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Archiv "Gesundheitspolitische Programme der deutschen Ärzteschaft Entstehung und Weiterentwicklung" (26.11.1993)

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AUFSATZE

Gesundheitspolitische Programme der deutschen Ärzteschaft

Entstehung und Weiterentwicklung

Der kommende Deutsche Ärztetag wird sich mit einer gründlich überarbeite- ten Fassung der „Gesundheits- und sozialpolitischen Vorstellungen der deut- schen Ärzteschaft" beschäftigen — nicht zuletzt angesichts des „Superwahl- jahres" 1994. Der folgende Beitrag behandelt die Entstehungsgeschichte sol- cher Programme und gibt einen Ausblick auf die künftige Programmatik.

Karsten Vilmar

D

eutsche Ärztetage haben sich in ihrer jetzt 120jährigen Geschichte immer wieder zu verschiedenen Problemen der Gesundheits- und Sozialpolitik geäußert und konkrete Vorschläge veröffentlicht. Dies ergab sich nahe- zu zwangsläufig aus dem gesellschaft- lichen Umfeld im Jahre 1873. In An- lehnung an die 46. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte wurde damals der 1. Deutsche Ärzte- tag als Versammlung Ärztlicher Ver- eine in Wiesbaden nach der staatli- chen Einigung und der Bildung des Deutschen Reiches nach dem Kriege von 1870/71 abgehalten. In der öf- fentlichen Diskussion spielte der so- genannte „Kulturkampf" — ein von Virchow geprägter Begriff — eine Rolle, der die Auseinandersetzung zwischen kirchlich-religiös geprägten Kräften und Vertretern der exakten Naturwissenschenschaften bezeich- nete. Etwa zur gleichen Zeit tagte im September 1873 in Genf die 1864 ge- gründete „Internationale", deren Se- kretär Karl Marx war.

Zu Sinn und Zweck eines Deut- schen Ärztetages sagte der Initiator, Professor Dr. Eberhard Richter, Dresden, damals: „Nachdem ganz Deutschland zu einem Reichskörper geeinigt ist, müssen die Ärzte eben- falls aus ihrem bisherigen Partikula- rismus ausscheiden und zu einer ein- heitlichen Körperschaft zu gemeinsa- mem Wirken zusammentreten". In heute altertümlich anmutender Spra- che ist dazu im Ärztlichen Vereins- blatt Nr. 3/1872 zu lesen: „Durch un- ser gemeinsames und dem Volk zu-

gute kommendes Wirken, durch un- ser von ärztlicher Ethik geregeltes Benehmen, durch Wahrung unserer Standesehre mit Wort und That, müssen wir uns die Achtung des Pu- blikums und der Behörden erwerben, müssen wir den gegen uns... herr- schenden Vorurtheilen entgegenar- beiten. Durch unsere Leistungen müssen wir zeigen, daß die Ärzte sich nicht ,mausig machen wollen', son- dern daß sie in der That die Träger einer neuen heranreifenden Cultur- stufe sind, und daß sie von einem sitt- lichen Motiv angetrieben werden, in den Gang des moderneren Staatle- bens umgestaltend und hülfespen- dend einzugreifen."

Die Tagesordnung der ersten 50 Deutschen Ärztetage von 1873 bis 1931 enthielt unter anderem Themen wie „Strafgesetzliche Behandlung der Kurpfuscherei" (1874), „Förde- rung der Medizinalstatistik, Vorbe- reitung einer Morbiditätsstatistik"

(1875), „Zur Agitation gegen das Reichsimpfgesetz" (1876) und zum

„Leichenschaugesetz" (1877), zur

„Errichtung von Lehrstühlen für Hy- giene an sämtlichen Deutschen Uni- versitäten" (1877), zur „Neuorganisa- tion der medizinischen Prüfungsord- nung" (1880) und zur „Revision der deutschen Pharmakopoe" (1881) etc.

