5 Integralrechnung in einer Variablen
5.1 Der Riemannsche Integralbegriff
Die Integralrechnung bildet das Gegenstück zur Differentialrechnung.
Sie wurde parallel zu dieser von I. Newton und G. W. v. Leibniz entwickelt und später von A. L. Cauchy präzise gefasst.
Der hier vorgestellte Integralbegriff geht (zumindest sinngemäß) auf den deutschen Mathematiker Bernhard Riemann (1826-1866) zurück.
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 299
Motivierende Problemstellung
Gesucht ist der Flächeninhalt zwischen dem Graphen einer beschränkten Funktionf: [a, b]→Rund derx−Achse:
a b
f
Im Allgemeinen ist die Fläche krummlinig begrenzt; Formeln für elementare geometrische Objekte scheiden also zur Lösung aus.
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 300
Lösungsstrategie
Das Problem ist einfach für stückweise konstante Funktionen, da sich dann der Flächeninhalt aus Rechtecken zusammensetzt.
Daher schachtelt man die Fläche unter dem Graphen vonf von oben und unten mit Rechteckflächen ein und gewinnt so obere und untere Schranken.
Können sich die grauen und grünen Rechteckflächen von oben und unten beliebig weit derselben Schranke nähern, so ist diese die gesuchte Fläche.
Wir beschreiben diesen Zugang nun mathematisch exakt.
Definition 5.1.
Wir nennent: [a, b]→ReineTreppenfunktion, wenn es eine Zerlegung
a=x0< x1< x2<· · ·< xn=b
des Intervalls[a, b]gibt, so dasstauf jedem der (offenen) Teilintervalle (xi, xi+1)konstant ist, d. h.
t(x) =ξi für allexmitxi< x < xi+1. Für eine solche Treppenfunktiontsetzt man
Z b a
t(x)dx:=
n−1
X
i=0
ξi(xi+1−xi).
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 302
Geometrische Interpretation
x0 x1 x4
x2x3 x5x6
− + +
+
− +
ξ0
ξ1
ξ2
ξ3
ξ4
ξ5
Rb
at(x)dxentspricht dem gewichteten Flächeninhalt zwischen dem Graph vontund derx–Achse. Dabei werden Flächen oberhalb der x–Achse positiv, Flächen unterhalb derx–Achse negativ gezählt.
Berechnen SieR1
−2sgn(x)dx(vgl. S. 175).
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 303
Ober- und Unterintegral
Zu jeder beschränkten Funktionf: [a, b]→Rkönnen wir nun zwei Zahlen definieren, nämlich dasOberintegral
I¯f:= inf Z b
a
t(x)dx : tTreppenfunktion auf[a, b]mitt≥f
und dasUnterintegral If := sup
Z b a
t(x)dx : tTreppenfunktion auf[a, b]mitt≤f
. Diese beiden Größen helfen uns, die “Einschachtelung“ der Fläche unter dem Graphen vonf mit Rechteckflächen mathematisch zu erfassen.
Definition 5.2 (Riemann-Integral).
Eine auf[a, b]beschränkteFunktionf heißt auf[a, b]
Riemann-integrierbar, falls das Ober- und das Unterintegral übereinstimmen, d. h. fallsI¯f =If =:I.
Der gemeinsame Wert wirdbestimmtes Riemann-Integral vonf über [a, b]genannt und mit Z b
a
f(x)dx
bezeichnet.aheißt untere undbobereIntegrationsgrenze, und[a, b]
wirdIntegrationsintervallgenannt.xheißtIntegrationsvariableund f(x)Integrand.
Konventionen Ra
af(x)dx:= 0undRa
b f(x)dx:=−Rb
af(x)dx(fallsa < b).
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 305
Definition 5.2 liefert zwar kaum Anhaltspunkte für die konkrete Berechnung von Integralen, aber bereits einige Rechenregeln:
Satz 5.3 (Rechenregeln für die Integration I).
Sindf, g: [a, b]→Rintegrierbar, so auchmax{f, g},min{f, g},|f|, f±gundf g.
