das mich be - handeln konnte, musste das Bein amputiert werden“, erinnert sich die junge Frau.

Das Beben am 12. Januar dieses Jahres traf Haiti, eines der ärmsten Länder der Welt, mit voller Wucht.

Innerhalb von zwei Minuten stürz- ten schätzungsweise 250 000 Wohn- häuser, Ministerien, Kirchen, Schu- len und Krankenhäuser ein, min- destens 200 000 Menschen verloren ihr Leben, mehr als eine Million ihr Zuhause, Zehntausende Kinder wurden zu Waisen, 10 000 Men- schen zu Amputierten.

Besonders hart traf es die haitia- nische Hauptstadt Port-au-Prince mit ihren schon vor dem Beben überfüllten Elendsvierteln, der man- gelhaften Infrastruktur und Verwal- tung und den unzähligen stinkenden Müllbergen. Auf jedem freien Fle- cken dieser Hafenstadt, an Müllhal- den und Abhängen, auf Grünflächen und selbst auf den Mittelstreifen von Straßen entstanden in der Folge Lager aus Zelten, Pappkartons und Wellblech. Bis heute leben dort zwi-

schen den Trümmern etwa eine Mil- lion Erdbebenopfer.

Mitarbeiter von zahllosen Hilfs- organisationen und Zehntausende US-amerikanische Soldaten ström- ten gleich nach dem Beben ins Land, um Leben zu retten und das Leben in den Lagern erträglicher zu machen, darunter auch das Team vom deutschen „Technischen Hilfs- werk“ (THW). „Unsere Helfer schufteten rund um die Uhr in den Lagern, bereiteten Trinkwasser auf, reinigten Latrinen und zogen bei sengender Hitze Kanäle, um die La- ger für die Hurricansaison sicherer zu machen und den Ausbruch von Seuchen zu verhindern“, erklärt THW-Mitarbeiter Morris Viertel.

Doch alle Bemühungen der Helfer konnten den Ausbruch der Cholera nicht verhindern. Circa 1 000 Hai- tianer sind bereits an der Seuche gestorben , 10 000 Krankheitsfälle wurden offiziell registriert, die Dunkelziffer soll nach Angaben von Caritas international viermal so hoch liegen.

Die Menschen müssten dringend aus den Zeltlagern heraus, sind sich die Helfer einig. Doch der Wieder- aufbau verzögert sich, weil drin- gend benötigtes Material wie Bau- holz nur schleppend ins Land ge- langt. Das liegt an bürokratischen Zollbestimmungen, von der die Re-

gierung auch angesichts der kata- strophalen Lage im Land nicht ab- weichen will. So müssen sich die Hilfsorganisationen in Haiti regis- trieren lassen, was bisweilen bis zu sechs Monate dauert. Erst danach dürfen sie ihre Hilfsgüter zollfrei ins Land holen. Für das beim Zoll lagernde Material streicht die Re- gierung aberwitzige Lagergebühren ein. „Die Lagerhallen am Hafen von Port-au-Prince sind völlig über- füllt. Inzwischen werden die Güter gar nicht mehr ins Land gelassen, sondern stapeln sich in Jamaika“, kritisiert THW-Mitarbeiter Viertel.

Besonders prekär ist die Lage der 300 000 Kindersklaven Ein weiteres Problem sind die un- geklärten Besitzverhältnisse, da Katasterämter fehlen. Außerdem konnten bislang erst knapp fünf Prozent des Schutts beseitigt wer- den, weil geeignete Fahrzeuge feh- len und ein zügiger Abtransport des Bauschutts den Verkehr auf den schon jetzt ständig verstopften Stra- ßen von Port-au-Prince komplett zum Erliegen bringen würde.

Besonders prekär ist die Lage der vielleicht 300 000 Kindersklaven, die zusammen mit ihren „Gastel- tern“ ihr Heim verloren haben und mit diesen nun oft in Zelten unter noch härteren Bedingungen ihr Da-

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sein fristen müssen, wie Christalion (10), Natascha (13) und Eldena (14). Für ein Dach über dem Kopf und ein paar magere Essensreste schuften die drei Kindersklaven von früh bis spät, schleppen Wasser, fe- gen, putzen, kochen und waschen.

Ihre Eltern, arme, haitianische Bau- ern, gaben sie für ein paar Dollar an Menschenhändler. Die versprachen, die Kinder bei guten Gastfamilien unterzubringen, wo sie für ein we- nig Hilfe im Haushalt eine solide Schulbildung erhalten sollten. Statt- dessen erwartet die meisten Kin- der bei den sogenannten Tanten und Onkeln, wie sich die Gasteltern nen- nen, weder Schule noch gutes Es- sen. Statt dessen werden die Kinder wie Sklaven ausgebeutet, verprügelt und bisweilen auch vergewaltigt.

„Oft nähert sich mir mein ,Cousin‘

sexuell, und wenn ich mich bei der ,Tante‘ beschwere, schreit sie, ich würde lügen, und dann schlägt sie mich“, sagt Eldena.

