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Rechtsextremismus und BeziehungserfahrungenChristel Hopf

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© F. Enke Verlag Stuttgart Zeitschrift für Soziologie, Jg. 22, Heft 6, Dezember 1993, S. 449-463 449

Rechtsextremismus und Beziehungserfahrungen

Christel Hopf

Institut für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim, Marienburger Platz 22, D-31141 Hildesheim Z u sa m m e n fa ssu n g : In dem Artikel werden Methoden und ausgewählte Ergebnisse einer qualitativen Studie zu den Bedingungen rechtsextremer Orientierungen vorgestellt und diskutiert. In dieser Studie wurden 25 männliche Jugendliche in jeweils drei Interviews zu ihren aktuellen Situationen, ihren Kindheitserinnerungen und ihren politi­

schen Orientierungen befragt. Im Mittelpunkt des Artikels steht die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Mu­

stern der Repräsentation von Bindungserfahrungen. Es wird gefragt, ob diese in einem Zusammenhang mit rechts­

extremen Orientierungen stehen. Auf der Grundlage von Einzelfallanalysen können Zusammenhänge in der Art des Umgang mit Aggressionen und Haßgefühlen gegenüber den eigenen Eltern und der Herausbildung rechtsextre­

mer Orientierungen aufgezeigt werden.

In dieser Arbeit sollen ausgewählte Ergebnisse ei­

ner Studie zu den Bedingungen rechtsextremer Orientierungen vorgestellt und diskutiert werden.

Im Zentrum der Studie1 stehen qualitative Inter­

views mit Jugendlichen, die als rechtsextrem ori­

entiert zu bezeichnen sind, und solchen, die dies nicht sind. In der Auseinandersetzung mit diesen Interviews soll versucht werden, Hypothesen zum innerfamilialen Hintergrund rechtsextremer Ori­

entierungen auf der Grundlage von Einzelfallana­

lysen zu überprüfen und weiterzuentwickeln. Mit der Konzentration auf biographische Fragestellun­

gen und innerfamiliale Macht- und Beziehungs­

konstellationen werden dabei bewußt theoretische und empirische Traditionen auf ge griffen, die in den Untersuchungen zur „Authoritarian Persona­

lity“ (Adorno et al. 1969/1950) entwickelt wurden und in denen innerfamilialen Konflikterfahrungen und deren subjektiver Verarbeitung bei der Inter­

pretation rechtsextremer bzw. faschistischer Potentiale besondere Bedeutung zugewiesen wird.

Im 1. Abschnitt dieser Arbeit, in dem zugleich auch begriffliche Fragen geklärt und alternative Deutungen rechtsextremer Handlungspotentiale vorgestellt werden sollen, wird dies erläutert. Es werden dabei auch die theoretischen Annahmen dargestellt, die Resultat der kritischen Auseinan­

dersetzung mit den Untersuchungen zur autoritä­

1 Die Untersuchung, über die hier berichtet wird, wird am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim durchgeführt und aus Mitteln der Deut­

schen Forschungsgemeinschaft gefördert. Projekt­

mitglieder sind: Peter Rieker, Martina Sanden-Mar- cus, Christiane Schmidt, Nicola Röhricht (wissen­

schaftliche Hilfskraft) und ich. Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen für die vielfältigen Anre­

gungen, Diskussionsbeiträge und Vorschläge im Zu­

sammenhang mit der Erarbeitung unserer Erhe- bungs- und Auswertungsarbeiten.

ren Persönlichkeit und der Einbeziehung von Tra­

ditionen der Attachment-Forschung (Bowlby, Ainsworth, Main et al.) sind. Der 2. Abschnitt ent­

hält Informationen zum Design, zu den Erhe- bungs- und Auswertungsverfahren unserer Studie.

In Abschnitt 3 werden ausgewählte Ergebnisse der Untersuchung vorgestellt und diskutiert, wobei die Auseinandersetzung mit der Repräsentation von Beziehungserfahrungen und deren Bedeutung für die Herausbildung rechtsextremer Orientie­

rungen im Vordergrund stehen soll.

1. Begrifflicher Rahmen und Hypothesen zur Herausbildung rechtsextremer Orientierungen

Wenn hier von Rechtsextremismus gesprochen wird, ist damit sowohl der organisierte als auch der nicht-organisierte Rechtsextremismus gemeint, der im „Vorfeld“ rechtsextremer Organisationen und Gewalttätigkeit angesiedelt ist. Allerdings steht nur die letztere Variante im Zentrum unserer Studie. Der dabei zugrunde gelegte Begriff des Rechtsextremismus steht dem Definitions Vor­

schlag Wilhelm Heitmeyers nahe, nach dem die Dominanz einer Ideologie der Ungleichheit und die Akzeptanz von Gewalt als Handlungsform be­

stimmende Elemente rechtsextremer Orientierung sind (vgl. Heitmeyer 1987:15 f ; vgl. zur Diskussion des Rechtsextremismusbegriffs und seiner rechtli­

chen Aspekte auch Stöss 1989: 17 ff). Anders als bei Heitmeyer wird jedoch die ethnozentrische Grundausrichtung der Ungleichheits-Ideologie von vornherein stärker betont, da das Ethnozen­

trismus-Konzept besser als das sehr allgemeine und etwas vage Konzept der Ungleichheits-Ideolo­

gie geeignet ist, die spezifische Mischung aus Ag­

gressivität und Überheblichkeit in rechtsextremen

(2)

450 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 22, Heft 6, Dezember 1993, S. 449-463 Orientierungsmustern zu kennzeichnen. Denn der

von Sumner in die soziologische Diskussion einge­

führte Ethnozentrismusbegriff bezieht sich auf ge­

nau diese Mischung: auf die Idealisierung und an­

geberische Übersteigerung der Eigengruppe (der eigenen Nation, Religion, kulturell-sprachlichen Gemeinschaft, „Rasse“ o. a.) auf der einen Seite und auf die Abwertung der anderen - der Fremd­

gruppen - auf der anderen Seite (Sumner 1940:

13ff). Ein klassisches Beispiel für Ethnozentris­

mus wäre, bezogen auf die heutige Situation in der Bundesrepublik, die aggressiv auftrumpfende Ver­

wendung des Satzes „Ich bin stolz darauf, ein Deutscher zu sein“ in Verbindung mit dem abwer­

tenden und von Verachtung geprägten Reden über Asylbewerber.

Die auffällige Zunahme rechtsextremer Gewalttä­

tigkeit und die Mordanschläge auf Ausländer ha­

ben dazu geführt, daß das öffentliche Interesse an Analysen rechtsextremer Orientierungen und Ge­

waltbereitschaft in den letzten Jahren zugenom­

men hat. In politischen und wissenschaftlichen Diskussionen spielen dabei sehr unterschiedliche und kontrovers diskutierte Deutungen eine Rolle.

Zu diesen gehören konservative Deutungen, nach denen es vor allem die große Zahl der Asylbewer­

ber sei, die zu den rechtsextremen Ausschreitun­

gen geführt habe (z.B. Fromme 1992), oder nach denen im Generationenkonflikt nun die Quittung für 1968 gezahlt werde. Dies meint Bodo Mors­

häuser (1993), der im Rechtsextremismus von Ju­

gendlichen eine Antwort auf den Antifaschismus ihrer Eltern sieht.

In Teilen des linken politischen Spektrums werden dagegen Interpretationen diskutiert, die Rechtsex­

tremismus als systematische Begleiterscheinung einer an Konkurrenz und Ellbogen-Mentalität ori­

entierten Gesellschaft ansehen - ein Phänomen

„der Mitte der Gesellschaft“ (DISS 1991) -, oder die in den rechtsextremen Jugendlichen ein Opfer von Modernisierungs- und Pluralisierungsprozes- sen sehen (z.B. Heitmeyer 1991).

Besonders weit verbreitet im alltäglichen politi­

schen Denken und politischen Kommentaren sind die auf Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit bezo­

genen Interpretationen (vgl. z.B. Sommer 1993).

So gibt es gegenwärtig manche Journalisten und Kommentatoren, die in der wirtschaftlichen Kri­

sensituation und in der Massenarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern die entscheidende Vor­

aussetzung für die pogromartigen Ausschreitungen gegen Ausländer in Hoyerswerda, in Rostock oder in anderen Städten der ehemaligen DDR sehen. In

dieser Richtung argumentiert auch Detlef Oester­

reich (1993), wenn er meint, daß die von ihm dia­

gnostizierte größere Ausländerfeindlichkeit bei Ostberliner Jugendlichen - im Vergleich zu West­

berliner Jugendlichen - „mit den Sorgen und Zu­

kunftsängsten ihrer aktuellen Lebenssituation zu erklären“ sei (Oesterreich 1993: 191).