Weitere Beratungsschwerpunkte wa- ren der „Stand des ärztlichen unter- stützten Krankenhauswesens in Deutschland" (1880), das „Reichs- seuchengesetz" (1883) sowie natür- lich wiederholt die Themen „Kran- kenkassengesetz" und „Krankenver- sicherung", mit denen sich auch die

außerordentlichen Deutschen Ärzte- tage 1910 und 1913 in Berlin sowie 1918 in Eisenach ebenso wie der vor der Zwangspause durch die national- sozialistische Gewaltherrschaft letzte freie 50. Deutsche Ärztetag 1931 in Köln beschäftigte.

In der bald nach dem Zusam- menbruch von 1945 einsetzenden Wiederaufbauphase der ärztlichen Selbstverwaltung wurde 1949 ein

„Gesundheitspolitischer Ausschuß der deutschen Ärzteschaft" gegrün- det, der sich unter anderem mit Fra- gen der vorbeugenden Gesundheits- pflege und der Krankheitsfrüherken- nung befaßte, einem Thema, das spä- ter auf dem 74. Deutschen Ärztetag in Mainz 1971 ausführlich behandelt wurde.

Auf dem Wege zu einem Gesamtkonzept

Trotz der vielen gesundheitspoli- tischen Themen kam es jedoch nie- mals zu einem in sich geschlossenen Gesamtkonzept. Versuche dazu wur- den erst auf dem 75. Deutschen Ärz- tetag 1972 in Westerland unter dem Tagesordnungspunkt „Gesundheits- wesen und ärztliche Berufsausübung

— System, Leistung, Entwicklung"

unternommen Ursache dafür war die infolge der Studentenrevolte von 1968 verstärkt einsetzende Diskussi- on um die nach dem Wiederaufbau immer noch bestehenden Mängel in unserer Gesellschaft vor allem im Vergleich zu den im Grundgesetz formulierten Zielen und Idealen. Ei-

Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 47, 26. November 1993 (31) A1-3123

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ne Fülle von angeblich oder tatsäch- lich bestehenden Mängeln wurden von verschiedenen Organisationen

und "gesellschaftlich relevanten

Gruppen" aufgelistet; beklagt wur- den insbesondere Theoriedefizite und fehlende programmatische Aus- sagen zur Veränderung einer konsum- orientierten Wohlstandsgesellschaft.

Für das Gesundheitswesen wur- de 1971 vom Wirtschaftswissen- schaftlichen (später: Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen) Insti- tut des DGB eine "Studie zur Ge- sundheitssicherung in der Bundesre- publik Deutschland" veröffentlicht.

Mit Blick auf die WHO-Definition der Gesundheit als Zustand körperli- chen, geistigen und sozialen Wohlbe- findens und ergänzt um gesellschaft- liehe Aspekte wurden sowohl eine umfangreiche "Analyse qualitativer und quantitativer Mängel und Lük- ken im gegenwärtigen Gefüge der Gesundheitssicherung" vorgenom- men als auch zahlreiche, teils system- verändernde, ideologisch geprägte Reformvorschläge gemacht. Eine

"Spiegel"-Veröffentlichung mit dem Titel "Das Geschäft mit der Krank- heit" und weitere Angriffe in ver- schiedenen Medien, wie zum Bei- spiel die Behauptung "Weil Du arm bist, mußt Du früher sterben" oder die Bezeichnung der Ärzte als "Beu- telschneider" im "Stern" sowie der Fernsehfilm von Radio Bremen,

"Halbgötter in Weiß", sollten zur Überwindung eines angeblich rück- ständigen Systems beitragen.

Die Reaktion der Ärzteschaft darauf war überwiegend negativ, brachte aber eine breite Diskussion in Gang. Auf dem 75. Deutschen Ärztetag 1972 wurde an die zahlrei- chen Reformanstöße Deutscher Ärz- tetage seit 1948 erinnert, gleichzeitig wurden richtungsweisende "Leitsätze zur Struktur der Krankenhäuser und ihres ärztlichen Dienstes" verab- schiedet. Dazu hatten die von einer außerordentlichen Hauptversamm- lung des Marburger Bundes im April 1971 in Saarbrücken beschlossenen

"Vorschläge zur Reform des Kran-

kenhauswesens" entscheidend beige- tragen.