Es gelten die folgenden Integrationsregeln:
Z b a
(f±g)(x)dx= Z b
a
f(x)dx± Z b
a
g(x)dx, Z b
a
(λf)(x)dx=λ Z b
a
f(x)dx für alleλ∈R.
Machen Sie sich eine der Formeln zumindest für Treppen- funktionen klar. (Die “Vererbung“ der Eigenschaften an integrierbare Funktionen soll hier nicht diskutiert werden.)
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 306
Satz 5.4 (Rechenregeln für die Integration II).
Sindf, g: [a, b]→Rintegrierbar. Dann gilt Z b
a
f(x)dx= Z c
a
f(x)dx+ Z b
c
f(x)dx für allec∈(a, b).
Fallsf≤gauf(a, b)gilt, so folgt Z b
a
f(x)dx≤ Z b
a
g(x)dx.
Insbesondere folgt ausc≤f(x)bzw.f(x)≤Cfür allex∈(a, b) : c(b−a)≤
Z b a
f(x)dx bzw. Z b a
f(x)dx≤C(b−a).
Außerdem gilt
Z b a
f(x)dx ≤
Z b
a |f(x)|dx.
Interpretieren Sie einige dieser Aussagen geometrisch.
Klassen integrierbarer Funktionen Satz 5.5.
Istf auf[a, b]stetigodermonoton, so istf auch integrierbar auf [a, b].
Natürlich gehört aber bei weitem nicht jede auf[a, b]integrierbare Funktion in eine dieser beiden Klassen.
Aus dem Zwischenwertsatz für stetige Funktionen folgt desweiteren:
Satz 5.6 (Mittelwertsatz der Integralrechnung).
Istf: [a, b]→Rstetig, dann gibt es einξ∈[a, b]mit Z b
a
f(x)dx=f(ξ) (b−a).
Interpretieren Sie diese Aussage geometrisch.
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 308
5.2 Stammfunktionen und der HDI
Bislang haben sind wir noch gar nicht darauf eingegangen, wie man denn Integrale konkretberechnet.
Dazu benötigen wir den Begriff der Stammfunktion sowie den Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung.
Letzterer besagt, dass das Integrieren – unter gewissen Voraussetzungen und sehr grob gesprochen – die „Umkehrung“des Differenzierens ist.
Das Ergebnis ist so berühmt und wichtig, dass es sogar eine Vertonung als Kantate gibt∗(F. Wille, 1935-1992).
∗Eine schöne Aufführung von Würzburger Gymnasiasten inclusive animierter Skizzen finden Sie unter http://www.youtube.com/watch?v=4n6aB4aasyg.
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 309
Stammfunktionen Definition 5.7.
Seif: [a, b]→Reine reelle Funktion. Man nennt eine differenzierbare FunktionF : [a, b]→ReineStammfunktionvonf, wenn
F0(x) =f(x) für allex∈[a, b].
Beispiel: F(x) =x2ist Stammfunktion vonf(x) = 2x, dennF0=f.
Können Sie Stammfunktionen zuf(x) =exundg(x) = cosxfinden?
Vielleicht sogar mehrere?
Integrationskonstanten und unbestimmtes Integral
SindF1 undF2 Stammfunktionen vonf, dann gibt es eine Konstante c∈RmitF1(x) =F2(x) +cfür allex∈[a, b]. (Warum?)
Stammfunktionen sind also bis auf Konstanten eindeutig bestimmt.
Stammfunktionen werden auchunbestimmte Integralegenannt und häufig in der Form
F(x) = Z
f(x)dx+c
geschrieben. Die KonstantecheißtIntegrationskonstante.
Was verstehen wir also unter den unbestimmten IntegralenR exdx undR
cosx dx?
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 311
Zu stetigen Funktionen erhält man eine Stammfunktion wie folgt:
Satz 5.8 (Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung, Teil I).