Diese wirtschaftlich bezogenen Deutungen sind nicht unproblematisch. Sie berücksichtigen 1) zu wenig, daß viele Jugendliche und junge Männer, die in den letzten Jahren an fremdenfeindlichen Gewalttaten beteiligt waren, erwerbstätig waren oder in der Ausbildung standen ( vgl. Willems et al.

1993: 24ff); und sie differenzieren 2) zu wenig zwi­

schen unterschiedlichen Varianten des Umgangs mit Situationen wirtschaftlicher Not und Arbeits­

losigkeit.

Wir wissen spätestens seit den Untersuchungen Ja- hodas, Lazarsfelds und Zeiseis (1975/1933) in dem österreichischen Dorf Marienthal, daß Arbeitslo­

sigkeit und ökonomische und soziale Verunsiche­

rung auch zu Apathie und Verlangsamung des Le­

bensrhythmus führen können. Und wie Falter (1991: 292 ff) für die Endphase der Weimarer Re­

publik nachgewiesen hat, waren es gerade nicht die Arbeitlosen, die entscheidend für die national­

sozialistischen Wahlsiege waren. Falters metho­

disch sehr aufwendigen Wahlanalysen zeigen, daß sich die Arbeitslosen in der Weltwirtschaftskrise überdurchschnittlich häufig der KPD zuwandten, während die NSDAP in den Jahren 1932 und 1933 bei ihnen nur schwache Unterstützung fand (vgl.

Falter 1991: 310).

In einem aktuellen Beitrag über eine Göttinger Studie zu den Auswirkungen der Arbeitsmarktkri­

se berichtet Martin Kronauer, daß in der Gruppe der befragten Arbeitslosen Fremdenfeindlichkeit und Tendenzen zu radikalen Lösungen zwar stark vertreten waren, daß es jedoch unter den Arbeits­

losen eine beträchtliche Minderheit gab, die kei­

neswegs so reagierte (Kronauer 1992: 10). Arbeits­

losigkeit hat also trotz aller Belastung und trotz al­

ler mit ihr verbundenen Stress- und Enttäu­

schungserfahrungen nicht unbedingt Fremden­

feindlichkeit und die Tendenz zu radikalen Lösun­

gen (Einwanderungsstop, Ausweisung von Auslän­

dern) zur Folge.

Für die empirische Studie, über die ich in diesem Artikel berichte, ist dies als Ausgangspunkt des Fragens bedeutsam. Situative Faktoren, die aktu­

elle ökonomische Situation und Krisenerfahrun­

gen können als Auslöser für Aggressivität und rechtsextreme Orientierungen wichtig sein. Ob sie

(3)

Christel Hopf: Rechtsextremismus und Beziehungserfahrungen 451 es jedoch tatsächlich werden, hängt davon ab, wie

die betroffenen Menschen mit ihren Krisenerfah­

rungen umgehen.

Die Art und Weise, in der sie auf Krisensituationen politisch und in ihren elementaren Stimmungen und Einschätzungen reagieren, hängt dabei von ei­

ner komplexen Faktorenkonstellation ab. Beson­

ders wichtig sind:

1. Die je spezifische historische Konstellation im gesamtgesellschaftlichen Kontext: Welche politi­

schen Lösungen werden angeboten, sind im Prin­

zip akzeptabel? Beispielsweise war gegen Ende der Weimarer Republik die KPD für große Teile der Arbeiter und der Arbeitslosen akzeptabel und ist dies heute nicht mehr.

2. Der aktuelle politische und kulturelle Kontext, in dem die Heranwachsenden geprägt werden: die politischen Orientierungen und Diskussionen in Elternhaus und Schule, in Peer-Kontakten, in spe­

zifischen Jugendsubkulturen, Gewerkschaften u.a.

3. Der Charakter biographischer und sozialer Er­

fahrungen in der Familie und die hierauf aufbau­

enden Handlungstendenzen, Aggressionspoten­

tiale und Persönlichkeitsmerkmale.

Dieser letztere biographisch und sozialisations­

theoretisch bezogene Themenbereich ist Gegen­

stand unserer Studie. Dies bedeutet nicht, daß wir die anderen, hier skizzierten Bedingungen rechts­

extremer Orientierungen für unwichtig halten, sondern nur so viel, daß wir den innerfamilialen Bereich auch für wichtig halten, und der Auffas­

sung sind, daß dieser in der neueren Autoritaris- mus- und Rechtsextremismusforschung zu sehr vernachlässigt wird (vgl. als Beispiele Altemeyer 1988, Heitmeyer 1987 oder Oesterreich 1993).

Dabei ist ärgerlich, daß vielfach dieselben Auto­

ren, die den Bereich der innerfamilialen Bezie­

hungserfahrungen nur sehr oberflächlich oder überhaupt nicht in ihre Arbeiten einbeziehen, be­

haupten, es sei längst erwiesen, daß dieser die Herausbildung autoritärer oder rechtsextremer Orientierungen kaum beeinflusse (vgl. etwa Wak- ker 1979, Altemeyer 1988 oder Oesterreich 1993).

Daher soll hier ein Gegenakzent gesetzt und die mögliche Bedeutung innerfamilialer Beziehungs­

erfahrungen mit größerer Aufmerksamkeit unter­

sucht werden.

Dabei waren für uns im Verlauf unserer theoreti­

schen Vorarbeiten die Studien zur „autoritären Persönlichkeit“ (Adorno et al. 1969) von großer Bedeutung, und zwar insbesondere die in den qua­

litativen Untersuchungsteilen entwickelten Über­

legungen zum Verhältnis von innerfamilialen So­

zialerfahrungen und faschistischen Potentialen (vgl. zu diesen in der Bundesrepublik in der Regel nicht rezipierten Untersuchungsteilen Hopf 1987, 1990).

Dennoch gibt es bei aller Wertschätzung für die theoretischen und methodischen Leistungen der Autoren der „Authoritarian Personality“, ihren Einfallsreichtum und ihre methodische Vielseitig­

keit doch eine Reihe von Punkten, bei denen wir andere Akzente setzen.

Dies gilt zum einen für das Autoritarismus-Kon­

zept, das in den Untersuchungen zur autoritären Persönlichkeit zentral für die Analyse der Vermitt­

lung zwischen Familienstruktur, innerfamilialen Sozialerfahrungen und politischen Orientierungen ist. Eigene empirische Erfahrungen und Auseinan­

dersetzungen mit unterschiedlichen Mustern rechtsextremer Orientierungen machen es nach unserer Auffassung erforderlich, die klassische Va­

riante des Konzepts zu überdenken und neue bzw.

differenziertere Aufschlüsselungen des „autoritä­

ren Syndroms“ zu entwickeln. Zu dieser klassi­

schen Variante gehören im Kern: autoritäre Unter­

ordnung, autoritäre Aggression und Konventiona- lismus (vgl. hierzu auch Altemeyer 1988: 2 ff). Da­

gegen schlagen wir vor, neben dem klassischen Syndrom zwei weitere Konstellationen systema­

tisch zu berücksichtigen, nämlich:

1. Autoritarismus, bei dem autoritäre Dominanz und Aggression deutlich überwiegen (die klassi­

schen „Treter“), und

2. Autoritarismus, bei dem Ängstlichkeit und Un­

terordnungsbereitschaft dominieren (s.a. 2.).

Ein weiterer Punkt, in dem wir eine Revision des theoretischen Ansatzes der „autoritären Persön­

lichkeit“ für erforderlich halten, betrifft die These der Eltern-Idealisierung und die mit ihr verbunde­

ne Interpretationen von Aggressionsbereitschaft und Fremdenfeindlichkeit.

Die Idealisierungsthese, wie sie von Adorno, Fren- kel-Brunswik u.a. vertreten wurde, umfaßt vor al­

lem die folgenden Verallgemeinerungen und An­

nahmen (vgl. Adorno et al.: 340ff, 228, 230ff):

1. Im Unterschied zu den Nicht-Autoritären, die zu einer ausgewogeneren und differenzierteren Einschätzung ihrer Eltern neigen, ist für die Auto­

ritären die bewundernde, mit einer gewissen Ste­

reotypie und in Superlativen vorgebrachten Schil­

derung der Eltern kennzeichnend.