Systematisch aufgebaute Gegen- argumentation zur WSI-Studie folgte:

e

1972 das Weißbuch "122 The- sen des Hartmannbundes für ein ge- sundheitspolitisches Programm"

e

1973 "Gesundheitspolitische Tagesfragen" vom Berufsverband der Praktischen Ärzte und Ärzte für All- gemeinmedizin (BPA)

e

1973 "Gesundheitssicherung in der Bundesrepublik Deutschland", Programm des NA V

e

1973 "Moderne Kranken- hausstrukturen", Vorschläge der Strukturkommission der Deutschen Krankenhausgesellschaft

Deutschen Ärztetag 1973 vorzule- gen." Dies erfolgte auf dem 76, Deut- schen Ärztetag 1973 in München - zugleich die Jubiläumsveranstaltung ·

"100 Jahre Deutscher Ärztetag". Im Vorwort zu diesem Konzept heißt es, daß der Deutsche Ärztetag bemüht ist, "aus Sicht aller ärztlichen Tätig- keitsbereiche die Aufgaben der Ärz- teschaft im Rahmen der gesamten Gesundheitspolitik der Öffentlich- keit darzulegen. Das große und wachsende Interesse der Öffentlich- keit an den Problemen der sozialen Sicherheit - und dabei besonders am Ausbau des Gesundheitswesens auf dem Gebiet der präventiven wie kurativen Gesundheitspflege - ver- pflichtet die Ärzteschaft, ihre Auffas- sung über eine zeitgerechte Gesund- heits- und Sozialpolitik zu erläutern.

Dabei betrachtet sich der Deutsche Ärztetag als sachverständige Vertre- tung der Gesamtbevölkerung in ge- sundheitlichen Belangen. Dement- sprechend wurden in die Gestaltung der Vorlage die Äußerungen aller großen ärztlichen Gruppen und Ver- bände einbezogen; die Auffassungen .., gesundheits- und sozialpolitisch rele-

l

vanter gesellschaftlicher Gruppen

.il wurden dazu sorgfältig geprüft. Vor-

~ schläge und Programme, die offen- Dr. med. Karsten Vilmar

e

1973 "Stellungnahme des Marburger Bundes zur Strukturre- form der Medizin an der Hochschule sowie zur Reform des Krankenhaus- wesens

e

1974 "Vorschläge zur Reform des Gesundheitswesens" des Mar- burger Bundes.

Gesundheits-

und sozialpolitische Vorstellungen

Nach eingehender Diskussion hatte der 75. Deutsche Ärztetag 1972 den Vorstand der Bundesärztekam- mer beauftragt, "die gesundheits- und sozialpolitischen Vorstellungen der Ärzteschaft unter Berücksichti- gung der Vorschläge, die hierzu von den Deutschen Ärztetagen und den ärztlichen Organisationen und Ver- bänden erarbeitet wurden, systema- tisch zusammenzufassen und dem

sichtlich darauf abzielen, direkt oder indirekt eine Änderung unseres Ge- sellschaftssystems herbeizuführen, wurden als ideologisch motivierte Aussagen entsprechend gewertet."

In seinem Einführungsreferat sagte Ernst Eberhard Weinhold un- ter bezug auf die marxistischen Ge- sellschaftstheorien: "Die Konfronta- tion mit solchen Gesellschaftstheori- en erfordert auch eine sachverständi- ge Aussage der deutschen Ärzte- schaft: aufgrundihrer Kenntnisse an- thropologischer Zusammenhänge und ihrer praktischen Erfahrungen im Umgang mit Menschen und ihrer sozialen Umgebung sowie aufgrund des Studiums vergesellschafteter Sy- steme. Für die ärztliche Versorgung mußte sie zu dem Ergebnis kommen, daß auf die berufliche Unabhängig- keit der Ärzte nicht verzichtet wer- den darf."

