SPRACH- UND KULTURWISSENSCHAFTEN
SEKTIONSLEITER: B. FLEMING, HAMBURG
DIE LANDAUFNAHME NACH EINER URKUNDE AUS DER ERSTEN HÄLFTE
DES XVI. JAHRHUNDERTS
von Irene Beldiceanu-Steinherr, St. Augustin
Es ist schon mehrere Jahrzehnte her, daß die osmanischen Register die Aufmerk¬
samkeit der Wissenschaftler auf sich gelenkt haben, und wir verdanken diesem
neuen Forschungszweig eine Reihe von wertvollen Arbeiten. Bis jetzt hat sich aller¬
dings noch niemand gefragt, wie eine Landaufnahme vorgenommen wurde, und bis
zu welchem Grad man den osmanischen Registern Vertrauen schenken kann. Wir
haben nun eine Urkunde aufgefunden, die die Landaufnahme eines Sangaqs be¬
schreibt. Die Urkunde ist uns in drfei Abschriften überliefert. Die erste befindet sich in der Bibliothöque Nationale zu Paris (ms. fonds turc ancien 35), die zweite in der
Bibliothek des Topkapf Sarayi in Istanbul (Revan Kö^kü 1936) und die dritte m
der Staatsbibliothek Beriin (Orient 2730). Die Urkunde ist an einen Emin gerichtet,
d.h. an die Person, die mit der Landaufnahme betraut wurde - man sagte auch II
Yazigi — und an seinen Sekretär, auf türkisch Kätib. Sie zählt ausführlich all die Vorschriften auf, an die sich der Emin und sein Sekretär zu halten hatte, und gibt
dadurch wertvolle Aufschlüsse über den Ablauf einer Landaufnahme. Leider wissen
wü nicht, um welchen Sangaq es sich handelt, denn der Abschreiber hat den Namen
durch ein lakonisches fulan ersetzt. Ebenso werden der Emin und sein Sekretär mit
fulan bezeichnet.
Was die Datierung der Urkunde betrifft, so besitzen wir sehr wenig Arüialtspunk-
te. Da die Handschrift der Bibliotheque Nationale am 29. Regeb 953 (25. Sept.
1546) beendet wurde, ist die Urkunde vor diesem Datum ausgefertigt worden. Dem
Stü nach zu schließen, dürfte sie der Regiemng Selims I oder Süleymäns des Prächti¬
gen angehören. Der Paragraph, der die zwangsmäßige Rückfühmng der flüchtigen
Einwohner der Gebirgspässe erwähnt, deutet auch auf die Regiemngszeit Selims I
oder Süleymäns hin, denn erst unter diesen zwei Herrschern nahmen die sozialen
Unmhen beträchtlich zu. Bei der Datierung müssen wir auch folgende Tatsache be¬
rücksichtigen. Liest man die Urkunde aufmerksam durch, so merkt man, daß es sich
um ein Anialgam mehrerer Firmane handelt. § 6 z.B. ist sicherlich ein Auszug aus
einem Befehl an verschiedene Kadis, denn alle Anweisungen sind ausschließlich an
Kadis gerichtet. Der Bmch zwischen § 6 und § 7 ist unverkennbar, denn zu Beginn
des § 7 hat sich der Schreiber verpflichtet gefiihlt zu erwähnen, daß der folgende Absatz ausschließlich an den Emin gerichtet ist. § 9, der die Reismühlen betrifft.
XX. Deutscher OrientaMstentag 1977 in Erlangen
378 Irene Beldiceanu-Steinherr
war ursprünglich sicher ein unabhängiger Befehl, der gar nicht an diese Stelle paßt.
§ 8, der die Marktgelder (bag) betrifft, und § 10, der die Höchstpreise (narlj) fest¬
setzt, gehören nämlich ursprünglich zusammen. Der Verfasser der Urkunde hätte
die Reismühlen unter § 7 erwähnen müssen, wo von den Getreidemühlen die Rede
ist. § 10 scheint ursprünglich das Ende einer Urkunde gewesen zu sein, denn er ent¬
hält Ausdrücke, die zum Schlußprotokoll gehören.