Die deutsche Kindernothilfe hat im größten Slum der Stadt, der „Ci- té de Soleil“, für die Kindersklaven einen Zufluchtort geschaffen. „Bei uns lernen die Kinder ein wenig le- sen, schreiben und rechnen, unsere Betreuer singen und tanzen mit ih- nen, und jeder bekommt ein warmes Essen – für viele die einzige Mahl- zeit am Tag“, berichtet Projektleite- rin Katja Anger. Dazu kommt eine basismedizinische Versorgung.

Nur wenige finden im verarmten Land eine Arbeit, dazu kommen die Hoffnungslosigkeit und der Mangel an Privatsphäre. Und nur die we- nigsten konnten bislang in eigens gefertigte Holzhäuser umziehen.

„Viele Lagerinsassen leiden am post - traumatischen Stresssyndrom, was sie wiederum oft aggressiv werden

lässt. Vergewaltigungen sind häu- fig“, erklärt die Allgemeinärztin Dr.

med. Valerie Chadic. Die junge Ärz- tin leitet das Caritas-Gesundheits- zentrum in der rund 40 Kilometer von Port-au-Prince entfernten Stadt Leogan, wo das Epizentrum des Erd- bebens lag und die als zu 90 Prozent zerstört gilt. Chadic kümmert sich mit einem Team von Kranken- schwestern vor allem um die Frauen in den Lagern. 125 Opfer von Ver - gewaltigung hat sie bis heute regis- triert, die meisten davon sind Mäd- chen unter 16 Jahren. Viele haben die Eltern verloren und leben schutz- los allein in einem Zelt, andere wer- den zu Opfern, wenn sie die vom Camp entfernten Latrinen oder Duschen aufsuchen. „Erst kürzlich habe ich zwei 16 und 19 Jahre alte Frauen medizinisch behandelt, die beide von einem 40-jährigen bewaff- neten Mann im Lager Dufort verge- waltigt wurden. Sie weinten die gan- ze Zeit, weil ihnen trotz ihrer Schreie niemand zu Hilfe kam. Gemeinsam ging ich mit ihnen zur Polizei, doch die hat bis heute nichts unternom- men, um die Frauen zu schützen“, erläutert die Caritas-Ärztin.

Von Darbonne aus, einer Streu- siedlung etwa 30 Minuten von Leo- gan entfernt, besucht Dr. med. Ale- xis Aristide mit Team im Auftrag von Malteser International mit einer mobilen Klinik verschiedene Dör- fer, um die Einwohner der bette l - armen Gegend, zumeist einfache Bauern, kostenfrei medizinisch zu versorgen. Weil ein Krankenhaus und Straßen fehlen, müssen Schwan - gere, Schwerkranke und Verletzte oft stundenlang zu Fuß auf simplen Türen über unwegsame Trampel-

pfade und durch Flüsse bis zur nächsten Straße getragen werden.

Die Malteser sorgen dann für den Weitertransport in die nächste Kli- nik. „Am häufigsten haben wir mit Malariaerkrankungen, Atemwegs- infektionen und Infektionen der Haut zu tun, dazu kommen infolge des Erdbebens Stresserkrankungen wie Kopfschmerzen, Magenge- schwüre und Bluthochdruck. Weil Latrinen durch das Beben zerstört wurden, dringen Fäkalien ungefil- tert in den Boden und verschmutzen das Trinkwasser. Deswegen gibt es auch viele Probleme mit Genitalin- fektionen und Durchfallerkrankun- gen“, erklärt der erschöpfte Arzt.

Die Regierung ist völlig überfordert

Aufgrund ihrer Verletzungen, die sie beim Erdbeben davongetragen haben, mussten bis zu 10 000 Hai- tianern Gliedmaßen amputiert wer- den. Die Amputierten leben am Rande der Gesellschaft. Sie werden aus Scham von ihren Familien ver- steckt, oft werden sie von ihren Partnern verlassen. Die Folge sind psychosomatische Erkrankungen wie Kopfschmerzen, Depressionen, Ängste. In Leogan kümmert sich ein Team von Krankenschwestern, Psychologen und Orthopädietech- nikern der Johanniter speziell um Amputierte. „Wir erklären ihnen, dass sie mit ihren Ängsten und Pro- blemen nicht alleine dastehen, son- dern viele weitere ihr Schicksal tei- len, und wir entwickeln mit ihnen gemeinsam Strategien, ihr Schick- sal besser zu akzeptieren und zu ler- nen, mit der Behinderung im Alltag umzugehen“, sagt Orthopädietech- nikerin Cornelia Koehler.

Da die haitianische Regierung von der Katastrophe völlig überfor- dert ist, viele Verwaltungsbeamte bei dem Beben ihr Leben verloren haben und das Land auch schon vor der Katastrophe als „failed state“

galt, als gescheiterter Staat mit un- zureichendem Gesundheitssystem, zu wenigen Schulen und schwacher Infrastruktur, werden die Haitianer noch lange am Tropf der internatio- nalen Hilfe hängen, sind sich Ex-

perten einig. ■

Annette Blettner Warten auf Hilfe:

ein Choleraopfer im größten Slum der Hauptstadt Port-au-Prince

Foto: dpa Foto: Picture Aliance

Die Lage stabili- sieren: Soldaten der Vereinten Na - tionen patrouillieren in den Straßen der Cité de Soleil.

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