Nach lebhafter Debatte stellte der 76. Deutsche Ärztetag 1973 in ei- ner Entschließung fest: "Auf wirkli- chen Fortschritt bedachte Gesund-

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THEMEN DER ZEIT

heits- und Sozialpolitik sollte sich nicht von weltfremden Theorien lei- ten lassen. Ein ,Mehr' an Kooperati- on und Koordination im Gesund- heitswesen auf dem Weg über weit- gehende Institutionalisierung benö- tigter Leistungen in der Gesundheits- betreuung zu suchen, ist ebenso ein gefährlicher Irrweg, wie die Einfüh- rung mehr oder weniger stark soziali- sierter Systeme der Gesundheitsver- sorgung. Beides würde, wie jeder kri- tische Vergleich mit vielen anderen Ländern in der Welt klar aufzeigt, zu einer schlechteren ärztlichen Versor- gung der Bevölkerung und zu höhe- ren Kosten führen. Der Deutsche Ärztetag hat in seinen Beratungen der ,Gesundheits- und sozialpoliti- schen Vorstellungen der deutschen Ärzteschaft' bereits Wege für eine erfolgversprechende Weiterentwick- lung des Systems unserer ambulanten und stationären ärztlichen Versor- gung und darüber hinaus der ärztli- chen Berufsausübung und des Ge- sundheitswesens insgesamt aufge- zeigt." Der 76. Deutsche Ärztetag 1973 forderte abschließend, die Vor- lage nach weiterer Beratung dem 77.

Deutschen Ärztetag 1974 zur Be- schlußfassung vorzulegen und dar- über hinaus entsprechend dem stän- digen Fortschritt der Medizinischen Wissenschaft die „Gesundheits- und sozialpolitischen Vorstellungen der deutschen Ärzteschaft" auf jedem Deutschen Ärztetag zu ergänzen und zu erweitern.

Nach gründlicher Überarbeitung erfolgte durch die Delegierten des 77. Deutschen Ärztetages 1974 in Berlin die abschließende Beratung und Beschlußfassung. In dem einfüh- renden Referat hob Weinhold noch- mals hervor: „Der Deutsche Ärztetag hat klargemacht, daß er die Schlüs- selstellung einer freien Ärzteschaft für die Erhaltung einer humanen Schutzzone und daß er die Schlüssel- stellung der sozialen Sicherung für die Entfaltung bürgerlicher Verant- wortung und persönlicher Freiheit erkannt hat."

Zur Abgrenzung der Gesund- heits- von der Sozialpolitik wird fest- gestellt: „Im freiheitlichen und sozia- len Rechtsstaat wird die im politi- schen Gesamtzusammenhang einge- fügte Gesundheitspolitik

AUFSÄTZE

• bestimmt durch den Wert der Gesundheit als eines wesentlichen Elements der persönlichen Existenz,

• begrenzt durch den Vorrang des Grundrechtes des Menschen auf Schutz der freien Entfaltung seiner Persönlichkeit.

Im freiheitlichen und sozialen Rechtsstaat muß die Sozialpolitik

• für die Entfaltung der indivi- duellen Freiheit notwendige soziale Sicherheit schaffen,

• den Ausgleich der unter- schiedlichen individuellen Chancen und Risiken in der Gesellschaft er- möglichen."

Steigende Ausgaben

Hervorgehoben wird: „Das rechtsstaatliche Bekenntnis zum Vorrang der Freiheit der Person be- deutet, daß jeder Mensch für die Ge- staltung seines eigenen Lebens zu- nächst selbst verantwortlich ist. Ge- sundheits- und Sozialpolitik dürfen die persönliche Verantwortlichkeit und Verantwortungsbereitschaft für die eigene Lebensführung nicht schwächen, abbauen oder zerstören.

Gesundheits- und Sozialpolitik müs- sen die persönliche Verantwortlich- keit vielmehr fördern und ihr zur Entfaltung verhelfen. Die gesund- heitspolitische Aktivität des Staates muß sich darauf richten, hierfür die Möglichkeit zu schaffen, indem sie den Menschen vor nachteiliger Be- einflussung von außen bewahrt und ihm die Chance zu individueller Ent- faltung gibt."

