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Über Bhagavadgltä II, 46.
Von
Dr. Ferdinande Belloni-Filippi.
yävän artha udapäne sarvatah sarnplutodake \
tävän sarvesu vedesu brähmanasya vijänatah \\
In den , Melanges Kern, Leide 1903, S. 141—143' lesen wir
eine neue, von Prof. Pavolini vorgeschlagene Interpretation dieser
SteUe. So scharf und geistreich ist sie, daß es fast unmöglich ist,
auf den ersten Blick nicht davon überzeugt zu sein. Unterzieht
man sie aber einer eingehenden Prüfung, so wird dem Philologen
nicht entgehen, daß dieselbe eine Künstelei verrät, die sich mit der
klassischen Einfachheit des epischen Stils kaum verträgt.
Wir wollen unsere Auffassung der in Frage stehenden Stelle
derjenigen Pavolini's entgegenstellen. Sie stützt sich ebenso auf
philosophische und grundsätzliche , wie anch auf philologische und
grammatikalische Kriterien : wir werden mit den ersten anfangen.
Es ist eine stete und hervorragende Eigentümlichkeit der phi¬
losophischen Systeme Indiens, in ihrer historischen Entwickelung,
den neuen Wein in alte Schläuche zu füllen, so daß wir eine un¬
unterbrochene Folge von Systemen vor uns haben, die alle^ selbst
das atheistische Sämkhyam , als orthodox gelten wollen. Sei es,
daß die Anhänger der neuen Systeme sich unter den Schutz der
vedischen Flügel flüchteten, sei es, daß die Priesterscbaft die neuen
Lehren an den schweren Wagen des Wissens anzuspannen suchte,
soviel bleibt doch gewiß, daß Altes und Neues zu einem homogenen
Ganzen zusammengefügt wurde.
In solchem Verhältnis steht nun die Bhagavadgltä, ein höchst
orthodoxes Werk, zur früheren Vedenlitteratur. Wie ,der Gesang
des Erhabenen" die wesentlich verschiedene Lehren des Sämkhyam
und des Yoga zu vereinen sucht, so verknüpft er sich selbst mit
dem früheren vedischen Wissen, dessen Autorität er nicht bestreitet,
obschon er keinen Nutzen darin sieht, wenn es nicht richtig erklärt
und verstanden wird. Demgemäß, obgleich er das Wort des Veda
„puspitäm väcam (II, 42a)' nennt, bezeichnet er doch als „avi-
paicitas'' nur diejenigen, die „Nichts anderes (außer dem-
Bd. LVIII. 25
380 Belloni-Filippi, Uber Bhagavadgita II, 40.
selben) ist" sagen, womit keineswegs behauptet wird, daß auch
diejenigen „avipadcitaa" seien, die das Wort des Veda nach den
Ansichten des Yoga verstehen und ergänzen. Ist ^nicht im XV. adh.
(22—23) gesagt, daß, wer die Anweisungen der Sästra's, der kano¬
nischen Werke, verwirft, nicht die Vollkommenheit und demnach
nicht das höchste Ziel erlangt?
In gleicher Weise beachte man, mit wievielem Takt der Verfasser
sich benimmt, wenn er von den Kasten spricht, einem schwierigen
Gegenstand, weil sie zu stürzen Ketzerei, sie unbedingt beizubehalten
Verleugnung der eigenen Grundsätze gewesen wäre. ,Auch die¬
jenigen', heißt es (IX, 32), „deren Geburt die Folge in früherem
Dasein begangener Sünden ist, d. h. Weiber, Vaiäya, Südra, erlangen
das höchste Ziel, wenn sie sich auf mich stützen.' Die Worte:
,Auch diejenigen {r/e 'pi)' zeigen, daß es sich nicht um ein plötz¬
liches Umstoßen der vorigen Anordnungen, sondern um ein Ausdehnen
der Vorrechte der oberen auf die niederen Kasten handelt.
Aus diesem Grunde meinen wir, daß Prof. Pavolini mit seiner
Interpretation: „Come quando si puö disporre di una massa sovra-
bbondante d'acqua, nessuna utilith viene da una piccola cisterna,
cosi a chi ö immerso nella contemplazione del Brähman, gioia
suprema e infinita. nessuna utilith viene dai Veda, piccolo ricetta-
colo di gioie limitate e radicate nel karman' nicht das Richtige
getroffen habe, wenn er seine Auslegung auf die enge Verknüpfung
des 46. äl. mit dem 45. gründet, und diesen letzteren im Sinne
einer Verwerfung der vedischen Lehre auffaßt, welche ihres trai-
gunyavisayatvam wegen nur zur Erlangung des karmaphalam
dienen kann. Das beabsichtigt, wie uns scheint, der Verfasser nicht.