Seif: [a, b]→Rstetig, dann ist die durch F : [a, b]→R, x7→
Z x a
f(s)ds definierte FunktionF in[a, b]differenzierbar, und es gilt
F0(x) = d dx
Z x a
f(s)ds
=f(x).
Sämtliche Stammfunktionen einer stetigen Funktionen sind konsequenterweise von der Bauart
F(x) = Z x
a
f(s)ds+c. (1)
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 312
Graphische Darstellung
a x b
f f(x)
F(x)
Dargestellt ist eine stetige Funktionf und ihre StammfunktionF als Maß der schraffierten Fläche gemäß Satz 5.8.
Erarbeiten Sie sich die Beweisidee anhand der Skizze selbst. Nutzen Sie ggf. auch die Literatur oder die Hauptsatzkantate.
Stammfunktionen spezieller Funktionen
Wegen der BeziehungF0=fliegt für die Bestimmung von Stammfunktionen zunächst das “Rückwärtslesen“ der Tabellen für Ableitungen (S. 255 f.) nahe.
Lernen Sie am besten folgende Stammfunktionen elementarer Funktionen auswendig:
f F Bemerkungen
xn xn+1/(n+ 1) n6=−1
1/x ln|x| x6= 0
eax eax/a a6= 0
lnx xlnx−x x >0 sinx −cosx
cosx sinx
Prüfen Sie die Beispiele auf ihre Richtigkeit.
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 314
Aus den Regeln für Ableitungen ergeben sich schließlich folgende Regeln für Stammfunktionen (bis auf Integrationskonstanten):
R λf(x)dx=λR
f(x)dx(λ∈R), R(f(x) +g(x))dx=R
f(x)dx+R
g(x)dx.
Es ist anzumerken, dass die Berechnung von Stammfunktionen im Allgemeinen viel schwieriger ist als Differenzieren. Daher gibt es z. T.
Hunderte Seiten dicke Integraltafeln.
Deren Bedeutung hat sich allerdings in den letzten Jahrzehnten mit der Verfügbarkeit von PC und numerischen Verfahren deutlich relativiert.
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 315
Kommen wir nun zur konkreten Berechnung derIntegralemittels Stammfunktionen:
Satz 5.9 (HDI, Teil II).
Seif: [a, b]→RstetigundF eine (beliebige) Stammfunktion vonf, dann gilt: Z b
a
f(x)dx=F(x)b
a:=F(b)−F(a).
Man mache sich klar, warum Satz 5.9 aus (1) und Satz 5.8 folgt.
Man berechneR2 1 1
xdxmit Hilfe von Satz 5.9.
Man berechne dxd Rx
−1te2tdt.
5.3 Integrationstechniken
Wir nennen eine Funktionf:Df→Rstetig differenzierbar, wenn sie aufDf differenzierbar, und die Ableitungf0stetig ist.
Wir wollen wir wenigstens einige elementare Techniken zur Bestimmung von Integralen/Stammfunktionen behandeln. Der folgende Satz entsteht z. B. durch “Integrieren“ der Produktregel:
Satz 5.10 (Partielle Integration).
Seienf, g: [a, b]→Rstetig differenzierbar. Dann gelten:
Z
f0(x)g(x)dx=f(x)g(x)− Z
f(x)g0(x)dx (2)
und Z b
a
f0(x)g(x)dx=f(x)g(x) ba−
Z b a
f(x)g0(x)dx. (3)
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 317
Beispiel:
Z
xexdx=xex− Z
exdx= (x−1)ex+c.
Hierbei wurde in (2)f0(x) =exundg(x) =xgewählt, d. h.f(x) =ex undg0(x) = 1.
Das Beispiel ist typisch: Bei Produkten von Polynomen mit
trigonometrischen Funktionen (sin,cos,exp) ist die partielle Integration Mittel der Wahl.
Man berechne folgende Integrale mittels partieller Integration:
Rπ
0 xsinx dx, R lnx dx, R cos2x dx.
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 318
Durch “Integrieren“ der Kettenregel entsteht folgender Satz:
Satz 5.11 (Substitutionsregel).