2. Diese Tendenz fügt sich plausibel in das gene­

relle Muster ein, nach dem die Autoritären dazu

(4)

452 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 22, Heft 6, Dezember 1993, S. 449-463 neigen, sich den Autoritäten der Eigengruppe kri­

tiklos zu unterwerfen.

3. Die im Verhältnis zu Eltern und anderen Autori­

täten unterdrückten Aggressionen werden ver­

schoben und auf die relativ straffrei zu attackieren­

de Minderheiten, denen man sich zudem mora­

lisch überlegen fühlt, gerichtet.

Wie ich an anderer Stelle ausführlicher erläutert habe (Hopf 1992), ist die Idealisierungsthese pro­

blematisch. Sie ist empirisch schwach belegt, und es ist zudem zu bedenken, daß die Eltern-Ideali- sierung als Strategie der Konflikt-„Verarbeitung“

nicht die einzig mögliche Strategie der Vermeidung offener Auseinandersetzung und der Unter­

drückung von Aggressionen ist.

Es gibt zum Beispiel die Möglichkeit, daß Aggres­

sion und Wut dadurch unterdrückt werden, daß belastende Erfahrungen - Zurückweisungserfah­

rungen, besonders harte Strafen u.a. - in ihrer Be­

deutung bagatellisiert werden, ohne daß dies mit einer Idealisierung der eigenen Eltern einher geht.

Die problematischen Beziehungserfahrungen wer­

den in der rekonstruierenden Erzählung zwar zu­

gelassen, gegebenenfalls auch negativ bewertet.

Die belastenden Erfahrungen werden jedoch durch die Unterstellung, sie seien für die eigene Entwicklung nicht wichtig gewesen und heute gänzlich uninteressant, zu einem als irrelevant er­

scheinenden, nicht integrierten Teil der eigenen Geschichte.

Die hier skizzierte Variante des Umgangs mit Kon­

flikterfahrungen hat eine enge inhaltliche Bezie­

hung zu solchen Varianten des Umgangs mit Be­

ziehungserfahrungen, die von Mary Main und Ruth Goldwyn im Kontext der Attachment-For­

schung als „dismissing“ bezeichnet werden (vgl.

hierzu u.a. Main 1991: 141 ff; Main/Goldwyn 1992; Fremmer-Bombik 1987: 44ff). Als „dismis­

sing“ werden solche Befragten bezeichnet, die in Interviews über ihre frühen sozialen Erfahrungen und ihre Bindungen an erwachsene Bezugsperso­

nen entweder vermeiden, über Schwierigkeiten zu sprechen (verbunden mit Tendenzen zur Idealisie­

rung und/oder Normalisierung der Beziehung zu den eigenen Eltern), oder aber, wenn Schwierig­

keiten zur Sprache kommen, dazu neigen, die Be­

deutung der Beziehung zu den Eltern für die eige­

ne Entwicklung zu leugnen oder zu bagatellisie­

ren.

Main und Goldwyn haben diese und andere Mu­

ster der subjektiven Repräsentation von Bin­

dungserfahrungen nicht im Zusammenhang mit der Interpretation politischer Orientierungen ent­

wickelt, sondern im Kontext der auf den Arbeiten John Bowlbys (vgl. u.a. Bowlby 1984, 1986) und Mary Ainsworths (vgl. u.a. Ainsworth et al. 1978) aufbauenden Attachment-Forschung. Ihr Anliegen war es, Varianten der Eltern-Kind-Beziehung und Muster der Bindung zwischen Kindern und er­

wachsenen Bezugspersonen zu analysieren und im Zusammenhang mit den jeweiligen Beziehungser­

fahrungen der Eltern und deren Darstellung und Kommentierung im Interview zu interpretieren (vgl. hierzu auch Main/Goldwyn 1984; Grossmann et al. 1989 oder Köhler 1992).

Auch wenn es im Kontext unserer Studie um ande­

re Fragestellungen geht, ist die von Main und Goldwyn entwickelte Typologie von Mustern der Repräsentation von Bindungserfahrungen für uns von großem Interesse, weil sie einen im Vergleich zur „Authoritarian Personality“ sehr viel differen­

zierteren theoretischen Zugang zu der wichtigen Frage nach dem Umgang mit Kritik und Aggressio­

nen im Verhältnis zu den eigenen Eltern ermög­

licht. Sie ist insofern auch relevant, wenn es um Fragen der Verschiebung von Aggressionen und der Interpretation von Aggressivität und Gewalttä­

tigkeit gegenüber Minderheiten geht.

Entwickelt wurde diese Typologie auf der Grund­

lage von Interviews mit Eltern,2 in denen diese zu ihrer Geschichte früher sozialer Erfahrungen, Bin­

dungen und Trennungserfahrungen befragt wur­

den („Adult Attachment Interview“ - George et al. 1985; s.a. Jacobsen 1993). Aus der Auseinan­

dersetzung mit der Art und Weise, in der einzelne über ihre Beziehungserfahrungen sprechen, in der sie Bindungen an die zentralen Bezugspersonen charakterisieren und in der sie aus der Perspektive des Erwachsenen Erfahrungen bündeln, kommen­

tieren und bewerten, ergeben sich nach den Analy­

sen Mains und Goldwyns drei wesentliche Typen oder Muster der Repräsentation3 von den Bin­

2 Überwiegend waren dies Interviews mit Müttern, aber es wurden auch mit Vätern Interviews durchge­

führt. Daß diese Interviews auch mit älteren Jugend­

lichen und jungen Erwachsenen erfolgreich durchge­

führt werden können, zeigen u.a. die Arbeiten Ko- baks und Sceerys (1988) oder Zimmermanns u.a.

(1993).

3 Der Repräsentationsbegriff umfaßt hier sowohl die kognitiven als auch die affektiven Aspekte des Um­

gangs mit den eigenen Bindungserfahrungen. Main et al. (1985) verbinden den Begriff der „Repräsenta­

tion“ in ihren Überlegungen zum Umgang mit Bin­

dungsbeziehungen mit dem von John Bowlby (1986) geprägten Begriff des „working model“, der sich auf das Bild bezieht, das sich das heranwachsende Kind

(5)

Christel Hopf: Rechtsextremismus und Beziehungserfahrungen 453 dungsbeziehungen, die selbst wiederum in sich

differenziert sind und die durch eine quer zu dieser Typologie liegende Kategorisierung des Umgangs mit Verlusterfahrungen und traumatischen Erfah­

rungen ergänzt werden.

Ich möchte auf diese Differenzierungen an dieser Stelle nicht eingehen, sondern hier nur sehr knapp die drei Hauptgruppen der Typologie vorstellen:

Die als leugnend-bagatellisierend („dismissing“) beschriebenen Befragten haben in der Art ihres Denkens und ihrer Erzählungen die Tendenz zum Detachierten gemeinsam; bindungsbezogene Er­

fahrungen und Gefühle bleiben „deaktiviert“ (vgl.

hierzu und zum folgenden Main 1991; Main/Gold- wyn 1992; Fremmer-Bombik 1987: 44ff). Dies wird auf unterschiedlichen Wegen erreicht: unter anderem durch die Verbindung von einer Idealisie­

rung oder Normalisierung der Beziehung zu den Eltern und rudimentärem Erinnerungsvermögen;

oder durch die Abwertung von Gefühlen und Bin­

dungen in den Fällen, in denen in den Interviews Probleme und Schwierigkeiten mit den Eltern zur Sprache kommen. Gefühle von Ärger und Wut bleiben weitgehend unartikuliert oder äußern sich in einigen Fällen in kühl abwertender Weise („de­

rogation“), in dem Sinne: es lohnt sich nicht, Ge­

danken und Gefühle an diese Leute zu verschwen­

den.

Für die als sicher-autonom („secure/autonomous“) klassifizierten Befragten sind eigene Bindungen und Gefühle ebenso wie ihre eigene Beziehungs­

geschichte wesentlich leichter zugänglich, und sie können frei und sachlich über diese reden. Sofern sie auf eine Geschichte unsicherer Beziehungser­

fahrungen zurückblicken, haben sie die Möglich­

keit, dies zu sehen, im Interview zu artikulieren - auch in Verbindung mit Ärger und Wut. Sie haben es nicht nötig, Bindungen und Gefühle prinzipiell abzuwerten oder in dauerhaften inneren oder tat­

sächlichen Auseinandersetzungen mit ihren Eltern zu stehen.

