DEUTSCHES
ÄRZTEBLATT
URIBERICHT
Epidemiologie
von Kniegelenkempyemen
Ergebnisse einer retrospektiven Multicenterstu.die
Karl Christian Westphal, Michael Troch
und Ernst Joachim Henßge
1
n einer retrospektiven Multi- centerstudie wurden alle Knie- gelenkempyeme untersucht, die in einem begrenzten Ge- biet und Zeitraum behandelt wurden. Erfaßt und nach Häufigkeit dargestellt wurden die Ursache (in- traartikuläre Injektion und Gelenk- punktion, Operation, Trauma mit Gelenkeröffnung, hämatogene Streu- ung), der Ort der Empyemverursach- ung, das Spektrum der nachgewiese- nen Erreger, bei Injektion verab- reichtes Medikament sowie weitere Parameter.Das Kniegelenkempyem hat in den vergangenen Jahren wiederholt Beachtung erfahren, insbesondere als Komplikation intraartikulärer In- jektionen und Punktionen (2). Durch unterschiedliche Studien wurde die Komplikationsrate, das heißt Empy- eme pro Injektion, ermittelt (1).
Zahlenmaterial über Kniegelenkem- pyeme nach operativen Eingriffen findet sich vergleichsweise selten, da vielfach die funktionellen Ergebnisse vorrangig abgehandelt werden. Auch der Anteil der nach gelenkeröffnen- dem Trauma oder hämatogen ent- standenen Empyeme ist aus der Lite- ratur kaum bestimmbar.
Die Diskrepanz zwischen angeb- licher Seltenheit des Kniegelenkem- pyems einerseits und der Anzahl der in der Orthopädischen Klinik der Medizinischen Universität zu Lübeck behandelten Empyeme andererseits war Anlaß dieser retrospektiven multizentrischen Studie. Die verglei- chende Betrachtung aller Ursachen unter Einbeziehung verschiedenster Parameter sowie eine Vorstellung
Kniegelenkempyeme als Kompli- kation intraartikulärer Injektionen und Punktionen können nicht als seltenes Ereignis quasi ignoriert werden. Das zeigt die Erhebung aus allen chirurgischen und or- thopädischen Kliniken in Schles- wig-Holstein, Hamburg und dem Regierungsbezirk Kassel aus den Jahren 1983 bis 1985 mit dem Hauptkriterium des eitrigen Gelenkpunktates mit Keimnach- weis. Häufigster Erreger war Sta- phylococcus aureus.
von der absoluten Häufigkeit des Kniegelenkempyems wurde möglich.
Material und Methodik
Der Erhebungsraum umfaßte al- le chirurgischen und orthopädischen Kliniken in Schleswig-Holstein, Hamburg und als Referenzraum im Regierungsbezirk Kassel insgesamt 131 Kliniken Für die Datensamm- lung mit einem standardisierten Er- hebungsbogen (Abbildung 1) wurden Kniegelenkempyem-Erkrankungsfäl- le aus den Jahren 1983, 1984 und 1985 berücksichtigt. Hauptkriterium war der Nachweis eines eitrigen Ge- lenkpunktates mit Keimnachweis.
Ergebnisse
An der Studie nahmen 105 der 131 Kliniken teil, entsprechend einer Mitarbeitsquote von achtzig Prozent.
Von den teilnehmenden Kliniken Klinik für Orthopädie
(Direktor: Prof. Dr. med. Joachim Henßge) Medizinische Universität zu Lübeck
teilten 53 vorab mit, im Untersu- chungszeitraum keine Empyeme be- handelt zu haben, in 52 Kliniken wurde die Erhebung durchgeführt.
In letzteren wurden im Untersu- chungszeitraum 150 Patienten mit Kniegelenkempyem behandelt. Im Jahresdurchschnitt erkrankten 50 Patienten. Es errechnet sich eine Morbidität von 1,16 pro Jahr pro 100 000 Menschen, entsprechend jährlich mindestens tausend Neuer- krankungen an Kniegelenkempy- emen in der Bundesrepublik Deutschland.
Von den genannten 150 Erkran- kungsfällen konnten 137 ausgewertet werden, bei den übrigen war die Do- kumentation in den Krankenakten unzureichend. Diese 137 Fälle sind in den folgenden Darstellungen be- rücksichtigt.
