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Archiv "Selbstbeschädigung – eine rechtsmedizinische Betrachtung" (06.10.2006)

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S

elbstverletzungen als Akt einer gezielt einge- setzten Täuschung zur Entziehung vom Wehr- dienst im römischen Heer wurden schon im zweiten Jahrhundert nach Christi beschrieben (1). In den letz- ten Jahrzehnten ist das Phänomen verstärkt in den Blick der Öffentlichkeit gerückt, insbesondere seit- dem bei fingierten „rassistischen“ Überfällen Hautrit- zungen in Form des Hakenkreuzes relativ häufig be- obachtet wurden (2). Im Kontext zeitgemäßer Be- trachtung ist die Selbstverletzung Ausdruck einer psy- chopathologischen Störung, die entweder bereits sui generis von Krankheitswert ist oder aber in ihren Ma- nifestationen ärztlich behandelt werden muss. Gerade für diese Patientengruppe ist neben der Empathie aber eine professionelle diagnostische Objektivität des Arztes notwendig, der auch um die Inzidenz und die Motivation von in Täuschungsabsicht beigebrachten Verletzungen weiß.

Seit mehreren Jahren ist eine zunehmende Inter- netpräsenz der Thematik „Selbstverletzung“ (über 15 000 Einträge) zu beobachten. Dass es sich dabei meist um eine sehr einseitige Sicht des komplexen Geschehens, vor allem auch des Hintergrundes, han- delt, kann nicht verwundern. In den anonymen Ge- sprächsforen wird der erhebliche Leidensdruck deut- lich, dem die Betroffenen ausgesetzt sind.

Die Selbstbeschädigung beschreibt eine selbst zu- gefügte körperliche Verletzung ohne suizidale Ab- sicht. Verlässliche statistische Angaben über die Häu- figkeit fehlen für Deutschland (3). In der angloameri- kanischen Literatur wird eine Prävalenz von 0,6 bis 0,8 Prozent der Bevölkerung angegeben, wobei die Gruppe der 15- bis 35-Jährigen überrepräsentiert ist.

Frauen sind zwei- bis fünfmal häufiger als Männer be- troffen (4).

Erst recht fehlt es an zuverlässigen Zahlen über die tatsächliche Relation zielgerichteter, zweckgebunde- ner Selbstverletzungen (zum Beispiel in Täuschungs- absicht gegenüber Behörden, Eltern, Intimpartnern) einerseits und offenem oder heimlichem autodestruk- tiven Verhalten auf psychopathologischer Grundlage andererseits. Es gibt Überschneidungen und fließende Übergänge in die eine wie die andere Richtung, also eine „Grauzone“. Dies kann die diagnostische Ent- scheidung im Einzelfall erschweren oder unmöglich machen. Unbestritten ist es die rechtsmedizinische Expertise, die hier gefragt ist (3, 4).

Aus Publikationen rechtsmedizinischer Univer- sitätsinstitute (2, 4, 5, 6, 7) kann man ersehen, dass die Inanspruchnahme und Erfahrungen mit der erwähnten

Selbstbeschädigung – eine

rechtsmedizinische Betrachtung

Steffen Heide, Manfred Kleiber

ZUSAMMENFASSUNG

Einleitung: Selbstbeschädigung beschreibt eine selbst zu- gefügte körperliche Verletzung ohne suizidale Absicht. Bei einem vielfältigen Spektrum von Motivationen lassen sich psychische, rechtliche und materielle Ursachen unter- scheiden. Methode: Übersichtsartikel über Selbstbeschä- digung auf der Basis einer selektiven Literaturaufarbei- tung der Autoren. Ergebnisse: Verlässliche statistische An- gaben über die Häufigkeit von Selbstverletzungen, die von Ritzverletzungen bis zu Gliedmaßenamputationen reichen, fehlen für Deutschland. Aus Publikationen rechtsmedizini- scher Institute kann man jedoch ersehen, dass es peri- odisch zeitliche Häufungen gibt wie Nachahmungshand- lungen infolge von Medienveröffentlichungen. Die Begutachtung von vorsätzlichen Selbstverstümmelungen zum Zwecke des Versicherungsbetruges erfordert oftmals eine umfangreiche rechtsmedizinische Rekonstruktion.