Diese Leitsätze sind in den vom 83. Deutschen Ärztetag 1980 in Ber- lin und vom 89. Deutschen Ärztetag 1986 in Hannover erweiterten und präzisierten „Gesundheits- und sozi- alpolitischen Vorstellungen der deut- schen Ärzteschaft" unverändert ge- blieben, sie werden ebenso in den vom 97. Deutschen Ärztetag 1994 in Köln zu beratenden und verabschie- denden „Gesundheits- und sozialpo- litischen Vorstellungen der deut- schen Ärzteschaft" enthalten sein.

Waren die 1974 verabschiedeten

„Gesundheits- und sozialpolitischen Vorstellungen der deutschen Ärzte- schaft" noch geprägt von massiven

politischen Angriffen und Forderun- gen nach Systemveränderung und von dem damals noch bestehenden Mangel an Ärzten vor allem in Stadt- rand- und Landgebieten und im öf- fentlichen Gesundheitsdienst, verän- derten sich bei den späteren Fassun- gen wichtige Rahmenbedingungen grundlegend. Wurden noch 1974 Wünsche und Erwartungen der Öf- fentlichkeit von einer durch nichts zu erschütternden Machbarkeitsideolo- gie und einer unbegrenzten Gläubig- keit an Wissenschaft und Technik ge- prägt, die erfüllbar erschienen, wenn man alles nur richtig organisiere und genügend Geld zur Verfügung stelle, schlug diese Stimmung allmählich um.

Seit dem Ende der 70er und vor allem in den 80er Jahren entwickelte sich eine ebenso unbegründete Skep- sis oder gar Feindschaft gegenüber weiterem medizinisch-wissenschaftli- chen und -technischen Fortschritt.

Die steigenden Ausgaben infolge der demographischen Veränderungen mit einer zunehmenden Zahl älterer Menschen, die häufig gleichzeitig oder nacheinander wegen einer oder mehrerer Krankheiten dauerbehand- lungsbedürftig sind, stießen außer- dem auf zunehmenden Widerstand wegen der angeblichen Gefährdung der wirtschaftlichen Konkurrenzfä- higkeit durch zu hohe Lohnnebenko- sten.

Eine weitere Ursache für die Ausgabenentwicklung wurde in der stark steigenden Arztzahl gesehen, die vor allem wegen des Mangels an beruflich befriedigenden Lebensstel- lungen für Fachärzte in Krankenhäu- sern allmählich zu einem überpro- portionalen Anstieg der Zahl der Fachärzte in der freien Praxis führte.

Die früher geradezu unvorstell- baren Fortschritte und steigenden Arztzahlen ließen die Frage aufkom- men, ob der Arzt in jedem Fall alles tun darf oder tun muß, was medizi- nisch-wissenschaftlich oder -tech- nisch möglich wäre. Dies und die zur Vermeidung von Behandlungskosten und zur Verbesserung der Lebens- qualität gestiegene Forderung nach Ausbau der Prävention fand Eingang in die späteren Fassungen der „Ge- sundheits- und sozialpolitischen Vor- stellungen". Unverändert blieben je-

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doch die programmatischen „Leitsät- ze zur Struktur der Krankenhäuser und ihres ärztlichen Dienstes" sowie die vom 80. Deutschen Ärztetag 1977 in Saarbrücken erweiterten und be- kräftigten Thesen zur „Reform der Struktur der Krankenhäuser und ih- res ärztlichen Dienstes" sowie über die Zusammenarbeit zwischen den Ärzten in freier Praxis und im Kran- kenhaus sowie das Bekenntnis zu be- ruflicher Unabhängigkeit und Freibe- ruflichkeit als besten Voraussetzun- gen zur Sicherheit einer individuellen ärztlichen Versorgung der Patienten.

Die Reformvorschläge der deut- schen Ärzteschaft zur Wahrung der auch international anerkannt hohen Leistungsfähigkeit unseres freiheitli- chen Gesundheitssystems und zur Anpassung an den medizinisch-wis- senschaftlichen Fortschritt ebenso wie an die sich aus den demographi- schen Veränderungen ergebenden Notwendigkeiten wurden jedoch lei- der zuwenig und nicht genügend be- herzt verwirklicht. Viele der uns heu- te bedrängenden Probleme hätten bei rechtzeitiger sachgerechter Re- form vermieden werden können oder mindestens nicht das heute beklagte Ausmaß erreicht. Doch solche Ent- scheidungen benötigen in der Politik offensichtlich mehr Zeit als populisti- scher Aktionismus. Anscheinend gilt auch hier das Motto: „Gut Ding will Weile haben."