Das letztere ist in der Gruppe der mit Bindungs­

themen präokkupierten („preoccupied“, „entang­

led“) der Fall, für die die anhaltenden Verstrickun­

gen kennzeichnend sind. Es fällt dieser Gruppe schwer, die eigenen Beziehungsprobleme in nüch­

terner Haltung von außen zu sehen und sinnvoll

von seinen Bezugspersonen, ihrer Verfügbarkeit und ihrer Beziehung zu ihm macht. An anderer Stelle sprechen Main und Goldwyn bei der Charakterisie­

rung ihrer Typologie auch von einem „overall state of mind with respect to attachment“ (Main/Goldwyn 1992: 1; vgl. auch Main 1991: 141).

ins eigene Selbstverständnis zu integrieren; viel­

mehr dominieren passives Verharren oder auch das konflikthafte, anhaltende Verwickeltsein in die Beziehungen zu den zentralen Bezugspersonen.

Ärger und Wut werden in einer Reihe von Fällen sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, aber in ei­

ner verstrickten Art und Weise. Die Wut ist nicht bearbeiteter, ständig reproduzierter Teil der Bezie­

hung.

Im Rahmen unserer Untersuchung von Jugendli­

chen und jungen Erwachsenen fragen wir, ob und wie weit diese unterschiedlichen Muster der sub­

jektiven Repräsentation von Bindungserfahrun­

gen in der Art und Weise, in der die Jugendlichen über ihre Geschichte sprechen, wiederzufinden sind. Dabei versuchen wir vor allem, ihr Verhältnis zur Herausbildung rechtsextremer und autoritärer Dispositionen zu analysieren. Bei der Planung die­

ser Studie nahmen wir an, daß es eine besonders enge Beziehung zwischen der Tendenz zur Baga- tellisierung und zur leugnenden Abwehr von Pro­

blemen einerseits und der Herausbildung von rechtsextremen Dispositionen andererseits gibt.

2. Methodisches Vorgehen und Forschungs-Design

In einer 1992 im Raum Hildesheim-Hannover durchgeführten qualitativen Befragung von Ju­

gendlichen sollten die hier skizzierten Hypothesen auf der Basis von Einzelfall-Analysen überprüft und weiterentwickelt werden.4 * Um den Einfluß von sozialen Beziehungen in der Familie und de­

ren subjektiver Verarbeitung analysieren zu kön­

nen, wurde versucht, eine unter sozialen und kul­

turellen Gesichtspunkten möglichst homogene Gruppe von Jugendlichen zu erreichen. So war es angesichts des vorhandenen Wissensstandes zu den Bedingungen rechtsextremer Orientierungen (vgl. hierzu u. a. W. Hopf 1991; Schnabel 1993) be­

sonders wichtig, den Einfluß geschlechtsspezifi­

scher Sozialisationsprozesse und Bildungseinflüsse zu kontrollieren. Wir entschieden uns daher dafür, nur männliche Jugendliche (im Alter etwa zwi­

schen 18 und 22 Jahren) zu befragen, die keinen höheren Abschluß als den Realschulabschluß hat­

ten und die im industriellen oder handwerklichen 4 Vgl. hierzu, zu Einzelheiten des methodischen Vor­

gehens und auch zur Dokumentation unserer Erhe­

bungsinstrumente den von Christiane Schmidt und mir herausgegebenen Sammelband, der über das In­

stitut für Sozialwissenschaften der Universität Hil­

desheim bezogen werden kann.

(6)

454 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 22, Heft 6, Dezember 1993, S. 449-463 Bereich tätig waren. Wir erreichten die Jugendli­

chen über Kontakte zu Berufsschulklassen und So- zialpädagoginnen und -pädagogen. (Vgl. zu Ein­

zelheiten der Zusammensetzung der Stichprobe und zur Art des Zugangs zu den Jugendlichen Rie- ker 1993)

Bei der Auswahl der insgesamt 25 Jugendlichen wurde darauf geachtet, daß rechtsextreme und nicht-rechtsextreme Jugendliche etwa gleichge­

wichtig vertreten waren, was dadurch erleichtert wurde, daß wir durch unsere Kontakte zu den So- zialpädagoginnen und -pädagogen Zugang zu Ju­

gendlichen hatten, die sich selbst eindeutig im rechten politischen Spektrum einordneten.

Mit jedem Befragten wurden insgesamt drei teil­

standardisierte Interviews durchgeführt, die durchschnittlich jeweils zwei Stunden dauerten.5 Das erste Interview bezog sich auf die aktuelle Si­

tuation der Jugendlichen, ihre berufliche und Aus­

bildungssituation, die Wohnsituation, die aktuel­

len Beziehungen zu den Eltern, Geschwistern, Freunden und Freundinnen. Im zweiten Interview ging es um die Rekonstruktion der sozialen Bezie­

hungen in der Kindheit. Hier orientierten wir uns an einer von uns erweiterten Fassung des „Adult Attachment Interview“ (George et al. 1985), in der unter anderem allgemeine und spezifizierende Fragen zur erlebten Eltern-Kind-Beziehung ge­

stellt werden, Fragen zur Unterstützung in proble­

matischen Situationen, zuTrennungs- und Verlust­

erfahrungen, zur Disziplinierung und zur zusam­

menfassenden Beurteilung der Relevanz der Kind­

heitserfahrungen. Im dritten Interview wurde ver­

sucht, qualitative Informationen zu ausgewählten Aspekten autoritärer und rechtsextremer Orien­

tierungen zu erheben. Dabei wurden unter ande­

rem Fragen zu moralischen Dilemmata gestellt, zu Autoritäts- und Machtbeziehungen in der Peer- Gruppe, in Schule und Betrieb, zum Verhältnis zu Asylbewerbern und Ausländern und zum Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Er­

gänzend wurden auch standardisierte Erhebungs­

instrumente zu diesem Fragenkomplex eingesetzt (Autoritarismus- und Rechtsextremismus-Skalen

5 Den Befragten wurde für diesen im Vergleich zu an­

deren sozialwissenschaftlichen Befragungen sehr ho­

hen Zeitaufwand eine Aufwandsentschädigung ange- boten. Dies war auch erforderlich, um eine ausgegli­

chene Zusammensetzung der Stichprobe abzusi­

chern. Denn es war zu vermuten, daß die rechtsex­

tremen Jugendlichen ohne einen finanziellen Anreiz häufiger als die anderen eine Beteiligung an der Be­

fragung verweigern würden (vgl. hierzu auch Adorno et al. 1969: 26).

nach Oesterreich 1993), die den Befragten im An­

schluß an das zuerst geführte Interview vorgelegt wurden.

Die Interviews wurden mit einem Kassetten-Gerät auf genommen und später transkribiert. Bei der Auswertung orientierten wir uns a) an einem von uns auf der Grundlage theoretischer Vorüberle­

gungen und erster Auseinandersetzungen mit dem Interview-Material entwickelten Code-Manual; b) an ausgewählten Teilen des von Main und Gold- wyn (1992) erarbeiteten Code-Manuals zur Aus­

wertung von Adult-Attachment-Interviews;6 * c) an Einzelfall-Analysen, in der die uns interessieren­

den Problemstellungen differenzierter und vertie­

fend an der Auseinandersetzung mit einzelnen Biographien bearbeitet wurden. Es sei zur Infor­

mation hinzugefügt, daß bei der Kodierung des In­

terview-Materials jedes Interview von jeweils zwei auswertenden Projektmitgliedern unabhängig voneinander bearbeitet wurde. Voneinander ab­

weichende Interpretationen wurden auf der Grundlage erneuter Text-Analysen in der Zweier­

gruppe, in einer Reihe von Fällen jedoch auch in der gesamten Projektgruppe diskutiert, mit dem Versuch, zu einvernehmlichen Lösungen von In­

terpretations-Konflikten zu kommen.