Diskussion: Selbstbeigebrachte Verletzungen zeichnen sich häufig durch typische Merkmale aus und sind da- durch von einer Fremdbeibringung abgrenzbar. Je früher eine Selbstverletzung als solche erkannt wird, umso eher kann ärztliche Hilfe greifen und mögliche strafrechtliche Konsequenzen können vermieden werden.

Dtsch Arztebl 2006; 103(40): A 2627–33.

Schlüsselwörter: Selbstbeschädigung, Selbstverstümme- lung, rechtsmedizinische Begutachtung, Vortäuschung ei- ner Straftat, Versicherungsbetrug

SUMMARY

SELF-INFLICTED INJURIES – A FORENSIC MEDICAL PERSPECTIVE

Introduction: Deliberate self harm (DSH) is the term for self inflicted physical injury without suicidal intent. Among plethora of motivations, it is possible to distinguish between psychological, legal and material causes. Methods: Selec- tive literature review and dicsussion. Results: Reliable inci- dence data on deliberate self harm, which ranges from cut- ting to limb amputation, are lacking in Germany. However, data emerging from academic departments of forensic me- dicine suggest that periodic clusters of so-called "copycat"

DSH episodes arise, in response to episodes of self harm publicized in the media. Discussion: Self-inflicted injuries show characteristic features which can be used to distin- guish them from injuries inflicted by third parties. The soo- ner self harm is recognized as such, the sooner medical help can be offered and possible judicial consequences avoided. Dtsch Arztebl 2006; 103(40): A 2627–33.

Key words: self-inflicted injuries, self-mutilation, forensic medical reports, simulation of a criminal offence, insurance fraud

Institut für Rechtsme- dizin, Martin-Luther- Universität Halle- Wittenberg (Dr. med.

Heide, Prof. Dr. med.

habil. Kleiber)

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„Grauzone“ regional ganz unterschiedlich sind und dass es periodisch zeitliche Häufungen gibt wie Nach- ahmungshandlungen infolge von Medienveröffentli- chungen. Dies macht die Abschätzung eines zweifel- los existierenden Dunkelziffer, was die strafrechtliche Seite des Problems anbetrifft, von vornherein unmög- lich.

Die Motivationen für Selbstbeschädigungen sind ausgesprochen vielfältig (Grafik), oft findet sich auch eine multifaktorielle Genese. Das Verletzungsmuster weist eine große Bandbreite auf, die von Ritzverlet- zungen bis hin zu Amputationen von Gliedmaßen reicht.

Nach Sachsse (8) stellt selbstverletzendes Verhal- ten als klinisches Phänomen ein Extrem menschlichen Normalverhaltens dar. Ansätze dazu weist zum Bei-

spiel mit Fingernagelkauen oder Auszupfen von Haa- ren nahezu jeder auf. Ob in übertriebener Selbst- (über)forderung im Sport oder bei der Arbeit bereits der Ansatz von „self-injurious behavior“ zu sehen ist (4, 8), dürfte umstritten bleiben.

Es ist zu unterscheiden zwischen offenen Selbst- verletzungen, ohne Versuch die eigene Urheberschaft zu verbergen, und heimlichen autodestruktiven Ver- haltensweisen. Je nach Ursache oder Motiv der Selbstbeschädigung finden sich teilweise charakteri- stische Verletzungsarten (3, 4, 9).

Mit den medizinischen Aspekten von selbstbeige- brachten Verletzungen beschäftigen sich mehrere Fachdisziplinen; auch der Allgemeinmediziner wird mit dieser Problematik konfrontiert. Dabei ergeben sich ganz unterschiedliche Schwerpunkte. Für den GRAFIK

Motive beziehungsweise

Ursachen von Selbst- beschädigungen

(3)

Rechtsmediziner steht die Differenzierung zwischen Eigen- und Fremdbeibringung im Vordergrund. Die vorliegende Übersichtsarbeit zur Selbstbeschädigung aus rechtsmedizinischer Sicht basiert auf den prakti- schen Erfahrungen der Autoren und einer Recherche der aktuellen Literatur.

Dabei sollen charakteristische Verletzungsmuster aufgezeigt werden, die den praktischen tätigen Arzt veranlassen, auch an die Möglichkeit der Selbstbei- bringung und entsprechende Konsequenzen zu den- ken.

