A 1968 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 110|
Heft 42|
18. Oktober 2013NACHWEIS VON POLIOWILDVIREN IN ISRAEL
Anlass für Wachsamkeit
Molekulare und epidemiologische Analysen belegen, dass das Poliowildvirus einem südostasiatischen Genotyp entspricht, welcher derzeit in Pakistan zirkuliert.
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uropa ist seit über elf Jahren als polio- frei zertifiziert, jetzt aber schätzt die Weltgesundheitsorgani- sation (WHO) das Risiko der inter- nationalen Weiterverbreitung der Polioviren als hoch ein. Grund da- für sind anhaltende Nachweise von Poliowildviren (Typ 1) aus Abwas- ser in Israel, dem Westjordanland und Gaza. Die Viren zirkulieren in verschiedenen Teilen des Landes, dennoch traten wegen der hohen Polioimpfquoten von mindestens 94 Prozent bisher keine Erkran- kungsfälle bei Menschen auf.Israel, das zur WHO-Region Europa zählt, gilt seit vielen Jahren als frei von Kinderlähmung – seit 1988 meldeten die Behörden keine Polioerkrankungen mehr. Seit Febru- ar 2013 wurden jedoch Poliowildvi- ren gefunden – zuerst in den Städten Rahat und Beer Sheva im Süden Is- raels, später in anderen Landesteilen.
Durch intensivierte Überwachung konnten die Erreger bis Ende Sep- tember in 96 Abwasserproben aus 27 verschiedenen Stellen nachgewiesen werden, darunter Mitte September auch in Jerusalem. Molekulare und epidemiologische Analysen ergaben, dass das Virus einem südostasiati- schen Genotyp entspricht, welcher derzeit in Pakistan zirkuliert und 2012 auch in Ägypten im Abwasser nachgewiesen wurde.
Virusausscheider: eine Gefahr Bereits kurze Zeit nach dem Nach- weis der Poliowildviren wurden von den israelischen Gesundheits- behörden Impfungen mit der biva- lenten oralen Polio-Vakzine (bOPV 1+3) begonnen. In Israel wird routi- nemäßig seit 20 Jahren die inakti- vierte Polio-Vakzine (IPV) verwen- det, wie in den meisten anderen Ländern der WHO-Region Europa.
Diese schützt zwar zuverlässig vor
einer Erkrankung, vermittelt aber nur eine schwache mukosale Immu- nität, so dass infizierte Personen Polioviren ausscheiden können und somit ein Risiko für Ungeimpfte darstellen.
Die orale Lebendvakzine wurde jetzt in Israel erstmals seit 2005 ein- gesetzt. Die durch diesen Impfstoff vermittelte Darmimmunität verhin- dert wirksam die Übertragung der Viren von Mensch zu Mensch. Bis- lang wurden durch Impfaktionen mehr als die Hälfte aller unter Neun- jährigen in Israel erreicht. Dadurch sollen vor allem Kinder geschützt werden, bei denen die Routineimp- fungen aus unterschiedlichen Grün- den fehlen.
Derzeit werden die Wildviren zwar immer noch nachgewiesen, je- doch mit abnehmender Tendenz.
Sie wurden zuletzt auch an keinen neuen Abwasseruntersuchungsstel- len mehr gefunden.
Da der Mensch das einzige Re- servoir für die fäkal-oral übertrage- nen Polioviren ist, überrascht es nicht, dass sich bei der Untersu- chung von circa 3 000 Stuhlproben auch 48 asymptomatische Virusträ- ger fanden. Israel untersucht seit vielen Jahren systematisch Um- weltproben. Dabei wurden zwi- schen 1991 und 2002 auch schon sporadisch Poliowildviren im Ab- wasser nachgewiesen, ebenfalls oh- ne Erkrankungsfälle.
Eine Polio-Infektion verläuft zu über 95 Prozent asymptomatisch.
Jede persistierende Virusübertra- gung ist in der Endphase der Polio- eradikation als alarmierendes Zei- chen anzusehen und gilt als Ge- sundheitsgefährdung des betroffe- nen Landes und der angrenzenden Gebiete. Auf der 66. Weltgesund- heitsversammlung im Mai 2013 in Genf wurde ein neuer Strategieplan für die Endphase der Polioeradika-
tion 2013 bis 2018 angenommen.
Danach soll die Übertragung von Poliowildviren bis Ende 2014 end- gültig und nachhaltig gestoppt wer- den. Weltweit ist die Zahl der Polio- erkrankungen seit Beginn der Global Polio Eradication Initiative in 1988 von damals 350 000 auf bisher 287 registrierte Fälle (2013) zurückgegangen.
Europa ist nicht gefeit
Endemisch ist die Polio derzeit nur noch in drei Ländern (Nigeria, Pa- kistan und Afghanistan). Wie rasch sich der Erreger jedoch wieder aus- breiten kann und dass auch Europa nicht gefeit ist, zeigte sich zuletzt 2010, als es in Tadschikistan zu ei- nem Polioausbruch mit 460 labor- bestätigten Erkrankungen kam und sich das Virus in die benachbarten Länder Russland, Turkmenistan und Kasachstan ausbreitete. Die Epidemie konnte damals jedoch durch rasche Impfkampagnen ge- stoppt werden. Auch in diesem Jahr wurden Polioerkrankungen durch importierte Viren in Somalia, Ke- nia, Äthiopien und Südsudan ge- meldet, wo entsprechend 175, 14, vier und drei Erkrankungsfälle auf- getreten sind (Stand 2. 10. 2013).
Der intensive Reiseverkehr zwi- schen Israel und Europa erhöht die Wahrscheinlichkeit des Poliowild- virusimportes in die Länder der EU.
Während das Infektionsrisiko bei geimpften Personen sehr gering ist, können Ungeimpfte infiziert wer- den und auch erkranken. Reisende sollten daher vor Aufenthalten in Is- rael, dem Westjordanland oder im Gazastreifen ihren Impfschutz überprüfen. Liegt die Polioimpfung mehr als zehn Jahre zurück, sollte sie aufgefrischt werden.
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Das Poliovirus gehört zur Familie der Picornaviridae.
Es handelt sich um ein nicht-umhülltes Virus mit einem Genom aus einzel- strängiger RNA, das
vorwiegend durch Schmierinfektion (fäkal-oral) übertra-
gen wird“.
Foto: picture alliance
Dr. med. Sabine Diedrich Prof. Dr. med. Reinhard Burger Robert Koch-Institut