SeiI⊂Rein Intervall,f:I→Rstetig undϕ: [a, b]→I stetig differenzierbar. Dann gelten:
Z
f(ϕ(t))ϕ0(t)dt= Z
f(x)dx (4)
und Z b
a
f(ϕ(t))ϕ0(t)dt= Z ϕ(b)
ϕ(a)
f(x)dx. (5)
Die Formeln (4) und (5) merken sich besonders gut in Leibniz-Notation, wenn manx=ϕ(t)unddx=ϕ0(t)dtsetzt.
Beispiele
Substituiert man in Z 2 1
cos(ln(t))
t dt
x=ϕ(t) = lnt, so giltϕ0(t) =1t und daher mit (5):
Z 2 1
cos(lnt) t dt=
Z ln 2 0
cosx dx= sinxln 2
0 = sin(ln 2)≈0.639.
In Leibniz-Notation würde manx= lntschreiben und dxdt =1t in dt=t dx„umformen“. Einsetzen ins Integral liefert dann ebenso
Z 2 1
cos(lnt) t dt=
Zln 2 0
cosx C
t t dxC =. . .= sin(ln 2).
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 320
Entscheidend ist das Erkennen der Strukturf(ϕ(t))ϕ0(t). Haben Sie diese Struktur einmal erfasst, führt die Substitution auch zum Ziel.
Zusätzliche Konstanten im Integranden sind wegen der Linearität des Integrals unproblematisch.
Besonders einfach sind Integranden der Formf(at+b). Kennt man eine Stammfunktion vonf, führt die Substitutionx=at+bzum Ziel.
Berechnen SieR
tet2+1dtundR1 0 √1
3t+1dt.
Welche Substitutionen sind in folgenden Integralen zweckmäßig:
Z
sin(2t−5)dt, Z t
17cos(t2+4)dt,
Z e1+√t
√t dt,
Z dt t2+ 2t+ 2?
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 321
Für eine invertierbare Funktionϕliefert (5) desweiteren Z b
a
f(x)dx= Z ϕ−1(b)
ϕ−1(a)
f(ϕ(t))ϕ0(t)dt.
Auch dies lässt sich geschickt nutzen. Mitx=ϕ(t) = sinterhält man für−1≤a < b≤1zum Beispiel
Zb a
p1−x2dx=
arcsinbZ
arcsina
p1−sin2tcost dt=
arcsinZ b arcsina
cos2t dt.
Das letztere Integral hatten wir bereits auf S. 318 ausgewertet. Es ergibt
sich Z b
a
p1−x2dx=1
2(x+ sinxcosx)arcsinb
arcsina.
Weitere nützliche Regeln
Seienf: [a, b]→Rstetig differenzierbar,r∈R(r6=−1) und frauf[a, b]definiert. Dann gilt
Z
f0(x)(f(x))rdx= 1
r+ 1(f(x))r+1+c.
Seif: [a, b]→Rstetig differenzierbar mitf(x)6= 0für alle x∈[a, b]. Dann gilt
Z f0(x)
f(x) dx= ln(|f(x)|) +c.
Machen Sie sich die beiden Aussagen mit Hilfe geeigneter Substitutionen klar.
Berechnen SieR
sin3(x) cos(x)dxundR3 2
dx xln(x).
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 323
Integration rationaler Funktionen
Erinnerung: Rationale Funktionen sind von der Form f(x) =p(x)
q(x),
wobeipundqPolynome sind. Fallsgrad(p)≥grad(q)erhält man mittels Polynomdivision eine Zerlegung
f(x) =p(x)
q(x) =s(x) +t(x) q(x), mit Polynomensundt, wobeigrad(t)<grad(q).
Somit gilt Z
f(x)dx= Z p(x)
q(x)dx= Z
s(x)dx+ Z t(x)
q(x)dx.
Die Integration vonsist einfach, daher konzentrieren wir uns auf den
“echt“ gebrochen rationalen Anteil qt.