Für die dem 97. Deutschen Ärz- tetag 1994 zur Beratung und Be- schlußfassung vorzulegenden „Ge- sundheits- und sozialpolitischen Vor- stellungen" hat der 96. Deutsche Ärztetag 1993 unter Berücksichti- gung der nach der Wiedervereini- gung Deutschlands und der Überwin- dung der Grenzen in Europa stark veränderten politischen Rahmenbe- dingungen wiederum wichtige Eck- punkte festgelegt.

Umrisse eines künftigen Gesundheitswesens

Auch in Zukunft soll das Soli- darprinzip das Fundament der sozia- len Sicherung in Deutschland blei- ben. Der Leistungskatalog der ge- setzlichen Krankenversicherung geht jedoch häufig über das medizinische

Notwendige, Zweckmäßige und Aus- reichende hinaus. Das Solidarprinzip wird dann mißbraucht und dadurch gefährdet.

Durch eine Rückbestimmung auf die Prinzipien Eigenverantwor- tung und Subsidiarität kann das Soli- darprinzip entlastet sowie für die wirklich Bedürftigen erhalten wer- den. Darüber hinaus muß die Eigen- verantwortung des Versicherten für die Gesundheit durch sozial gestaf- felte Selbstbeteiligungsregelungen gestärkt werden. Statt immer mehr Reglementierung sind für die sparsa- me Inanspruchnahme und die wirt- schaftliche Erbringung von Leistun- gen in der gesetzlichen Krankenver- sicherung Anreize zu entwickeln.

Eigenverantwortung ist Stärkung der Autonomie der Versicherten.

Die mit der Gesundheitsgesetzge- bung bisher ständig zunehmende Re- gelungsdichte geht dagegen vom Menschenbild eines unmündigen Versicherten aus, der allumfassende Fürsorge der staatlichen Eingriffs- verwaltung benötigt. Mehr Eigenver- antwortung entspricht hingegen den freiheitlichen Strukturen unserer Gesellschaft.

Subsidiarität bedeutet im Ge- sundheitswesen, daß Verwaltungen nur dann Aufgaben übernehmen, wenn die Möglichkeit jeweils vorge- schalteter Einheiten ihre Funktionen nicht ausreichend wahrnehmen kön- nen. Die Subsidiarität wird durch ei- ne von der Gesetzgebung verursachte Betreuungs- und Anspruchsmentali- tät unterlaufen; dies zeigen zum Bei- spiel die Fehlentwicklungen im Kur- und Bäderwesen. In Deutschland wurden die Möglichkeiten einer sub- sidiären Patientenversorgung bisher nicht hinreichend gefördert.

Für eine Neuorientierung der Gesundheits- und Sozialpolitik unter diesen Prämissen sind folgende Grundsätze zu beachten:

• Ausrichtung des Leistungska- talogs der gesetzlichen Krankenversi- cherung auf das medizinisch Notwen- dige, Zweckmäßige und Ausrei- chende;

• Nutzung der ab 1996 garan- tierten Wahlfreiheit der Versicher- ten unter allen Krankenkassen;

• Schaffung von Wahlmöglich- keiten im Leistungsangebot der

Krankenkassen entsprechend den in- dividuellen Versorgungsnotwendig- keiten;

• Beachtung der bewährten Grundsätze „Eigenverantwortung",

„Subsidiarität" und „Solidarität" in dieser Reihenfolge unter Berücksich- tigung gewandelter Lebensbedingun- gen und gesellschaftlicher Verände- rungen;

• Stärkung der Eigenverant- wortung des Versicherten im Sinne der Selbstbestimmung eines mündi- gen Bürgers;