Von dem 40. sl. an hat Krsna, wie er selbst im 39. sl. angekündigt,
über den Grundcharakter des Yoga zu sprechen angefangen, dessen
Praxis nach Aufhebung des Bewußtseins der Vielheit
strebt. Durch den samädhi, Absorption, worin Subjekt und
Objekt, Seele und Gott, so völlig ineinander fließen, daß das Be¬
wußtsein des eigenen Subjektes ganz erlischt, erlangt man dieses
Ziel. Um sich eben in samädhi zu versenken, soll Arjuna nistrai-
qunya werden, d. h. sich dem objektiven Dasein der Tätigkeit und
detid^schäften desselben entziehen. Deßhalb meinen wir, daß dieser
45. äl. vielmehr mit dem 44. logisch verbunden werden soll, weil
in diesem letzteren die noch mit Genuß- und Herrschbegierde
(d. h. mit den Antrieben der quna, der eigenen angeboi-enen Kräfte)
behafteten Menschen, für des samädhi unfähig erklärt werden. Dem¬
zufolge setzt der 45. äl. die Kennzeichnung des Yoga fort und läuft
nicht etwa auf die Geringschätzung der Vedalehre hinaus, sondern
betont die Tatsache, daß der yogin, nicht der Vedaanhänger nistrai-
gunya sei: Also ist der 46. sl. selbständig und verleiht dem ganzen
Inhalt der äli. 41—45 einen sehr wirksamen Abschluß, indem er
sie in einem Bilde zusammenfaßt.
Ist es uns, wie wir hotten, gelungen, den Charakter der Bhag.
Belloni-Filippi, Über Bhagavadgita II, 46. 381
im Verhältnis zur früheren Vedenlitteratur darzustellen, so springt
der Sinn der in Frage stehenden Stelle von selbst in die Augen.
Eben weil aus einer entgegengestellten Voraussetzung ausgegangen,
hat Prof. Pavolini, wie wir meinen, nicht das Richtige getroffen.
Verleitet von dem Gedanken, daß für denjenigen, welcher zur Ätma-
lehre gelangt ist, die Vedalehre absolut nicht nützlich sei, ist er
gezwungen worden , udapäne in dem Sinne von alpodapäne auf¬
zufassen, während udapäna ein «großer Brunnen" ist, wie es sich
auch aus MBh. V, 46, 26 :
yathodapäne mahati sarvatah samplutodaJce \
evam sarvesu vedesu ätmänam anujänatah ||
nachweisen läßt, worin offenbar udapäne und mahati untrennbar sind.
Allerdings umgeht Prof Pavolini in dieser letzten Stelle die
Schwierigkeit, indem er nach yathodapäne ein Komma setzt {ya¬
thodapäne, mahati sarvatah samplutodake); aber niemand wird
diese willkürliche Interpunktion gutheißen, da die Pause, von Natur
aus, am Ende des ersten päda mit der Cäsur zusammenfällt und
den Halbäl. in seine natürliche Hälfte zerteilt:
yathodapäne mahati \\ sarvatah samplutodake \
Außerdem bezeichnet das Adj. mahant keine Quantität, sondern
Dimension, und seine Bedeutung ist „groß", nicht „viel". In
diesem letzten Sinne würde der indische Verfasser vielmehr das
Adj. bahu oder bhüri angewandt haben.
Übersetzen wir aber udapäna mit „großer Brunnen", so paßt
das Bild eines großen Brunnen durchaus zum Veda, dem unendlichen
Ozean der aus den verschiedensten Quellen zusammengeflossenen
Lehren. Wie hätte der Dichter diese ungeheuere Masse mit einem
kleinen Brunnen vergleichen können ?
Wir meinen dagegen, daß das Bahuvrihi-Kompositum samplu¬
todake sich ganz natürlich als abhängig von udapäne ergebe, weil hier,
abgesehen von den oben angeführten Gründen, der absolute Lokativ
iiberaus hart klingt, wie denn auch den indischen Kommentatoren,
Sanikara, Rämänuja, Nllakantha, nie eingefallen ist, sarnplutodake
vom udapäne abzutrennen. Nach unserer Meinung ist der Sinn
des in Frage stehenden Verses: ,Wie viel Nutzen (d. h. wenigen
Nutzen) man aus einem (großen) Brunnen, worin Wasser von allen
Seiten zusammenfließt, ziehen darf, ebensoviel ist aus allen Veden
vom Kenner des Brahman's zu ziehen". Das will sagen, daß, wer
zur Brabmanerkenntnis gelangt ist, nur einen kleinen Teil des un¬
geheueren Vedeninhalts benutzen kann, d. i. jenen Teil, der der
eigenen Weltanschauung entspricht , gerade wie man auch alles
Wasser eines großen Brunnen nicht benutzen kann , sondern nur
soviel davon nimmt, als dem eigenen Bedarf entspricht.