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 324
Für die Integration des echt gebrochen rationalen Anteils benötigt man eine sogenannte Partialbruchzerlegung.
Dafür beschafft man sich zunächst die Faktorisierung des Nennerpolynoms
q(x) = a0+a1x+. . .+anxn
= an
Yk j=1
(x−λj)µj Ym j=1
x2+pjx+qjνj
, (6)
(wobein=grad(q)undPk
j=1µj+ 2Pm
j=1νj =n,λj und(pj, qj) paarweise verschieden, vgl. Satz 1.29 und Abschnitt 3.4.1, S. 200).
Für die Integration noch günstiger schreibt man (6) mittels quadratischer Ergänzung als:
q(x) =an
Yk j=1
(x−λj)µj Ym j=1
(x−αj)2+βjνj
Der folgende Satz hilft uns nun,g(x) := t(x)q(x) in eine für die Integration geeignete Struktur zu bringen:
Satz 5.12.
Unter diesen Voraussetzungen und mit diesen Bezeichnungen gibt es eindeutig bestimmte reelle Zahlen
ηj,t (j= 1,2, . . . , k, t= 1,2, . . . , µj) σj,s (j= 1,2, . . . , `, s= 1,2, . . . , νj) τj,s (j= 1,2, . . . , `, s= 1,2, . . . , νj), so dassgdie folgendePartialbruchzerlegungbesitzt:
g(x) = Xk j=1
µj
X
t=1
ηj,t
(x−λj)t+ X` j=1
νj
X
s=1
σj,s+τj,sx
((x−αj)2+βj2)s. (7)
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 326
Möglicherweise finden Sie folgende Notation von (7) übersichtlicher:
g(x) = η1,1
x−λ1
+ η1,2
(x−λ1)2+. . .+ η1,µ1
(x−λ1)µ1 +. . .
+ ηk,1
x−λk
+ ηk,2
(x−λk)2+. . .+ ηk,µk
(x−λk)µk
+ σ1,1+τ1,1x (x−α1)2+β21
+ σ1,2+τ1,2x
((x−α1)2+β21)2+. . .+ σ1,ν1+τ1,ν1x ((x−α1)2+β12)ν1 +. . .
+ σ`,1+τ`,1x
(x−α`)2+β2` + σ`,2+τ`,2x
((x−α`)2+β`2)2+. . .+ σ`,ν`+τ`,ν`x ((x−α`)2+β`2)ν` ImkonkretenBeispiel kann man auf die Doppelindizierung verzichten und für die Unbekanntenηj,t, σj,sundτj,seingängigere Bezeichnungen (z. B.A, B, C, . . .) wählen.
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 327
Bei der Erzeugung einer Partialbruchzerlegung wählt man also den passenden Ansatz nach Satz 5.12 und muss dann die Koeffizienten ηj,t,σj,sundτj,s(bzw.A, B, C, . . .) bestimmen.
Dafür multipliziert man beide Seiten von (7) mitq(x)und gleicht dann die Koeffizienten der links und rechts stehenden Polynome ab.
Eine noch günstigere Variante ist häufig, nach Multiplikation mitq(x) genaunverschiedene Werte fürxeinzusetzen und das entstehende lineare Gleichungssystem zu lösen.
Eine besonders günstige Wahl für die einzusetzenden Werte sind dabei die Nullstellenλj vonq.
Am leichtesten erlernt man die Partialbruchzerlegung anhand von Beispielen:
Man bestimme eine Partialbruchzerlegung von f(x) =5x2−37x+ 54
x3−6x2+ 9x.
WelcheAnsätzesind für die Partialbruchzerlegungen folgender Funktionen zu wählen?
g(x) = 42
x3(x+ 1)2, h(x) = 1 (x+ 1)2(x2+ 1).