Selbstverletzungen zur Erlangung eines psychischen Gewinns

Relativ häufig findet sich selbstverletzendes Verhal- ten als Symptom psychiatrischer Erkrankungen oder Störungen. Ein psychischer Gewinn kann auch in der Erlangung von Mitgefühl, Aufmerksamkeit, sexuel- lem Lustgewinn, Befriedigung von Rachegelüsten oder Bewunderung und Anerkennung bestehen.

Mehr als bei anderen psychiatrischen Patienten mit Selbstbeschädigungen zeigt sich bei der emotional in- stabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Ty- pus ein homogenes Muster (10). Das Leitsymptom ist die offene Selbstverletzung der Haut mit zahlreichen parallel verlaufenden, meist oberflächlichen Schnitt- oder Ritzverletzungen (Abbildung 1) an weniger schmerzempfindlichen Arealen. Mitunter finden sich auch Hautverbrennungen durch Zigaretten. Nach Sachsse (11) sind die psychodynamischen Funktionen von selbstverletzendem Verhalten insbesondere bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung vielfältig. Ei- nerseits erfüllt es dabei intrapersonale Funktionen (Wirkung als globales Druckventil und Tranquilizer bei Spannungszuständen, aber auch Einsatz als Ant- idepressivum oder zur Selbstbestrafung). Anderer- seits werden durch selbstverletzendes Verhalten inter- personelle Funktionen wie der Einsatz als intensiver averbaler Appell oder als Flucht vor sozialer Überfor- derung wahrgenommen.

Selbstbeschädigungen finden sich auch bei histrio- nischen, dissozialen oder paranoiden Persönlichkeits- störungen, jedoch deutlich seltener als bei Borderline- Patienten (10). Bei neurotischen Patienten sieht man am häufigsten Hautläsionen durch Kratzen, Reiben oder Beißen. Dagegen treten schwere Autoaggressio- nen eher bei Schizophrenien, affektiven Psychosen, Oligophrenien und hirnorganischen Prozessen auf.

Insbesondere bei paranoid-halluzinatorischen Schizo- phrenien kann es zu teilweise bizarren Verletzungen vor allem durch scharfe Gewalt kommen. Das Spek- trum reicht bis zur Selbstkastration und der Amputati- on von Gliedmaßenteilen (12).

Die artifizielle Störung ist gekennzeichnet durch Vortäuschung, Aggravation und/oder absichtliche Er- zeugung von Krankheitssymptomen. Bekannt sind die Beibringung von Schnitt-, Kratz- oder Schürfwunden, das Einspritzen von infiziertem Material oder toxi- schen Substanzen oder die Wiedereröffnung von Ope- rationswunden (13).

Bei ständig neuen Hospitalisationen werden oft umfangreiche diagnostische und therapeutische Ein- griffe durchgeführt. Im Verlauf der Erkrankung kommt es dann zu bleibenden Schäden, bis hin zu re- gelrechten „Verstümmelungen“. Eine Untergruppe der artifiziellen Störung bildet das Münchhausen- Syndrom mit detaillierter Vorgeschichte erfundener Ereignisse (Pseudologia phantastica), bizarrer Sym- ptomatik und zahlreichen Krankenhausaufenthalten („hospital hoppers“).

Abbildung 1:

Zahlreiche, unter- schiedlich alte Schnitt- und Ritz- verletzungen am Arm einer verstor- benen Borderline- Patientin (Todes- ursache: suizidale Carbamazepin- intoxikation)

Abbildung 2:

47 Einzelritzungen auf dem Bauch ei- nes 38 Jahre alten Mannes nach „ras- sistischem Überfall“

(Selbstverletzung zur Rechtfertigung eines Seiten- sprungs)

(4)

Ob soziokulturellen Modeströmungen entspringen- de Eingriffe, wie Tätowierungen und Piercing, als Normvariante menschlichen Verhaltens oder als Selbst- beschädigung angesehen werden, hängt von der per- sönlichen Perspektive ab.

Als Steigerung aufzufassen ist das Zufügen von Brandwunden („branding“) oder Schnittverletzungen („cutting“), die zu gewollten Narbenmustern führen.

Als „body modification“ werden auch an der Körper- oberfläche sichtbare Implantationen von Nadeln oder größeren Metallgegenständen sowie Zungenspaltun- gen bezeichnet (14).

Selbstverletzungen zur Erlangung eines rechtlichen Vorteils

Selbstverletzungen zur Vortäuschung einer Straftat sind überwiegend Schnitt- und Ritzverletzungen, die häufig typische Charakteristika aufweisen. In den meisten Fällen handelt es sich um Mädchen oder jün- gere Frauen, gelegentlich aber auch um jüngere Män- ner.