Sieht man von den eben erwähnten Ungeschicklichkeiten des Verfassers ab, so
weist die Urkunde einen logischen Aufbau auf. Man kann sie in fünf Teile gliedern.
§§ 1 und 2 rechtfertigen die Landaufnahme, wobei allerdings wirtschaftliche und
soziale Betrachtungen außer acht gelassen sind. Im zweiten Teil fragt sich der Ver¬
fasser, woher die Steuereinnahmen herrühren. Zuerst werden die Immobilien er¬
wähnt: Felder, Obst- und Gemüsegärten, Weinberge usw. Danach kommen die Per¬
sonalsteuern. Da im osmaiuschen Reich die verschiedenen Bevölkerungsschichten
verschieden besteuert wurden, werden neben den Raias die Bergleute, Schmiede,
Jäger, Falkner, Reisanbauer, Nomaden usw. einzeln aufgeführt. Der dritte Teil
enthält die technischen Einzelheiten, die man bei einer Landaufnahme zu beachten hatte, und ist für uns der interessanteste. Der vierte Teil ist der längste. Er stellt
eine Zusammenfassung aller Steuern dar, die im osmanischen Reich gängig waren.
An erster Stelle stehen natürhch der Zehnt und die Säläriyye, die von landwirt¬
schaftlichen Erträgen erhoben wurden; anschließend kommen die Steuern für Ge¬
treide- und Reismühlen, Filzpressen und Talyan. Ein Paragraph ist den Markt¬
geldern gewidmet und ein weiterer den Höchstpreisen. Am Schluß kommen die
außerordenthchen Abgaben (^aväriz). Die Urkunde endet mit den üblichen Ermah¬
nungen. Der Emm und sein Sekretär sollen ihre Aufgabe redlich erfüllen; sie sollen
keine Bestechimgsgelder annehmen und niemanden bevorteüen. Außerdem wird
noch angeführt, wieviel Aspern sie von der Bevölkerung als Abfindung für üire Tä¬
tigkeit erheben durften.
Kommen wh nun zum technischen TeU der Landaufnahme. Der Sultan wählte
zunächst eine Person aus, die fähig war, ejne solch schwierige Aufgabe zu erfiülen,
und gab ihr einen Sekretär bei. Landaufnehmer und üire Sekretäre stammten meist
von GelehrtenfamUien ab. Sie waren teüs Kadis, teüs Sekretäre in der Zentralverwal¬
tung. Manchmal gehörten sie auch zur müitärischen Klasse. Der Emin und sein
Sekretär erhoben von der Bevölkerung als Abfindung für ihren Dienst je einen Asper
pro FamUie, was im Rahmen eines San|aqs eine ganz beachtliche Summe ergab.
Natürlich hatten sie eine Reihe von Ausgaben: Spesen für Unterkunft und Verpfle¬
gung, Futter für die Reit- und Lasttiere usw. Die Urkunde besagt ausdrücklich, daß
es dem Emin und seinem Sekretär verboten war, von der Bevölkemng kostenlose
Unterkunft und Verpflegung zu verlangen. Es bleibt nur die Frage offen, ob sie
auch für Papier und Tinte aufkommen mußten.
Trotz der reichlichen Abfindung waren der Emin und sein Sekretär nicht zu be¬
neiden. Die Bevölkemng war ihnen feindlich gesinnt, denn von ihrem Gutachten
hüig die Besteuemng ab. Wh wissen, daß im Jahre 926 (Beginn: 23. Dez. 1519) in
der Provinz Bozoq der Kadi Muslih ed-Din und sein Sekretär einen gewaltsamen
Tod gefunden haben. Wir sind bis jetzt drei Registern begegnet, die von anderer
Hand vervollständigt worden sind. In zwei Fällen besagt das Vorwort, daß der Emin und sein Sekretär gestorben waren. Das gleichzeitige Ableben des Landaufnehmers
und seines Sekretärs lassen eher auf Mord als auf einen Unfah schließen.