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 329
Die Funktionen aus (7) besitzen folgende Stammfunktionen:
f(x) F(x) =R
f(x)dx
x−λ1 ln(|x−λ|) λ∈R
1
(x−λ)t −t−11 1
(x−λ)t−1 t∈N, t >1
1
(x−α)2+β2 1
β arctan
x−αβ
α, β∈R, β6= 0
x (x−α)2+β2 1
2ln (x−α)2+β2
+αβ arctanx−αβ
Die verbleibenden Integrale müssen rekursiv berechnet werden:
Z x dx
((x−α)2+β2)s = −1
2(s−1) ((x−α)2+β2)s−1+α
Z dx
((x−α)2+β2)s,
Z dx
((x−α)2+β2)s = x−α
2(s−1)β2((x−α)2+β2)s−1+ 2s−3 2(s−1)β2
Z dx
((x−α)2+β2)s−1 fürs∈N,s >1.
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 330
Wir fassen die Schritte zur Integration einer rationalen Funktion f(x) =p(x)q(x) noch einmal zusammen:
Spalte mittels Polynomdivision den echt gebrochen rationalen Anteil ab:
f(x) =s(x) +t(x)
q(x) mitgrad(t)<grad(q)
Berechne fürg(x) =q(x)t(x) eine Partialbruchzerlegung und integriere die entstehenden Summanden mit Hilfe der Formeln und Tabellen auf Seite 330. Das verbleibende Integral übers(x)ist einfach.
Man bestimme auf diese Weise Zb
a
2x4−12x3+ 23x2−37x+ 54 x3−6x2+ 9x dx.
5.4 Uneigentliche Integrale
Bisher können wir nur beschränkte Funktionen und beschränkte Intervalle behandeln. Wir erweitern den Integralbegriff daher ein wenig.
Definition 5.13 (Uneigentliches Integral).
Seib∈R∪ {∞}undf: [a, b)→Rauf jedem Intervall[a, r]mit a < r < b, Riemann-integrierbar. Falls
rlim→b−
Zr a
f(x)dx=:
Z b a
f(x)dx
existiert, so heißtfauf[a, b)uneigentlich Riemann-integrierbar.
Man sagt auch,Rb
af(x)dxistkonvergent.
Analog fürf(a, b]→Roderf: (a, b)→Rmita∈R∪ {−∞}.
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 332
Von besonderem Interesse sind häufig folgende Fälle:
der Integrand ist bei Annäherung an eine der Integrationsgrenzen unbeschränkt (links),
das Integrationsintervall ist unbeschränkt (rechts).
a r b
f
a r
f
Bestimmen Sie R∞
1 1
x2dx sowie 42R
0
√1xdx.
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 333
Weitere Beispiele
Fürr >1unda >0gilt Z ∞
a
dx
xr = 1
(r−1)ar−1. Dagegen existiertR∞
a dx
xr fürr≤1nicht.
In der Stochastik benötigt man häufig Z ∞
−∞
exp(−x2)dx=√ π.
Zu welchem Ergebnis aus dem Kapitel Reihen erkennen Sie im ersten Beispiel Parallelen?
5.5 Volumenberechnung bei Rotationskörpern
Für die Berechnung krummflächig begrenzter Volumina benötigt man eigentlich mehrdimensionale Integrale.
Bei Körpern, die durch Rotation eines Funktionsgraphen um die x−Achse entstehen, reichen jedoch eindimensionale Integrale aus.
Man nennt solche KörperRotationskörper.
f
x dx
dx
a dx b
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 335
“Herleitung“ der Volumenformel in Leibniz-Notation Die Größedxwird als “infinitesimal“ kleine Zahl interpretiert; das Integral als Summe (beachte stilistische Ähnlichkeit von “R
“ und “S“).
Für das Volumen der grau markierte Scheibe gilt für sehr kleinedx VScheibe≈π(f(x))2dx.
Damit ergibt sich für das VolumenVK des Rotationskörpers VK =π
Z b a
(f(x))2dx
(Natürlich steckt hinter dieser “Herleitung“ eigentlich wieder ein Grenzwertprozess.)
Welches Volumen hat der Körper, der durch Rotation des Graphen von f: [1, r]→R, f(x) =1x, um diex-Achse entsteht?