• Schaffung von Anreizen für alle Beteiligten im System der Kran- kenversicherung zu wirtschaftlicher Verhaltensweise;

• Entscheidung des Gesetzge- bers auf der Grundlage sachgerech- ter Orientierungsdaten;

• Berücksichtigung des medizi- nisch-technischen und wissenschaftli- chen Fortschrittes, um die Leistungs- fähigkeit des Systems zu erhalten und zu steigern;

• Beschränkung staatlicher Eingriffe auf das Notwendige ent- sprechend dem Prinzip der Subsidia- rität, um den Gestaltungsfreiraum der direkt Betroffenen nicht einzuen- gen;

• Stärkung der Rechte der Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen, auch um eine miß- bräuchliche Ausnutzung des Ge- sundheitssystems zu verhindern;

• Vermeidung bewußt herbei- geführter individueller Risiken im In- teresse der Solidarität der Risikoge- meinschaft;

• Schließung verbleibender Versorgungslücken durch die staatli- che Fürsorgepflicht mit der Definiti- on von Anspruchsvoraussetzungen.

Wissenschaftliche Erkenntnisse sind dabei zu beachten. Für das Ge- sundheitswesen sind auf Dauer trag- fähige Lösungen nur auf der Grund- lage medizinischer Orientierungsda- ten zu finden. Diese müssen von der Ärzteschaft unter Beachtung medizi- nisch-wissenschaftlicher und -techni- scher Möglichkeiten sowie ethischer Grundnormen ärztlichen Handelns zusammen mit einer von politischen Weisungen unabhängigen Gesund- heitsberichterstattung entwickelt werden. Insoweit sind die Forderun- gen des 3. Deutschen Ärztetages

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THEMEN DER ZEIT

1875 nach' einer Medizinalstatistik bis heute nicht erfüllt. Anstelle ver- schwommener Mutmaßungen und Behauptungen sind endlich präzise Meß- und Beurteilungswerte erfor- derlich, die vernünftige gesundheits- und sozialpolitische Entscheidungen nicht nur erleichtern, sondern über- haupt erst ermöglichen. Dazu gehört die verläßliche Ermittlung der Nach- frage und des Bedarfs insbesondere unter Berücksichtigung der demogra- phischen Veränderungen. Dies ist je- doch nicht möglich ohne genaue Analyse. Insoweit erfolgt die im Sozi- algesetzbuch V für die ambulante ärztliche Versorgung durch Vertrags- ärzte und deren Untergliederung in hausärztlichen und fachärztlichen Bereich vorgeschriebene Bedarfspla- nung und die Feststellung einer Überversorgung auf sehr unsicherem Boden. Sie vernachlässigt auch die durch die heutigen Krankenhaus- strukturen vorgegebene Verteilung der Lebensarbeitszeit von Ärzten, die nach Abschluß ihrer Weiterbil- dung immer wieder das Krankenhaus verlassen und sich für ihr weiteres Berufsleben eine Existenz in freier Praxis suchen müssen, wodurch im Krankenhaus ein ständig neuer Er- satzbedarf für diese qualifizierten Mitarbeiter entsteht. Versuche, mit planwirtschaftlichen Methoden die sich aus den verschiedenen Ursachen ergebenden Entwicklungen und er- wachsenden Probleme zu bewältigen, führen ebensowenig weiter wie Aus- einandersetzungen mit Schuldzuwei- sungen und Schlagworten oder Glau- benskämpfe aufgrund unbewiesener Heilslehren.

Kollektivismus muß vermieden werden

Unverändert gilt auch heute, was bereits 1974 bei der Beratung der ge- sundheits- und sozialpolitischen Vor- stellungen auf dem Deutschen Ärzte- tag zur Einführung gesagt wurde:

„Die individuellen Ansprüche erfor- dern Gestaltungsfreiraum gerade auch im Krankheitsfall. Die überall in unserer Gesellschaft gegebenen Wahlmöglichkeiten dürfen gerade hier durch Institutionen nicht einge- engt werden . . . Aus dem immer be-

AUFSÄTZE

schworenen mündigen Bürger darf kein unmündiger Patient werden. Ei- ne immer weiter perfektionierte, jede Eigeninitiative erdrückende staatli- che Fürsorge in allen Lebensberei- chen erstickt die Individualität und fördert den Kollektivismus.