Sobald der Emin in der Provinz eintraf, versammelte er all die Leute, die ein Ein¬
kommen besaßen, nicht nur Timarempfänger oder ihre Vertreter, sondern auch
Besitzeigentiimer, Personen, die die Nutznießung einer Stiftung inne hatten oder
solche, die Privilegien besaßen. Jeder mußte seinen Berat, seine Eigentumsurkunde
oder sonstige Bestätigung vorweisen, und alles wurde sorgfältig nachgeprüft und
notiert. Dann ließ sich der Emm das Register geben, das die Namen aller Raias
enthielt, die entweder das IspenCe oder das Hufgeld (resm-i tift) zahlten, und be¬
gann mit der Umfrage unter den Raias. Aus der Urkunde geht hervor, daß die Raias
dem Emin berichten mußten, wem sie in den letzten drei Jahren die Steuern ausge¬
händigt hatten und in welcher Höhe. Durch diese Maßnahme sollte es den Timar-
empfängern unmöglich gemacht werden, fälschlicherweise zu behaupten, sie seien
erst vor kurzem gekommen und hätten noch keine Steuern eingezogen. Der Kadi
war bei dieser Umfrage zugegen. Der Emin notierte anschließend den Steuerertrag der letzten drei Jahre und verglich ihn mit dem Ertrag der vorherigen Landaufnah¬
me. War der Ertrag größer oder kleiner, so wurde dies ebenfalls notiert. Dann teilte
er den Steuerertrag der letzten drei Jahre durch drei — mit anderen Worten, er er¬
rechnete den Durchschnitt - und schrieb die Zahl ins Register. Nach Nasir ed-DIn
Tüsi zu schließen, wurden in Iran in der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts die
Steuern auf ähnliche Weise errechnet. Im osmanischen Reich hatte allerdings der
Emin nicht das Recht, den Wert der Steuerabgabe in Aspern festzusetzen. Dieses
Vorrecht war der Pforte vorbehalten.
Waren die durchschnittlichen Steuerabgaben errechnet, dann begann der Emin
mit der Zählung der Raias. Der Pforte lag es sehr daran, daß alle Raias gewissenhaft
im Register aufgenommen wurden, denn der Wert eines Timars hing von der Anzahl
des Raias ab. Ein Problem bildeten die Halbwüchsigen. Es war verboten, Kinder als
steuerpflichtige Personen einzutragen. Da aber das Gesetz keine Altersgrenze vor¬
sah, gab es oft Streit. Der Emin hatte keine Befugnis, Streitfalle zu schlichten; er mußte sie an die Pforte weiterleiten.
Der Landaufnehmer war verpflichtet, mehrere Register anzulegen. Eines für die
Timar, em weiteres für uneingeschränktes Besitztum und schließlich eins für die
frommen Stiftungen. In jedem Register mußten die verschiedenen Kategorien der
Bevölkerung einzeln aufgefülirt werden. Die in den Archiven verwahrten Register
beweisen, daß all diese Vorschriften eingehalten wurden. Waren allerdings Mülk-
und Vaqfeigentum nicht sehr zahlreich, dann wurden alle drei Register zu einem
Band zusammengebunden. Der Landaufnehmer registrierte zum Schluß noch die
Marktpreise. Die Aufstellung der Register der außerordentlichen Abgaben/'%värzzy
oblag dem Imäm und dem Kethüdä.
Sobald die Landaufnahme abgeschlossen war, mußten der.Emin und sein Sekre¬
tär die Register an die Pforte bringen. Erst dann bestimmte der Sultan den Wert der Bodenerträge, setzte die Höchstpreise fest und schlichtete die Streitfalle.
Eine Frage bleibt noch zu beantworten. Wie lange dauerte eine Landaufnahme?