Die Überfallschilderungen sind relativ uniform, wohingegen die Motive ganz unterschiedlich sein können. Manchmal ist es der Wunsch, öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen und Zuwendung zu erfah- ren. Auch die Rechtfertigung unerlaubter Abwesen- heit oder zu späten Nachhausekommens spielt eine Rolle (Abbildung 2). Die besondere Problematik die- ser Fallgruppe liegt darin, dass mit der zweckgebun- denen Betrugshandlung automatisch (gewollt oder

ungewollt) ein polizeilicher Ermittlungsapparat in Bewegung gesetzt wird, der sich im Einzelfall zur La- wine entwickeln und den Urheber regelrecht überrol- len kann.

Die Vortäuschung politisch oder fremdenfeindlich motivierter Straftaten hat zum Ziel, den angestrebten eigenen Vorteilsgewinn (Appellfunktion) zu optimie- ren, zum Beispiel indem – als besonderer Tabubruch – das Hakenkreuzsymbol oder SS-Runen in die Haut eingeritzt werden. Bekannt sind auch Selbstverletzun- gen zur Belastung von Polizeibeamten, von Aufsichts- personal und von Lehrern, zur Verschleierung von Suizidversuchen und zur Verdeckung eines eigenen Fehlverhaltens (zum Beispiel Einbruch oder Unter- schlagung) (15). Als strafrechtliche Konsequenzen kommen die Vortäuschung einer Straftat (§ 145 Strafgesetzbuch) und bei Angabe einer konkreten Per- son falsche Verdächtigung (§ 164) oder Verleumdung (§ 187) in Betracht.

Genaue Angaben über die Häufigkeit derartiger Selbstverletzungen zur Erlangung eines rechtlichen Vorteils liegen nicht vor. Im Jahr 2004 wurden laut Statistik des Bundeskriminalamtes 13 696 Fälle von

„Vortäuschung einer Straftat“ erfasst. Darunter fallen jedoch auch andere Straftagen, wie zum Beispiel Vor- täuschung von Diebstählen. Während Artefakt-Pati- enten bis zu zwei Prozent des klinischen Krankenkol- lektivs in Hautkliniken ausmachen können (16), sind die hier angesprochenen Fälle, wie die Vortäuschung fremdenfeindlich motivierter Straftaten vergleichs- weise selten, oft jedoch überregional öffentlichkeits- wirksam.

Selbstverletzungen zur Erlangung eines materiellen Gewinns

Insbesondere Untersuchungshäftlinge neigen zu selbst beschädigendem Verhalten. Im Vordergrund stehen Nahrungsverweigerung, Schnittverletzungen, Intoxikationen, aber auch das Verschlucken von Fremdkörpern wie Essbesteckteile. Neben einem ap- pellativen Charakter als Demonstration der vermeint- lichen Unschuld kommen Fluchtabsichten, Erleichte- rung der Haftbedingungen oder Verlegungswünsche als Motiv in Betracht.

Selbstverletzungen zum Vermeiden des Wehrdien- stes haben früher eine Rolle gespielt. So sind selbst beigebrachte Schussverletzungen durch Kommissbro- te hindurch (zur Verdeckung der Nahschusszeichen), das Zufügen von Fingerverletzungen, das Essen ver- dorbener Nahrung und das Setzen von Schmierinfek- tionen bekannt geworden (17).

Bei Selbstbeschädigungen zum Zwecke des Versi- cherungsbetruges handelt es sich am häufigsten um Autoamputationen von einem oder zwei Fingern (zu- meist Daumen oder Zeigefinger der Nicht-Arbeits- hand), seltener einer ganzen Hand mit scharfen Werk- zeugen (18). Gelegentlich kommen auch Pressen, Hämmer etc. zum Einsatz (19). Überwiegend sind Männer betroffen, zumeist „passiert der Unfall“ im Privatbereich und ohne Zeugen. Der Versicherungs- Abbildung 3:

Rekonstruktion einer Selbstbeschä- digung zum Versi- cherungsbetrug:

deutliche Diskre- panz zwischen der behaupteten Position der Axt und dem Verlauf der Amputationslinie durch den ersten Mittelhandknochen