2.1 Zur Erhebung und Analyse rechtsextremer Orientierungen

Die Frage, ob die Befragten als rechtsextrem oder nicht rechtsextrem einzuordnen sind, wurde vor allem auf der Grundlage der im 3. Interview erho­

benen qualitativen Daten beantwortet. Als rele­

vante Informationen hierzu wurden herangezo­

gen:

a) Aussagen der Befragten, aus denen eine ethno- zentrische Orientierung zu erschließen war - ab­

wertende Aussagen über Asylbewerber und Aus­

länder einerseits und die besondere Wertschätzung

6 Der Anwendung dieses Code-Manuals gingen um­

fangreiche Trainings-Seminare in der Projektgruppe voraus. Dem Training und der Durchführung von Reliabilitäts-Kontrollen dienten unter anderem Tref­

fen mit Teresa Jacobsen (Chicago) und U te Ziegen­

hain (Berlin). Darüber hinaus bestand die Möglich­

keit, an einem von Mary Main und Eric Hesse gelei­

teten Seminar zur Auswertung von Adult-Attach- ment-Interviews teilzunehmen. All denjenigen, die uns bei der Planung und Durchführung unserer Aus­

wertungsarbeiten unterstützt haben, sei an dieser Stelle gedankt. Unsere Fehler bleiben natürlich trotzdem unsere eigenen.

(7)

Christel Hopf: Rechtsextremismus und Beziehungserfahrungen 455 der eigenen Nation oder die starke Betonung deut­

scher ökonomischer und politischer Interessen an­

dererseits;

b) Äußerungen zum Verhältnis zu gewalttätigen Übergriffen auf Asylbewerber und Ausländer; c) Informationen zum Geschichtsbild der Befragten - insbesondere Äußerungen zur Bewertung der nationalsozialistischen Vergangenheit.

Die Befragten wurden auf der Grundlage dieser Informationen auf einer 4-Punkte-Skala eingeord­

net, die von rechtsextremer bis zu nicht-rechtsex- tremer Orientierung reicht.7

Zur Erläuterung unserer Zuordnungen sei der Fall eines Befragten skizziert, der von uns ohne jegli­

chen Dissens als rechtsextrem orientiert bezeich­

net wurde.

Der Befragte - „Thomas“ (vgl. zu diesem Fall auch spä­

tere Ausführungen) - äußert sich im Interview sehr aus­

führlich, unter anderem auch mit rassistischen Argu­

menten, über Ausländer und Asylbewerber, die er be­

sonders verabscheut. Dem Nationalsozialismus kann er auch positive Seiten abgewinnen. Hitler sei intelligent gewesen. Es sei „nie wieder das Phänomen entstanden, daß einer die Massen mit Reden so begeistern konnte.“

„Und danach is er wahnsinnig geworden (I.: mhm), sprich Kriege, sprich Judenvergasung (I.: mhm), und das fand ich auch nicht gut. (I.: mhm) Und das davor war in Ordnung.“

Seine Äußerungen enthalten viele Vorurteile, sexuelle Fantasien, Gewaltandrohungen und Gewaltfantasien.

Ich zitiere im folgenden eine Passage, die n ic h t zu den drastischsten Äußerungen von Fremdenfeindlichkeit in diesem Interview gehört, die jedoch in ihrer Mischung aus Feindseligkeit, Gewaltbereitschaft und Mitleidlosig­

keit nicht untypisch für die von uns befragten rechtsex­

trem orientierten Jugendlichen ist. Er wird unter ande­

rem gefragt, was er machen würde, wenn er Politiker wäre und im Zusammenhang mit dem Asylthema etwas zu sagen hätte. Thomas: „Wenn ich was zu sagen hätte?

(I.: mhm) Würde ich das ganze Asylverfahren würd ich beschleunigen (I.: mhm) auf maximal zwei Wochen (I.:

mhm) und alle, die äh Wirtschaftsflüchtlinge sind (I.:

mhm), müßten auf ihre eigenen Kosten zusehn, daß se hier rauskomm könn, und zwar auf’m schnellstmögli­

chen Wege. (I.: mhm) Ob das jetz mit Schwimmn is oder Laufen, das is mir scheißegal. (I.: mhm) Und jeder an­

dere Ausländer, der straffällig wird, beim ersten Mal Be- 7 Vergleicht man unsere Kategorisierungen mit denen,

die die vermittelnden Sozialpädagogen und -pädago- ginnen und die rechts orientierten Jugendlichen ver­

wandten, die uns im Schneeballverfahren an andere Jugendliche weiter vermittelten, so ergibt sich eine recht gute Übereinstimmung. Von den 10 als eher rechts oder rechtsextrem avisierten Jugendlichen wa­

ren nach unserem Zuordnungsverfahren: vier rechts­

extrem, vier eher rechtsextrem, einer eher nicht rechtsextrem und einer nicht rechtsextrem.

Währung (I.: mhm), beim zweiten Mal nicht wieder Be­

währung . . . (Es wird an dieser Stelle die gegenwärtige Praxis der Strafverfolgung kritisiert. D. Verf.) . . . dem würde ich ne Bahnfahrkarte geben, den würd ich, per­

sönlich würde ich den beaufsichtigen, bis der die deut­

sche Grenze passiert hat. (I.: mhm) Egal wohin. Und wenn’er in ne Nordsee springt, das is mir ganz egal.“

2.2 Zur empirischen Umsetzung des Autoritarismus-Konzepts

Die Tendenz zu autoritären Orientierungen wurde anders als in der Autoritarismusforschung üblich ebenfalls primär auf der Grundlage der qualitati­

ven Daten eingeschätzt. Relevant waren insbeson­

dere die Informationen zur Orientierung gegen­

über Stärkeren (Vorgesetzten, Eltern u. a.) und Schwächeren (z.B. Außenseitern oder weniger mächtigen Mitgliedern in der eigenen Peer-Grup­

pe u. a.) und die Informationen zu den jeweiligen Ausprägungen moralischer Autonomie, die auf der Basis von Stellungnahmen zu ausgewählten mora­

lischen Dilemmata ermittelt wurden.8

Bei der empirischen Umsetzung des Autoritaris­

mus-Konzepts (s.a. 1.)

a) im Vergleich zu anderen Operationalisierungen der Gesichtspunkt der moralischen Heteronomie bzw. Autonomie stärker berücksichtigt und als ent­

scheidendes Kriterium konventioneller Orientie­

rungen angesehen (vgl. zur Akzentuierung dieses Gesichtspunkts in der „Authoritarian Personality“

auch Adorno et al. 1969: 230). Und es wurden b) unterschiedliche Varianten autoritärer Orientie­

rung voneinander unterschieden.

D.h. wir gaben die Orientierung an einem einheit­

lichen Syndrom des „klassischen Autoritären“ auf, der - etwa nach dem Vorbild des Diederich Heß­

ling in Heinrich Manns Roman „Der Untertan“ - als Mischung aus Submissivität, Dominanz, Ag­

gressivität und Konventionalismus zu beschreiben ist. Zwar entsprachen einige der Befragten dem Bild des klassischen Autoritären recht gut, andere repräsentierten jedoch nur ausgewählte Aspekte des autoritären Syndroms. So gibt es einige, bei denen eher nur autoritäre Dominanz (verbunden mit moralischer Heteronomie) deutlich wird, bis­

8 Wir orientierten uns dabei zum Teil an Geschichten- Vorgaben, die von Rainer Döbert und Gertrud Nun- ner-Winkler (vgl. etwa Döbert/Nunner-Winkler 1983) entwickelt wurden. Wir ergänzten diese und entwickelten - auch dank der Unterstützung G. Nun- ner-Winklers - andere und weitergehende Nachfra­

ge- und Auswertungsstrategien.

(8)

456 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 22, Heft 6, Dezember 1993, S. 449-463 weilen auch mit fast rebellischen, Selbständigkeit

und eigenen Willen sehr stark betonenden Tenden­

zen. Andere wiederum repräsentieren eher nur die Komponente der Unterordnung, wobei bemer­

kenswert ist, daß diese im Rahmen unserer Stich­

probe überwiegend eher autonome moralische Orientierungen zum Ausdruck bringen. Dies sollte angesichts des selektiven und nicht-repräsentati­

ven Charakters unserer Stichprobe nicht überin­

terpretiert werden. Was jedoch meiner Ansicht nach ernst zu nehmen ist, daß unsere Einzelfall- Analysen dafür sprechen, das traditionelle Autori- tarismus-Konzept und traditionelle Varianten der Messung zu überdenken und Konzeptualisie- rungen anzustreben, bei denen man von vornher­

ein von unterschiedlichen Varianten autoritärer Orientierung ausgeht.