Leider besitzen wir sehr wenig Material zu diesem Problem. Hier einige Daten, die
wir den Registern entnommen haben. Ein Register der Provinz PaSalivasi wurde in
der zweiten Dekade des Monats Gemäzi'l-uhrä des Jahres 932 beendet und dem
Sultan erst ein Jahr später, und zwar in der dritten Dekade des Zi'l-Qa^de 933 un-
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terb reitet. Ein weiteres Register derselben Provinz wurde dem Sultan in der ersten
Dekade des Monats Ramazän 921 unterbreitet, aber erst am Ende des Monats
Sa'-bän 925, also fast vier Jahre später, im Archiv deponiert. Diese Daten zeigen,
daß sich eine Landaufnahme über mehrere Jahre erstrecken konnte. Waren die Re¬
gister im Archiv hinterlegt, so durfte man keine Änderungen mehr vornehmen. Die
wenigen Ändemngen, denen man in den Registern begegnet, sind alle vom NiSangi
persöiüich in Anwesenheit mehrerer Wesire eingetragen worden.
Solange die Landaufnahme nicht abgeschlossen war, war es untersagt, jemandem eine Bestätigung auszustellen. Das bedeutet unter anderem, daß man in dieser Zeit¬
spanne keine Ernennung vornehmen durfte. Wir fragen uns, ob diese Vorschrift
eingehalten werden konnte, denn sie behinderte beträchtlich den Ablauf der Staats¬
geschäfte und insbesondere die Verleihung von Lehen.
All diese Ausführungen über den Ablauf einer Landaufnahme beweisen, daß die
Pforte über die Steuereinkommen und über die Zusammenstellung der verschiede¬
nen Bevölkemngsschichten bestens informiert war. Sie stützte sich auf die Register der früheren Landaufnahmen, auf die von der Pforte oder von den Provinzbehörden
ausgestellten Urkunden und auf die Zeugenaussage der Einwohner. Ohne Zweifel
wurde auch im osmanischen Reich der Fiskus hintergangen, aber die ständige Ge¬
genüberstellung der verschiedenen Bevölkerungsschichten erschwerte dies beträcht¬
lich. Im übrigen stellte die Pforte eine Belohnung in Aussicht für all die, die unver¬
steuerte Einkünfte ans Licht brachten.
Die Urkunde über die Landaufnahme beweist, daß die Besteuerimg im osmani¬
schen Reich auf verhältnismäßig zuverlässigen Unterlagen fußte, und daß die Ver¬
waltung bemüht war, Gerechtigkeit unter den Untertanen walten zu lassen.
DES VI.-VIII. JAHRHUNDERTS*
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j von E. Esin, Istanbul
I Frühere Forscher hatten schon bemerkt, daß Begriffe, verwandt mit Legenden
I des taoistischen himmlischen Berges, der zugleich, wie im Falle des T'ai-shan, als
I Totenland gesehen wurde, auch bei den innerasiatischen Nomaden verbreitet waren.
« Man hatte in dieser Hinsicht die Ikonographie der im Qarghaliq gefundenen Krone
I und die Sage des Roten Totenberges der „Wu-huan" erwähnt. Die „Wu-huan" hat
f Clauson als Türkische Oghuzen identifiziert.
i Neue Auslegungen der kök-türkischen Inschriften und die Entzifferung einer
1 Khutuq-ula-Inschrift erlauben jetzt anzunehmen, daß einige türkische Stämme
i auch solche Begriffe hatten, die mit den Namen ,Ahun-qir" (Goldenes Land oder
I Berg) und „Altun suüa yi?" ausgedrückt wurden.
I In diesem Referat wird versucht, die Ikonographie der Kunstwerke, die in türki-
i schen Gräbern der VI.—VIII. Jahrhunderte gefunden wurden, auf Grund dieser
I Meinungen zu interpretieren.
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• Der vollständige Text erscheint entweder im Journal of Türkisch Studies (Harvard) oder im Intemational Journy of Turkish Studies (Wisconsin).
xx. Deutscher Orientalistentag 1977 in Erlangen
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