(5)

vertrag läuft in 90 Prozent der Fälle kürzer als ein hal- bes Jahr. Etwa 75 Prozent der Täter haben mehr als eine Versicherung, oft mit auffällig hohen Gliederta- xen, abgeschlossen (20). Exakte Angaben für die Häu- figkeit derartiger Betrugsdelikte fehlen. Bei seiner zurückhaltenden Schätzung für den norddeutschen Raum geht Gerlach (21) von mindestens 200 Fällen traumatischer Gliedmaßenamputationen im Verlauf von zehn Jahren aus. Innerhalb der in der polizeili- chen Kriminalstatistik erfassten 11 743 Fälle von Ver- sicherungsbetrug (2004) erfolgt keine differenzierte Erfassung von Selbstbeschädigungen. Ausführliche Darstellungen zu Selbstbeschädigungen als Versiche- rungsbetrug finden sich unter anderem bei Dotzauer (22), Bonte (18), Püschel (23) oder Möllhof (17).

Bei Begutachtung fraglicher Selbstverstümmelun- gen müssen alle verfügbaren Informationsquellen ge- nutzt werden wie Fotos, Röntgenbilder, Operations- bericht und körperliche Untersuchung (19). Es sollte eine ausführliche Befunddokumentation mit der An- fertigung von Fotografien erfolgen, dabei sollten un- terschiedliche Blickwinkel dokumentiert werden (17). An der Verletzung und am Amputat muss auf die Beschaffenheit der Absetzungsränder, den Verlauf der Amputationslinie und die Begleitverletzungen

geachtet werden (22). Eventuelle Injektionsspuren können auf eine vorausgegangene Lokalanästhesie hinweisen, gegebenenfalls ist eine chemisch-toxiko- logische Untersuchung erforderlich. Vom Geschädig- ten muss eine präzise Schilderung des behaupteten Unfallablaufs erfragt werden. Bei Vorsatztaten treten zumeist erhebliche Diskrepanzen zu den objektiven Befunden auf. Eine Ortsbesichtigung mit Inaugen- scheinnahme von Werkzeug und Werkstoff (Blutan- tragungen, Schutzvorrichtungen etc.) kann für die Er- eignisrekonstruktion (Körperposition, Handhaltung) erforderlich sein. In Abbildung 3 sieht man die deut- liche Diskrepanz zwischen der angegebenen Position der Axt und dem Verlauf der Amputationslinie durch den ersten Mittelhandknochen bei der Rekonstrukti- on eines „Unfalls“ mit Abtrennung des linken Dau- mens.

Bei Beilhiebverletzungen kommt es in der Mehr- zahl der realen Unfälle zu Begleitverletzungen der be- nachbarten Finger, während eine isolierte, vollständi- ge und proximale Abtrennung des Zeigefingers auf ei- ne Selbstbeschädigung hinweist (23). Bei akzidentel- ler Entstehung ist der Absetzungsrand (Begrenzung der Durchtrennung) meist irregulär beschaffen und der Verlauf der Verletzung eher schräg, während bei TABELLE

Charakteristische Merkmale selbst- und fremdbeigebrachter Verletzungen

Merkmal Fremdbeibringung Selbstbeibringung

Art der Verletzung überwiegend Stiche, fast nur Schnitt-, Ritz- oder Kraftverletzungen einige Schnittverletzungen

Anzahl der Einzelverletzungen große Anzahl selten auffällig häufig große Anzahl

Lokalisation alle Körperregionen leicht erreichbare und unbekleidete Stellen bevorzugt (z. B. Gliedmaßen, Wangen, Stirn, Rumpfvorderseite);

empfindliche Stellen ausgespart (z. B. Lippen, Brust- warzen); Rücken, schwer erreichbare Stellen kaum betroffen; Betonung der der Arbeitshand gegenüber- liegenden Seite

Anordnung regellos häufig gruppiert; scharenweise parallel,

gereiht; symmetrisch

Form und Gestaltung der meist kurze Verläufe, auch unstetige oft lange, stetige, nur schwach gekrümmte Formen;

Einzelverletzung und stark gekrümmte Formen; auch geometrische Formen, Symbole,

keine Gestaltung Buchstaben und Wörter

Intensität der Einzelverletzung stark variierend, oft tief reichend immer oberflächlich; auffallend gleichmäßige Verletzungstiefe (auch an gewölbten Oberflächen) Feinstruktur der kaum Feinstruktur Verzweigungen und akkurate Neuansätze bei