2.3 Die Analyse der Repräsentation von Bindungserfahrungen

Bei der Analyse von Mustern der Repräsentation von Bindungserfahrungen orientierten wir uns an Auswertungsvorschlägen Mary Mains und Ruth Goldwyns (vgl. Main 1991; Main/Goldwyn 1992), die hier nur sehr knapp skizziert - ohne eine de­

taillierte Darstellung der einzelnen Untergruppen der Grobklassifikation - werden können. Relevant für die Zuordnung zu den drei zentralen Mustern (leugnend-bagatellisierend/,, dismissing“; sicher­

autonom; präokkupiert/verstrickt) ist unter ande­

rem:

a) die Kohärenz der Darstellung von Bindungser- fahrungen im Interview: In welchem Maße liegen logische und inhaltliche Widersprüche vor? Passen die geschilderten Kindheitserinnerungen zu dem, was die Befragten auf der Ebene allgemeiner Be­

schreibungen und Bewertungen über ihre Bezie­

hung zu ihren Eltern sagen? Werden in der zusam­

menfassenden Darstellung und der Bewertung der eigenen Geschichte auch problematische und ne­

gative Aspekte der eigenen Erfahrungen zur Kenntnis genommen und integriert? (Vgl. als Bei­

spiel einer kohärenten Darstellung, in der allge­

meine Beschreibung und Bewertung und episodi­

sche Schilderung zusammenpassen, den Interview­

ausschnitt 1 im Anhang)

b) die Beurteilung der Relevanz von Bindungser­

fahrungen durch die Interviewten: Ob und in wel­

chem Umfang werden Bindungbeziehungen und -erfahrungen im Interview für wichtig gehalten

und als wichtiger Bestandteil des eigenen Den­

kens, Gefühlslebens und Handelns akzeptiert?

Werden diese eventuell abgewertet, mit der Ten­

denz, die eigene Unangreifbarkeit und Unabhän­

gigkeit so stark zu betonen, daß Kränkungen und Enttäuschungen nicht mehr treffen können? Ein Beispiel für den bagatellisierenden Umgang mit Kränkungen und Verletzungen:

Thomas ist als Kind von seinen Eltern häufig und hart bestraft worden. Die Interviewerin fragt nach einigen Fragen zur Häufigkeit der Schläge: „Und wie hast Du Dich dabei gefühlt?“

Thomas: „Da hat man nen Arschvoll gekriegt und dann war gut. (I.: mhm) Wie sollte ich mich dabei fühln.“

Int.: „Naja man kann traurig sein, wütend sein (Tho­

mas: ja ja), beleidigt sein“ (sprechen durcheinander) Thomas: „Ja, ein bißchen Wut is da natürlich immer da­

bei, wenn man geprügelt wird. (I.: ja?) Das, ich meine, das is . . . natürlich, daß man dann sauer is.“ (I.: mhm) Int.: „Man könnte auch Angst haben.“

Thomas.,, Angst hatt’ ich eigentlich nicht davor. (I.:

mhm) Ja, geht alles vorüber, geht alles vorbei. (I.:

mhm) Is immer so schön, wenn der Schmerz nachläßt.“

Nur kurze Zeit später im Interview meint Thomas, daß für seine Entwicklung Erfahrungen mit den Eltern nicht bedeutsam waren und daß sie auch nicht bemerkens­

wert waren. „Ich hab nichts verpaßt, und hab von nix zu viel gekriegt.“

(s. zum gleichen Fall auch Interviewausschnitt 2 im Anhang).

c) die Sachlichkeit in der Darstellung von Bin­

dungserfahrungen: Ob und in welchem Maße ist der Befragte in der Lage, die Beziehung zu den ei­

genen Eltern (auch aktuellere Beziehungserfah­

rungen) in sachlicher und autonomer Weise darzu­

stellen und zu beurteilen, oder wieweit gehen aus der Darstellung anhaltende Verstrickungen her­

vor, wobei sich diese unter anderem als eher passi­

ve, undistanziert-kritiklose Haltung äußern kön­

nen oder auch als nicht enden wollender Ärger und anhaltende Wut? (Vgl. als Beispiel Interview­

ausschnitt 3 im Anhang)

Diese und andere Informationen wurden bei der Auswertung und Interpretation der Interviews mit den Jugendlichen herangezogen, um die sehr schwierigen und auf der Basis einer sehr breiten Material-Kenntnis erfolgenden Entscheidungen über das jeweils vorherrschende Muster der Dar­

stellung von Bindungserfahrungen fällen zu kön­

nen.

Unter methodischen Gesichtspunkten mag sich die Frage stellen, ob die befragten jungen Männer in der Darstellung und Bewertung ihrer Bezie-

(9)

Christel Hopf: Rechtsextremismus und Beziehungserfahrungen 457 hungs- und Bindungserfahrungen den überwie­

gend weiblichen Interviewenden gegenüber auf­

richtig waren und ob unsere Interpretationen inso­

fern tragfähig sind. Diese Frage drängt sich vor al­

lem auf, wenn man das Muster des bagatellisieren­

den, Probleme wegschiebenden Umgangs mit der eigenen Geschichte näher ins Auge faßt. Gehört es nicht geradezu zum typischen Verhaltensrepertoire des an Macho-Idealen orientierten rechtsextremen Jugendlichen, die Relevanz von Bindungen herun­

terzuspielen und Unverwundbarkeit und Stärke zu betonen? Es besteht also die Möglichkeit, daß die rechts orientierten Männer, um einen in ihrem Sin­

ne „guten Eindruck“ zu machen, uns gegenüber den durch nichts zu erschütternden Helden hervor­

gekehrt haben. Wir hätten demnach nur den von ihnen gewünschten Eindruck gefaßt, nicht ihre tat­

sächlichen Urteile und Empfindungen.

In diesem Zusammenhang sind verschiedene Ar­

gumente wichtig. Zum einen entsprechen, wie im nächsten Abschnitt zu berichten sein wird, nicht al­

le rechtsextrem orientierten Jugendlichen dem Muster des „dismising“. Sie sind zum Teil auch ver­

strickt, sei es aggressiv, sei es passiv, und insofern nicht einfach „coole Abwiegler“. Zweitens ist zu bedenken, daß es für Befragte in qualitativen In­

terviews in der Regel schwer ist, über eine lange Interviewzeit hinweg - in unserem Fall: drei ca.

zweistündige Interviews - unauthentisch zu sein.

Die Konzentration auf das Gespräch, die Fragen, die eigene Erzählung sind vielfach so intensiv, daß

oberflächliche Anpassungs- und Erwünschtheits- reaktionen an Bedeutung verlieren.

D.h. wenn Jugendliche, wie beispielsweise der oben zitierte Thomas, im Interview dazu neigen, die im Erziehungsprozeß erlebten Härten und Kränkungen in ihrer Bedeutung herunterzuspie­

len, dann sind dies während des Interviews au­

thentische Reaktionen. Daß damit zugleich sub­

kulturell geprägte, „männliche“ Reaktionsmuster reproduziert werden, ist natürlich nicht auszu­

schließen. Aber umgekehrt wäre zu argumentie­

ren: Es ist nicht zufällig, daß gerade diese Muster für Männer wie Thomas attraktiv sind und daß ge­

rade diese Subkultur gewählt wird. Sie paßt zu den vorhandenen psychischen Strukturen.

3. Ausgewählte Ergebnisse und Diskussion Von den befragten Jugendlichen sind nach dem skizzierten Vorgehen bei der Analyse sechs als rechtsextrem, acht als eher rechtsextrem, vier als eher nicht rechtsextrem und sechs als nicht rechts­

extrem orientiert einzuordnen.9 Wie die Über- 9 Einer der Befragten wurde auf unserer Rechtsextre­

mismus-Skala nicht eingeordnet, weil bei ihm anti­

rechtsextreme Äußerungen mit starker Gewaltbe­

reitschaft verbunden waren. Je nach Fragestellung kann er der Kategorie der nicht rechtsextrem Orien­

tierten zugeordnet werden oder aber einer neu zu bildenden Kategorie, die eher linksextrem orientier-

Tabelle 1 Autoritäre Dispositionen und rechtsextreme Orientierungen.

Rechts­

extrem

Eher rechts­

extrem

Eher nicht rechts­

extrem

Nicht rechts­

extrem

Nicht einge­

ordnet

Summe

Autoritär im klassischen Sinn (Aut. Unterordnung, aut. Do­

minanz bzw. Aggression, ge­

ringe bis mittlere moralische Autonomie)

3 3 6

Autoritär, bei Überwiegen aut.

Dominanz

3 2 - - - 5

Zwischenvarianten (u.a.: aut.