Damit wird die Annahme bestätigt, daß die Vedas viel Un-
26*
382 Belloni-Filippi, Über Bhagavadgltä II, 46.
nützes enthalten, woraus aher der Weise den «ara auszuziehen
weiß, dem Spruche^) entsprechend:
anvihyad ca mahadbhyad ca dästrebhyah kudalo narah \
sarvatah aäram ädadyät puspebhya iva ?a(padah \\
Und daß diese Interpretation mit den indischen Ansichten im Ein¬
klang steht, heweist auch der Spruch''):
upakartum yathä svalpah samartho na tathä mahän \
präyah küpas tr§äm hanti satatam na tu, väridhih ||
Ührigens steht unsere Interpretation mit denjenigen von Rämänuja
und Nllakantha in Einklang, wenn sie auch von allen europäischen
und von manchen indischen Erklärangen abweicht.
So am Ende unserer Argumentation angelangt, wollen wir die
angeführten Gründe der Reihe nach kurz zusammenfassen:
I) Die Bhag. ist ein orthodoxes Werk, das die vedische Lehre
nicht geringschätzt; sie knüpft dagegen an früheres Wissen an und
sucht Neues auf Altes zu pfropfen.
II) Der 46. äl. ist nicht mit dem 45. verknüpft, vielmehr bildet
er, sozusagen, den Schlußsatz der in den äll. 41—45 enthaltenen
Bestimmung des Yoga.
III) In dem in Frage stehenden äl. ist udapäna nicht als ein.
.kleiner Brunnen' aufzufassen; die Parallelstelle MBh. V, 46, 26]
beweist dagegen durch ihren „udapäne mahati", daß es sich hierj
um einen .großen Brunnen" handelt.
IV) Endlich ist sarnplutodake als der natürliche bahuvrihi des
vorangehenden udapäne und nicht mit Prof. Pavolini als absoluter
Lokativ aufzufi^en.
1) Böhtlingk, Ind. Spr.« 121.
2) ib. 1271.
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Bemerkungen zu vorstehendem Aufsatz.
Von Hermann Jacobi.
Zu vorstehendem Artikel Herrn Dr. Belloni's, der mir in der
Hauptsache das Richtige getroffen zu haben scheint, sei es mir ge¬
stattet einige Bemerkungen hinzuzufügen.
Der erste Päda des in Rede stehenden Verses geht auf einen
Jonicus a minori aus : udapäne. Dieser Ausgang ist verhältnismäßig
selten, cf. Gurupüjäkaumudi p. 51, und verlangt nach dem für alle
selteneren Vipulä-Arten geltenden Gesetze vor sich Cä.sur und schwere
Silbe. Letzteres Erfordernis ist vernachlässigt; der Vers ist also
metrisch anstößig. Wir dürfen ihn darum nicht verwerfen, noch
„verbessern", aber wir dürfen fragen, warum der Autor dem Vers¬
maße Gewalt anzutun sich nicht gescheut habe. Betrachten wir
nun den von Pavolini zum Vergleich herangezogenen Vers Sanatsu-
yätiya VI, 26 {yatho 'dapäne mahati sarvatah samplutodake \ evam
sarvesu vedesu ätmänam anujänatah), so fällt die gleiche elliptische
Sprache bei Verwendung gleicher Ausdrücke auf. Diese Umstände
legen die Annahme nahe, daß der Autor auf ein damals bekanntes
Sprichwort Bezug genommen und einige Stichwörter desselben in
seinen Vers hineingezwängt habe, unbesorgt, ob Meti-um und Kon¬
struktion litten. Denn der dem Leser bekannte Sinn des Sprich¬
wortes ließ ihn das nur andeutungsweise Gesagte leicht verstehen
und aus sich ergänzen. Dieser Sinn aber dürfte wohl derselbe ge¬
wesen sein , der in der von Belloni angeführten Strophe enthalten
ist, und daraus ergibt sich dann als Sinn unserer Stelle : wie jemand
aus einem Gewässer nur soviel entnimmt wie er gebraucht, so auch
der erleuchtete Brahmane aus allen Veden.
Damit ist nun nicht gesagt, daß die Veden viel Unnützes ent¬
hielten, sondern nur, daß der erleuchtete Brahmane nicht alles
gebraucht, was der Veda lehrt; ebensowenig wie jemand alles
Wasser eines Sees gebraucht, das darum doch nicht unnütz ist,
weil e r es nicht gebrauchen kann. Es fragt sich also : was soll
der erleuchtete Brahmane aus dem Veda nehmen ?
In der Beantwortung dieser Frage dürfen uns die einheimischen
Kommentatoren nicht ohne weiteres als Gewährsmänner dienen.