Einzelverletzung Strichverlängerung

Gesamtverletzungsschwere meist (sehr) schwer durchweg leicht oder sehr leicht

Abwehrverletzungen häufig, meist tief reichend; vor allem fehlend oder untypische, oberflächliche Schnitte an Hohlhand, Fingerbeugeseiten und an Fingern, Hand und Unterarm

Kleinfingerseite des Unterarmes

Bekleidung adäquat und lagegerecht einbezogen; meist nicht einbezogen oder mangelnde zahlreiche Kampfspuren Kongruenz zu Verletzungen

Begleitverletzungen häufig nur vereinzelt

anderer Art

Hinweis auf Wiederholungstat selten häufig lineare Narben unterschiedlichen Alters (Narbenbilder)

modifiziert nach 7, 15, 25

(6)

einer Selbstverstümmelung der Rand relativ scharf und der Absetzungswinkel häufig rechtwinklig gestal- tet ist.

So genannte Probierverletzungen neben der eigent- lichen Amputationswunde sind ein wichtiges Kriteri- um für die beabsichtigte Abtrennung des Fingers (22).

Neben den Auffälligkeiten im Versicherungsvertrag können das Fehlen von Zeugen oder nachträgliche Zeugenbeeinflussung, das unerklärliche Verschwin- den des Amputats, die schnelle Säuberung des „Un- fallortes“ und falsche Angaben zur Links- oder Rechtshändigkeit auf eine Vorsatztat hinweisen (18, 22).

Dass eigene ethische und moralische Normen bei der Akutversorgung von Patienten mit selbstbeschädi- gendem Verhalten keine Rolle spielen dürfen, steht außer jedem Zweifel. Die schonungslose Offenlegung selbstverletzenden Verhaltens mit betrügerischer Ab- sicht, die dann weitreichende Folgen nach sich zieht, ist ganz gewiss nicht primäre ärztliche Pflicht, in der Rolle des Sachverständigen kann sich der Arzt dem aber nicht entziehen. Sie ist auch nicht in jedem Fall einer Rechtsgüterabwägung (§ 34 Strafgesetzbuch) zugänglich. Letzten Endes bleibt es – wie manche an- dere Entscheidung im ärztlichen Beruf – eine höchst- persönliche Gewissensentscheidung.

Differenzialdiagnose

Die ärztliche Untersuchung von Gewaltopfern muss möglichst zeitnah erfolgen, insbesondere im Hinblick auf die Sicherung biologischer Spuren. Die Hinzuzie- hung eines Rechtsmediziners kann außer durch die Polizei auch über die kollegiale Konsultation, über den Kontakt zu Opferschutzorganisationen oder an- waltliche Hilfe erfolgen.

Bei der verantwortungsvollen Aufgabe der Unter- suchung von Gewaltopfern ist es unabdingbar, dass auch an die Möglichkeit der Selbstbeibringung ge- dacht wird. Die notwendige ärztliche Objektivität darf

bei aller Empathie für das mutmaßliche Opfer nicht außer Acht gelassen werden. Wird eine Selbstbeschä- digung nicht als solche erkannt, so kann dies zur Fort- setzung oder zur Verstärkung des selbstverletzenden Verhaltens führen und den Weg für angemessene Hilfsmaßnahmen im Hinblick auf die psychische Aus- gangssituation verbauen (16).

Die rechtsmedizinische Untersuchung erfolgt im Hinblick auf den gesamten Körper, da auch Bagatell- verletzungen eine erhebliche Bedeutung für die Ge- samtbeurteilung erlangen können. Die Verletzungen müssen hinsichtlich Art, Größe, Lokalisation und Far- be exakt beschrieben und mit Maßstab in Übersichts- und Detailaufnahmen fotodokumentiert werden. Ge- gebenenfalls ist eine Blut- und/oder Urinprobe er- forderlich, wenn sich Hinweise auf eine Beeinflus- sung durch Alkohol, Drogen oder Medikamente erge- ben.

Wesentliche Kriterien für die Differenzierung zwi- schen Selbst- und Fremdverletzung sind Intensität, Lokalisation, Flächendeckung, Struktur und Gesamt- verletzungsschwere (Tabelle).