Unterordnung, verbunden mit moralischer Autonomie)

1 1 3 1 6

Nicht autoritär (weder aut. Un­

terordnung noch aut. Domi­

nanz, moralische Autonomie) "

1 1 1 3

Unklar, nicht eingeordnet - 1 2 2 - 5

Summe 6 8 4 6 1 25

(10)

458 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 22, Heft 6, Dezember 1993, S. 449-463 Tabelle 2 Muster der Repräsentation von Bindungserfahrungen und rechtsextreme Orientierungen.

Rechts­

extrem

Eher rechts­

extrem

Eher nicht rechts­

extrem

Nicht rechts­

extrem

Nicht einge­

ordnet

Summe

„Dismissing“-Wegschieben, Entwerten oder Ausblenden von Bindungsbeziehungen und -erfahrungen/leugend- bagatellisierend

2 6 2 t 1 12

Sicher-autonom; freier und sachlicher Zugang zu Bin­

dungserfahrungen: Bindungs­

beziehungen werden ge­

schätzt und bindungsbezoge­

ne Erfahrungen als einfluß­

reich angesehen. Einzelne, konkretere Erfahrungen wer­

den in relativ unabhängiger und sachlicher Weise beurteilt

2 3 5

Präokkupiert/verstrickt („ent- angled“)-unsächlich und kon­

fus, verstrickt in frühere oder auch noch bestehende Bin­

dungsbeziehungen (u.a. pas­

siv oder wütend/konflikthaft)

3 1 4

Unklar, nicht eingeordnet 1 1 - 2 - 4

Summe 6 8 4 6 1 25

sicht in Tabelle 1 zeigt, können die als rechtsex­

trem eingestuften Jugendlichen zugleich auch als besonders autoritär gelten. Sie sind entweder au­

toritär im traditionellen, im Rahmen der „Autho­

ritarian Personality“ beschriebenen Sinn oder au­

toritär im Sinne autoritärer Dominanz und Aggres­

sion (s. 2.).

Tabelle 2 enthält einen Überblick über die Zusam­

menhänge zwischen Mustern der Repräsentation von Bindungserfahrungen und der Ausprägung rechtsextremer Orientierungen.

An dieser Übersicht ist zunächst wichtig und auf­

fällig, daß sie auf einen sehr engen Zusammen­

hang zwischen Mustern der Repräsentation von Bindungserfahrungen und politischen Orientie-

te Gewaltbereitschaft avisiert. Zu vermerken ist, daß es einen engen Zusammenhang zwischen unserer, auf der Basis qualitativer Daten erfolgten Einord­

nung der Befragten und ihrer Einordnung auf der Grundlage der Oesterreich’sehen Rechtsextremis­

mus-Skala gibt (vgl. Oesterreich 1993), die wir mit leichten Veränderungen übernommen haben. Für die Beziehung zwischen den unterschiedlichen Auto- ritarismus-Maßen gilt dies nicht, wie wir in einem späteren Artikel ausführlicher erläutern möchten.

rungen hinweist. Bei den Jugendlichen, die im Rahmen des Interviews in einer eher leugnend-ba- gatellisierenden („dismissing“) Art und Weise über ihre Beziehungserfahrungen sprechen, gibt es eine deutliche Tendenz zu rechtsextremen Orientierun­

gen. Für die Gruppe der als sicher-autonom einge­

stuften Jugendlichen gilt dies nicht. Von ihnen ge­

hört keiner zur Gruppe der rechtsextrem orientier­

ten oder tendenziell rechtsextrem orientierten Ju­

gendlichen. Dagegen sind in der Gruppe der Ver­

strickten, der mit Bindungsthemen Präokkupier- ten, rechtsextreme Orientierungen stark ausge­

prägt.

Als Hintergrundinformation für eine angemessene Interpretation der hier dargestellten Zusammen­

hänge ist es wichtig zu vermerken, daß die Befrag­

ten in ihren Herkunftsfamilien, und zwar überwie­

gend in vollständigen Familien, aufgewachsen sind. Es wäre demnach nicht angemessen, den ver­

gleichsweise hohen Anteil derer, die als „dismis­

sing“ oder auch als verstrickt eingeordnet werden, auf besonders auffällig zerrüttete Familienverhält­

nisse zurückzuführen. Was man allerdings sagen kann, ist, daß diejenigen, die in einer leugnend-ba- gatellisierenden Art und Weise über die eigenen

(11)

Christel Hopf: Rechtsextremismus und Beziehungserfahrungen 459 Bindungserfahrungen reden, im Vergleich zu den

Sicher-Autonomen oder Verstrickten in den Inter­

views deutlich häufiger über Zurückweisungser­

fahrungen berichten, die sowohl von den Müttern als auch von den Vätern ausgingen.

Insgesamt sprechen unsere Ergebnisse gegen Deu­

tungen, nach denen der Bereich innerfamilialer Beziehungserfahrungen für die Herausbildung rechtsextremer Orientierungen irrelevant ist. Da­

bei ist nach unseren Ergebnissen die Art des Um­

gangs mit innerfamilialen Beziehungserfahrungen, die Art und Weise, in der Bindungserfahrungen im eigenen Denken und Empfinden präsent sind, ganz besonders wichtig.

Gemessen an unseren Ausgangshypothesen ent­

sprechen dabei die Zusammenhänge zwischen dem Bagatellisieren und Leugnen problematischer Erfahrungen einerseits und den politischen Orien­

tierungen andererseits unseren Erwartungen. Ge­

gen unsere Erwartungen, nach denen das Muster des „Dismissing“ und die mit diesem Muster ver­

bundene Unterdrückung von Aggressionen gegen­

über den eigenen Eltern für die Interpretation rechtsextremer Tendenzen besonders wichtig ist, spricht jedoch, daß unter den ausgeprägt rechtsex­

trem orientierten Jugendlichen die Gruppe der in Bindungsbeziehungen Verstrickten so stark vertre­

ten ist.

Von den drei zugleich als deutlich rechtsextrem und als präokkupiert/verstrickt eingestuften Ju­

gendlichen ist einer als passiv involviert anzuse­

hen. Bei ihm ist die Verstrickung mit einer starken Eltern-Idealisierung verbunden, und man könnte insofern in diesem Fall eventuell eine Deutung aufrechterhalten, nach der sich in den Aggressio­

nen gegenüber Schwächeren und abgelehnten Minderheiten unterdrückte Aggressionen im Ver­

hältnis zu den eigenen Eltern ausdrücken. Bei den anderen beiden deutlich rechtsextremem Jugendli­

chen, die als verstrickt gelten können, ist dies je­

doch nicht der Fall. Sie haben beide eine durch Wut und Ärger gekennzeichnete Beziehung zu je­

weils einem Eltern teil - in beiden Fällen: dem Va­

ter - und können insofern kaum als Menschen be­

zeichnet werden, die ihre Wut gegenüber den eige­

nen Eltern in auffälliger Weise unterdrücken. Eher umgekehrt: Sie äußern sie in auffälliger Weise.

Zur Information sei angefügt, daß alle drei als ver­

strickt und zugleich als deutlich rechtsextrem be- zeichneten Jugendlichen in der Art ihrer autoritä­

ren Orientierung dem Typus der autoritären Do­

minanz bzw. der autoritären Aggression zuzuord­

nen sind. Dies mag nicht ganz zufällig sein. Was

auf jeden Fall auffällig ist, ist ihre besondere Ag­

gressivität im Verhältnis zu Ausländern, aber auch

„Linken“, die sich zum Teil in sehr konkreten, auf einzelne Opfer bezogenen Verfolgungsgeschichten äußert.

Besonders aggressiv ist Xaver (vgl. zu seiner Be­

ziehung zum Vater auch den im Anhang wiederge­

gebenen Textausschnitt 3). In seinem Fall kann ohne Übertreibung von einer „mörderischen Wut“

im Verhältnis zu Ausländern gesprochen werden.

Xaver gehörte im Alter von etwa 15 zu einer Skinhead- Gruppe. Von dieser hat er sich inzwischen distanziert (seine heutige Sicht: „gleich patsch am besten“). Aus­

länder (die „süd-östlichen Völker“, wie er einschränkt) und „Linke“ haßt er noch immer. Links sind für ihn bei­

spielsweise Wähler der Sozialdemokratie, z.B. sein Va­

ter, den er als „rote Sau“ bezeichnet. Ausländer sind für ihn „Scheiß Kanaken“. Manche von ihnen haßt er „auf den Tod“. Besonders verhaßt sind ihm einige türkische Jugendliche in seiner Umgebung. Einen von ihnen haßt er ganz besonders, weil er, wie Xaver formuliert, „rich­

tig blöde im Hirn is, weil der nur Scheiße erzählt. Ich wär schon zwanzigmal von ihm zusammengeschlagen worden und was weiß ich noch solche Geschichten . ..