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 336
5.6 Quadraturformeln – ein erster Einblick
Nur die wenigsten Integrale kann man geschlossen auswerten; in den allermeisten Fällen ist man auf numerische Näherungsverfahren – sogenannteQuadraturverfahren– angewiesen.
Prominente Integrale, die sich nachweislich nicht durch elementare Stammfunktionen bestimmen lassen, sind zum Beispiel
Φ(x) := 2
√π Z x
0
e−s2ds (x∈R).
Die entstehende Funktionx7→Φ(x)heißtFehlerfunktion.
Als Vorbetrachtung ersetzen wir eine stetige Funktionf: [a, b]→R näherungsweise durch ihre Sekantesdurch(a, f(a))und(b, f(b)).
f
a b
s
Damit erhalten wir die Näherungsformel Z b
a
f(x)dx≈1
2(b−a)(f(a) +f(b)). (8) Schon anschaulich wird klar, dass diese Formel im Allgemeinen nur sehr grobe Näherungen liefern kann.
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 338
Wesentlich bessere Ergebnisse erhält man aber, wenn man[a, b]inN gleichlange Teilintervalle[xi, xi+1]unterteilt mit
xi=a+ih (i= 0,1, . . . , N) mith= (b−a)/N.
und die einfache Trapezregel (8) über jedem Teilintervall anwendet:
Z b a
f(x)dx ≈
NX−1 i=0
1
2h(f(xi) +f(xi+1)) (9)
= h
1
2f(x0)+f(x1)+f(x2)+. . .+f(xN−1)+1 2f(xN)
. Wir bezeichnen den Ausdruck auf der rechten Seite alsTrapezsumme Tf(h)und die Formel (9) alszusammengesetzte Trapezregel.
Gute Visualisierungen finden Sie auf der Übungshomepage unter
“Mathematica-Demonstrationen“.
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 339
Alternativ kann manf lokal auch durch quadratische Polynome ersetzen, und dadurch eine noch bessere Approximation erreichen:
Dieser Ansatz führt letztlich auf diezusammengesetzte Simpsonregel:
Z b a
f(x)dx≈h
3[f(x0)+4f(x1)+2f(x2)+4f(x3)+2f(x4)+. . .+4f(xN−1)+f(xN)]. Dabei istN gerade zu wählen. Den Term auf der rechten Seite
bezeichnen wir mitSf(h).
Natürlich will man wissen, wie groß der resultierende Fehler bei Verwendung einer Quadraturformel ist. Dabei hilft uns:
Satz 5.14 (Quadraturfehler Trapez- und Simpsonregel).
Istf auf[a, b]zweimal stetig differenzierbar, dann gilt
Zb
a
f(x)dx−Tf(h) ≤b−a
12 h2 max
a≤x≤b|f00(x)|.
Istf auf[a, b]viermal stetig differenzierbar, dann gilt
Zb
a
f(x)dx−Sf(h) ≤b−a
180 h4 max
a≤x≤b|f(4)(x)|.
Welche der beiden Regeln ist für genügend kleinehgenauer?
Approximieren Sie ein bekanntes Integral Ihrer Wahl mit beiden Quadraturformeln für mehrere geeignete Werte vonh.
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 341
Ziele erreicht?
Sie sollten nun (bzw. nach Abschluss der Übungen/Tutorien):
den Begriff des Riemann-Integrierbarkeit tiefgreifend verstanden haben,
den Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung beherrschen und Integrale mit Hilfe der Stammfunktion berechnen können, die Stammfunktionen zu den gängigen elementaren Funktionen kennen (am besten auswendig),
einige Integrationstechniken sicher anwenden können (part.
Integration, Substitution, einfache Fälle der PBZ),
uneigentliche Integrale und das Volumen von Rotationskörpern sicher berechnen können,
über Quadraturformeln grob bescheidwissen.
Sie sind sich nicht sicher oder meinen “nein“? Haben Sie schon gute Vorsätze fürs neue Jahr. . . ?
Integralrechnung TU Bergakademie Freiberg 342