Die Verteilung des Patientenal- ters (Abbildung 2) zeigt, daß bei Er- krankungsbeginn annähernd drei Viertel der Patienten über vierzig Jahre alt waren. Das Geschlechter- verhältnis betrug männlich zu weib- lich 1,9:1. Die Manifestationsdauer (Zeitraum zwischen wahrscheinli- cher Keiminokulation und Empyem- feststellung) ist aus Abbildung 3 zu ersehen. Während eines stationären Krankenhausaufenthaltes trat annä- hernd die Hälfte der Erkrankungs- fälle auf. Zweithäufigster Entste- hungsort war die Praxis des nieder- gelassenen Arztes (Abbildung 4).
Mit insgesamt 54 Fällen meistge- nannte Ursache eines Kniegelenk- empyems waren die intraartikulären Injektionen (n = 30) und Punktionen ohne Einbringen von Medikamenten (n = 24) (Abbildung 5). 61 Prozent der intraartikulären Injektionsbe- handlungen und Punktionen wurden in der Praxis des niedergelassenen Arztes durchgeführt. Dieser injizier- A1-2634 (54) Dt. Ärztebl. 89, Heft 31/32, 3. August 1992
Erhebungsbogen: Kniegelenkempyem-Studie
1. Laufende Nummer 2. Patientenkennziffer 3. Krankenhausbettenzahl 4. Pat.: Initialen Vor-/Nachname 5. Pat.: Geschlecht m = 1, w = 2
Alter bei Aufnahme
6. Wahrscheinliches Intervall zwischen Setzen der Infektion und Erregernachweis
7. Ort der Infektion: Krankenhaus, ambulant Krankenhaus, stationär Praxis
andere unbekannt
I I I I 1
5
7
10
8. Ursache: Trauma mit Gelenkeröffnung post-op (incl. Arthroskop.) intraart. Injektion/Punktion hämatogen
9. Bei i.a. Injektion verwendete Medikamente:
Knorpeltherapeutikum Kortikoid
andere/unbekannt 10. Nachgewiesene Erreger:
E. coli H. influenzae Pneumokokken Pseudomonas Staph. aureus Staph. epidermidis Streptokokken Proteus andere
11. Dauer der stationären Behandlung:
Jahr/Tage
19 20 23
12. Bemerkungen: ja
.1
=2 1-1
=3 15
24
n-- 12
_
=3 1 13
=4
=5
.1 n
=2 U .3 14
=4
=1 Ei ü
=6
= 7 18
=8
=9
23
22 23 13
Manifestationsdauer [Tage]
> 21 Tage bis 21 Tage bis 14 Tage bis 7 Tage
0 10 20 30 40
Zahl der Empyeme [n]
Patientenalter [Jahre]
> 80
< 80
< 70
< 60
< 50
< 40
< 30
< 20
5 10 15 20 25
30
Anzahl der Patienten [n]
Abbildung 1 (links): Erhebungsbogen für die Kniegelenkempyem- Studie
Abbildung 2 (oben rechts): Altersverteilung des Patientengutes Abbildung 3 (unten rechts): Manifestationsdauer des Kniegelenk- empyems
te in drei und punktierte in einem Viertel der Behandlungen. Im Kran- kenhaus wurde hauptsächlich punk- tiert; nur drei Empyeme lassen sich hier auf vorangegangene intraartiku- läre Injektionsbehandlungen zurück- führen.
Im Ursachenkomplex stehen die postoperativ aufgetretenen Kniege- lenkempyeme an zweiter Stelle. Un- terschiedlichste Operationen wur- den genannt, unter anderem allo- arthroplastische Eingriffe, Bander- satzoperationen, Patellaosteosynthe- sen. Annähernd gleich häufig erwie- sen sich ein Trauma mit Gelenk-
eröffnung und die hämatogene Pa- thogenese, die zusammen weniger als ein Fünftel aller Kniegelenkem- pyemerkrankungen bedingten.
Kniegelenkempyeme nach ge- lenkeröffnendem Trauma traten überwiegend bei jüngeren Patienten auf, postoperative Empyeme zu ei- nem Drittel innerhalb der ersten vier Lebensdekaden, wo sie fast die Hälf- te aller Erkrankungsfälle ausmach- ten. In letztgenanntem Zeitraum entstanden im Gegensatz dazu nur vier Empyeme im Ursachenkomplex Injektion/Punktion. Dieser machte im siebten Lebensjahrzehnt drei
Viertel aller Empyeme beziehungs- weise ein Drittel der Empyeme nach Injektion/Punktion aus. Die hämato- gene Empyementstehung betraf überwiegend die Gruppen der unter zwanzig und über achtzig Jahre alten Patienten.