Ich kann se wohl alle nich auf den Tod ausstehen, bloß den hasse ich besonders, also schon mehr als auf den Tod. Den würd ich glatt verbrennen oder sonstwas auch noch pur, richtig quälen, naja ich meine, was heißt das kann doch nich mehr, weil mein Haß ist schon maximal, der geht schon nicht mehr höher gegen diese Leute.“

Im Interview beschreibt er den Haß als eine für ihn letz­

ten Endes nicht zu erklärende Seite seiner Existenz:

„. . . das is einfach so gekommen. Das ist einfach so ge­

kommen und der Haß, der Haß is schon unendlich . . . Ich kanns ja selbst nich erklären, also das is unmöglich, also ich glaube, genau so wenig wie man sich erklären kann, wie sich Leute gern prügeln oder sonstwas, weil se Spaß dran haben oder so, das können sich die Leute nich erklären und das kann man auch nicht erklären, al­

so ich glaube, ich kenn keinen, der das erklären kann.“

Im weiteren Verlauf dieser Überlegungen versucht er trotzdem noch Erklärungen zu finden: er sei durch eine anmaßend auftretende ausländische Jugendgruppe pro­

voziert worden, und - und dies ist dann für ihn dann auch ganz einleuchtend - bei den Skins, zu denen er ge­

hörte, habe man nun mal gegen solche Leute etwas.

Der durch starke Gewaltbereitschaft gekennzeich­

nete, kaum noch kontrollierbare Haß äußert sich in dem Interview in einer über weite Strecken sadi­

stischen Fäkalsprache, die nicht nur das Reden über Ausländer und Linke, sondern auch das Re­

den über seinen Vater kennzeichnet (vgl. hierzu auch den Interviewausschnitt 3 im Anhang). Es gibt auch weitergehende Parallelen in dem Haß gegen Ausländer und dem Haß gegen die Eltern, insbesondere den eigenen Vater. Er versteht sich

(12)

460 Zeitschrift für Soziologie, Jg. 22, Heft 6, Dezember 1993, S. 449-463 mit seinen Eltern nicht, sieht sie, wie er sagt, „als

Geldquelle“ und fährt fort: .. so wie ich derzeit mit meinen Eltern auskomme und so, will ich mal ganz grundsätzlich sagen, würds mir wohl nichts ausmachen, wenn se sterben.“ Der Haß gegen­

über seinem Vater findet seinen Ausdruck unter anderem auch in einer Szene, in der der Sohn den Vater mit dem Baseball-Schläger bedroht. (Vor­

ausgegangen ist die nach Xavers Auskunft unge­

rechtfertige Anschuldigung des Vaters, nach der Xaver den Vater bestohlen hat, und eine Durchsu­

chung seines Zimmers.)

Im Verlauf unserer weiteren Arbeiten müssen in weitergehenden und vertiefenden Analysen unse­

res Materials Thesen zur Genese des ausgeprägten Vaterhasses, den wir in diesem Fall beobachten können, erarbeitet werden, und es müssen zu­

gleich die Zusammenhänge zwischen Vaterhaß und Minderheitenhaß an dem Fall Xavers genauer nach vollzogen werden. Erste Anhaltspunkte für die Fallanalyse sind in dem Verhältnis zu relevan­

ten Bezugspersonen zu sehen. Nach Xavers Dar­

stellung im Interview zu urteilen, konnte er als Kind weder zur Mutter noch zum Vater eine siche­

re Bindung aufbauen. Er hatte auch keine anderen Bezugspersonen, die die in der Beziehung zu den Eltern enttäuschten Bindungswünsche hätten auf­

fangen können und die damit zum Aufbau von Er­

satzbeziehungen hätten beitragen können. Dabei wird die Beziehung zur Mutter von Xaver insge­

samt relativ kühl als gleichbleibend unerfreulich geschildert. Dagegen gibt es in der Darstellung der Beziehungen zum eigenen Vater einen deutliche­

ren Wechsel zwischen der Äußerung von Bin­

dungswünschen und von Haßgefühlen. Es kom­

men mehr Ambivalenzen und Wut über frühe Zu­

rückweisungserfahrungen zum Ausdruck. Vermut­

lich sind es vor allem die Ambivalenzen in der Vater-Sohn-Beziehung, die für eine Interpretation des besonders auffälligen Vater-Hasses bedeutsam sind.

Um den hier nur knapp charakterisierten Fall Xa­

vers angemessen einzuordnen, ist es wichtig zu er­

wähnen, daß er in der Gruppe der von uns befrag­

ten Jugendlichen - auch in der Gruppe der rechts­

extrem orientierten Jugendlichen - in Art und In­

tensität der geschilderten Haßgefühle gegenüber dem Vater auf der einen Seite und Minderheiten auf der anderen Seite besonders extrem ist. Er darf keinesfalls für „typisch“ gehalten werden. Für die Diskussion unserer zentralen Thesen ist der Fall Xavers jedoch von großer Bedeutung. Er macht darauf aufmerksam, daß es neben der Un­

terdrückung von Aggressionen und Haßgefühlen

gegenüber den eigenen Eltern, die im Sinne der

„Displacement“-These für die Interpretation von Aggressionen gegenüber Minderheiten wichtig ist, eine andere, hiervon deutlich abgesetzte Variante des Umgangs mit Haßgefühlen gegenüber Eltern gibt, die in ihrer ausufernden und überbordenden Weise für die Interpretation rechtsextremer Ge­

walttätigkeit ebenfalls sehr wichtig ist.

Ebenso wie der Fall Xavers zur Revision und Spe­

zifizierung unserer Hypothesen zum Verhältnis von Aggressionsunterdrückung in der Kind- Eltern-Beziehung und der Ausprägung rechtsex­

tremer Orientierungen beiträgt, sind für uns auch andere Einzelfallanalysen wichtiger Bestandteil ei­

ner Hypothesenprüfung und -Spezifizierung.

Wie aus Tabelle 2 hervorgeht, gehören diejenigen Befragten, die als „dismissing“ eingeordnet wer­

den und die auf die eine oder andere Weise zur Un­

terdrückung von offenen Aggressionen gegenüber den eigenen Eltern neigen, in ihrer Mehrheit zwar zur Gruppe der eher rechtsextrem orientierten Ju­

gendlichen. Gleichwohl gibt es auch einige Fälle, bei denen die Tendenz zum Wegschieben schwieri­

ger Erfahrungen keineswegs mit Rechtsextremis­

mus verbunden ist. Im Verlauf der weiteren Aus­

wertungsarbeiten sollen diese genauer analysiert werden, und es sollen zudem Fälle miteinander verglichen werden, in denen die Tendenz zum Wegschieben von problematischen Beziehungser­

fahrungen mit voneinander abweichenden politi­

schen Orientierungen verbunden ist.

Die vergleichende Analyse solcher Fälle kann zu einer fallbezogenen Prüfung und dadurch auch Weiterentwicklung und Spezifizierung von Hy­

pothesen zur Herausbildung rechtsextremer Ori­

entierungen führen. Eine der Hypothesen, die hierbei von Interesse sind, hat mit der Frage zu tun, wie weit es im Verlauf des Heranwachsens ge­

lingt, das Wegschieben belastender Erfahrungen und die Vermeidung von frustrierenden Beziehun­

gen mit der Entwicklung nicht aggressiver oder nur in sublimierter Form aggressiver Ersatzbefrie­

digungen zu verbinden. Der Psychoanalytiker D.

Ronald Fairbairn (1952) hat solche Ersatzlösungen und den Rückzug auf innere Realitäten am Bei­

spiel „schizoider“ Entwicklungen erläutert und auf die Attraktivität verwiesen, die beispielsweise künstlerische oder wissenschaftliche Tätigkeiten für Personen haben, die auf Enttäuschungen in ih­

ren frühen Sozialerfahrungen mit emotionalem Rückzug und Konzentration auf innere Prozesse reagieren. Andere Hypothesen, die auf der Basis

Abbildung

Tabelle  1  Autoritäre  Dispositionen  und  rechtsextreme Orientierungen.
Tabelle 2 enthält einen Überblick über die Zusam­

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