Mitunter finden sich bei der rechtsmedizinischen Begutachtung nahezu alle Kriterien, die pathognomo- nisch für eine Selbstbeibringung sind (24). Zum Bei- spiel sieht man in Abbildung 4 (angeblicher Überfall von Skinheads auf eine Rollstuhlfahrerin) circa 30 Einzelschnittführungen unter anderem mit gleich- mäßigem Verlauf, gerader Linienführung, Oberfläch- lichkeit, Parallelität, Vermeiden des Überschneidens der Balken sowie zeichnerisch recht genaue Wieder- gabe des Symbols „Hakenkreuz“.

Die in der Tabelle aufgeführten Charakteristika sind nach rechtsmedizinischer Erfahrung für den kon- kreten Einzelfall kaum jemals ausreichend, wobei aber der Verdacht einer Selbstbeibringung umso näher liegt, je mehr Kriterien zutreffen. Diskrepanzen zwi- schen Tatschilderung und objektiven Befunden kön- nen den Verdacht der Selbstverletzung wesentlich stützen. Hinweise von kriminalistischer Seite liefern der Besitz eines entsprechenden Werkzeuges wie Messer oder Rasierklinge, eventuell mit Blutantra- gungen, aber auch das Vorhandensein oder die Abwe- senheit von Blutspuren am angegebenen Tatort. Gele- gentlich können selbst beigebrachte Verletzungen auch tiefer reichen (zum Beispiel Stichverletzung mit Eröffnung des Peritonealraumes) oder atypisch lokali- siert sein (Stichwunden am Rücken [4]).

Trotz der Vielzahl der aufgezeigten Kriterien und Begleitumstände erlaubt die Problematik der Selbst- beschädigung keine schematische Behandlung oder Erstellung einer Checkliste, die jedem Einzelfall ge- recht wird. Für den praktisch tätigen Arzt ist der erste und wichtigste Schritt auf dem Weg zur Diagnose

„Selbstverletzung“ überhaupt an diese Möglichkeit zu denken.

Beim Verdacht einer Selbstbeschädigung muss der Arzt mit besonderer Sensibilität und entsprechendem Problembewusstsein vorgehen. Die Mitteilung der Diagnose „Selbstbeibringung“ soll zwar schonend Abbildung 4:

Symbol

„Hakenkreuz“ an der linken Wange einer 17-jährigen Gymnasiastin mit typischen Kriterien für eine Selbstbe- schädigung

(7)

und einfühlsam erfolgen, darf jedoch keinen Zweifel offen lassen. Der Patient muss nicht sofort und massiv mit einer entsprechenden Therapienotwendigkeit kon- frontiert werden (16). Vielleicht kann ihm die Mög- lichkeit aufgezeigt werden, das Dilemma einer poli- zeilichen Anzeige ganz zu vermeiden (4). Manchmal wird erst nach einer Latenzphase und wiederholten Angeboten durch den Arzt als Vermittler die psychia- trische oder psychotherapeutische Hilfe akzeptiert.

Ist die Anzeige aber bereits erfolgt oder aufgrund anderer Umstände nicht zu umgehen, so muss der Po- lizei die Verdachtsdiagnose einer Selbstbeibringung frühzeitig mitgeteilt werden, damit keine umfangrei- chen Fahndungsmaßnahmen nach den angeblichen Tätern anlaufen.

Auch wenn eine Selbstverletzung als Ursache der vorgetäuschten Straftat erkannt wird, liegt es im Er- messen des Staatsanwaltes, als Ausnahme vom Lega- litätsprinzip die Strafverfolgung zu beenden. Das Ver- fahren kann wegen geringer Schuld oder mangels öf- fentlichen Interesses (§ 153 Strafprozessordnung), aber auch nach der Erfüllung von Auflagen (§ 153a) von der Staatsanwaltschaft eingestellt oder von einer Bestrafung abgesehen (§ 153b) werden. Ist bereits An- klage erhoben, so hat auch das Gericht bei Zustim- mung der Staatsanwaltschaft noch die Möglichkeit der Einstellung des Verfahrens.

Interessenkonflikt

Die Autoren erklären, dass kein Interessenkonflikt im Sinne der Richtlinien des International Committee of Medical Journal Editors besteht.

Manuskriptdaten

eingereicht: 10. 10. 2005; revidierte Fassung angenommen: 30. 3. 2006

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Anschrift für die Verfasser Dr. med. Steffen Heide Institut für Rechtsmedizin

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Franzosenweg 1

06112 Halle/S.

E-Mail: steffen.heide@medizin.uni-halle.de

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