Das Spektrum der nachgewiese- nen Erreger (Abbildung 6) zeigte als meistgenannten Primärkeim Staphy- lococcus aureus, gefolgt von Staphy- lococcus epidermidis. Pseudomonas wurde überwiegend als superinfizie- render Keim nachgewiesen. Strepto- kokken und Escherichia coli wurden seltener isoliert — als Primärkeim A1-2636 (56) Dt. Ärztebl. 89, Heft 31/32, 3. August 1992
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26 Erreger nach ICD-Schlüssel
E.coli H.influenzae Pneumokokken Pseudomonas Staph.aureus Staph.epidermidis Streptokokken Proteus andere keine Dokumentation
0 20 40 60 80
Anzahl der Nennungen [n]
Ursachen Trauma mit Gelenkeröffnung post op La. Injektion Punktion hämatogen
3
67 49
54
keine Dokumentation 12 12
0 10 20 30 40 50 60 70 80 Zahl der Empyeme [n]
0 10 20 30 40 50 60
Zahl der Empyeme [n]
0 10 20 30 40 50
Anzahl der Patienten [n]
Abbildung 4 (oben links): Infektionsorte, an denen Kniegelenkempy- eme entstehen
Abbildung 5 (oben rechts): Häufigkeit der Ursachen für die Entste- hung von Kniegelenkempyemen
Abbildung 6 (unten links): Erregerspektrum bei der Entstehung von Kniegelenkempyemen
Abbildung 7 (unten rechts): Dauer des stationären Aufenthaltes bei Kniegelenkempyem
Aufenthaltsdauer [Tage]
> 120 Tage bis 120 Tage bis 90 Tage bis 60 Tage bis 30 Tage Infektionsort
Krankenhaus ambulant Krankenhaus stationär Praxis andere unbekannt
bei hämatogen entstandenem Knie- gelenkempyem sowie bei Superin- fektion.
Die für die Erstbehandlung ei- nes Kniegelenkempyems notwendige stationäre Behandlungsdauer (siehe Abbildung 7) zeigte unabhängig von der Ursache des Kniegelenkempy- ems, jedoch mit steigendem Lebens- alter des Patienten eine zunehmende Tendenz. Zwei Todesfälle sind im Untersuchungszeitraum als Empy- emfolge dokumentiert.
Schlußfolgerungen
In der Bundesrepublik Deutsch- land treten pro Jahr mehr als tau- send Neuerkrankungen des Kniege- lenkempyems auf (Morbiditätsrate von 1.16). Ein nicht unerheblicher
Teil aller Kniegelenkempyeme ließe sich vermeiden, wenn berücksichtigt wird, daß jeder Eingriff am Kniege- lenk strengster Indikationsstellung und peinlich sorgfältiger Beachtung aseptischer Kautelen bedarf. Insbe- sondere gilt dies für die intraartiku lären Injektionsbehandlungen, deren therapeutischer Nutzen oftmals frag- würdig ist bei erwiesenem hohen Ri- siko des Auftretens eines Kniege- lenkempyems.
Ist im Einzelfall eine intraartiku- läre Injektion indiziert, darf diese ausschließlich unter den aseptischen Bedingungen eines Operationssaales (sterile Wäsche, Mundschutz, sterile Handschuhe, entsprechende Vorbe- reitung des Punktionsareales) vorge- nommen werden. Die alte Forde- rung von Maurer (1969) bleibt somit weiter aktuell.
Dt. Ärztebl. 89 (1992) A 1 -2636-2637 [Heft 31/32]
Literatur
1. Bernau, A.; Köpcke, W.: Feldstudie intraarti- kuläre Injektionen. Resultate — Praxis — Konsequenzen. Orthop. Praxis 5 (1987) 364 — 385
2. Maurer, G.: Cortisonanwendung in der klei- nen Chirurgie. Hefte Unfallheilkd. 99 (1969) 122 —128
Anschrift für die Verfasser:
Prof. Dr. med.
Ernst Joachim Henßge
Direktor der Klinik für Orthopädie Medizinische Universität zu Lübeck Ratzeburger Allee 160
W-2400 Lübeck 1
Dt. Ärztebl. 89, Heft 31/32, 3. August 1992 (57) A1-2637