In Anbetracht der weiterhin stei- genden Nachfrage und der damit steigenden Ausgaben ist Rationali- sierung auch in den Leistungsange- boten der gesetzlichen Krankenversi- cherung erforderlich, um langfristig Rationierung — also die Zuteilung von Gesundheitsleistungen mit Aus- grenzung ganzer Alters- oder Kran- kengruppen — zu vermeiden, was für die Arzteschaft aus ethischen Grün- den untragbar wäre und rasch wieder die Frage nach dem Wert oder Un- wert eines Lebens aufkommen lassen müßte.

Wenn in Zukunft dem einzelnen Menschen noch eine Bedeutung zu- kommen und eine Vermassung ver- mieden werden soll, ist es auch ärztli- che Verpflichtung, sich in der Gesell- schaft und im Staat zu engagieren.

Der Arzt kann sich nicht auf die Rolle des unbeteiligten medizini- schen Sachverständigen zurückzie- hen. Er muß sich mehr als bisher um die Grundlagen seiner Berufsaus- übung bemühen, die nicht nur die rein medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse umfassen, sondern auch die rechtlichen, sozialen und politischen Einwirkungsmöglichkei- ten auf seine Tätigkeit und das Ver- halten der Menschen mit einbezie- hen müssen."

Im Interesse der Individualität und der Sorgen und Nöte kranker Menschen muß Kollektivismus ver- mieden werden. Reformvorschläge der Ärzteschaft sind deshalb über die gesundheitspolitischen Details hin- aus gewissermaßen von dem Wissen um die Individualität und Einmalig- keit eines jeden Menschen geprägte gesellschaftspolitische Programme.

Wegen der zur Sicherung einer guten ärztlichen Versorgung auch bei star- ken Veränderungen der Zahl der er- werbstätigen aktiven Beitrags- und Steuerzahler zu der Zahl der nicht mehr oder noch nicht Erwerbstätigen müssen alle Anstrengungen auf die Anpassung der sozialen Sicherungs- systeme an die Anforderungen der

Zukunft gerichtet sein. Bei begrenz- ten Ressourcen muß durch Rationa- lisierung eine Rationierung vermie- den werden.

Seit Beginn der 70er Jahre wur- de die Ärzteschaft vom Gesetzgeber in immer rascherer Folge mit Eingrif- fen zur Kostendämpfung konfron- tiert. Trotz vieler Enttäuschungen vor allem durch das Gesundheits- strukturgesetz, das von einer zu die- sem Zweck gebildeten Koalition aus CDU/CSU und SPD durchgedrückt wurde und durch das die seit Beste- hen des Kassenarztrechts tiefstgrei- fenden dirigistischen und die be- währten Selbstverwaltungsstrukturen reglementierenden Veränderungen erfolgten, darf die Ärzteschaft nicht resignieren. Sie muß im Interesse der Versorgung des einzelnen Patienten und der gesamten Bevölkerung wei- terhin eine nach Möglichkeit ge- schlossene ärztliche Argumentation in den Meinungsbildungsprozeß der demokratischen Parteien und damit in die politischen Entscheidungen durch die Fraktionen des Deutschen Bundestages einbringen.

Das gilt insbesondere für die für das Jahr 1995 angekündigte nächste Stufe der Reformgesetzgebung im Gesundheitswesen, mit der eine trag- fähige Grundlage für die gesetzliche Krankenversicherung über das Jahr 2000 hinaus geschaffen werden soll.

Die politisch Verantwortlichen müs- sen dabei erkennen, daß eine indivi- duelle ärztliche Versorgung nicht dem Grundsatz der Beitragssatzsta- bilität geopfert werden darf. Gerade nach dem Zusammenbruch der so- zialistischen Diktaturen im Osten müssen sich die Anstrengungen der Ärzteschaft darauf richten, in dem wiedervereinigten Deutschland unter Wahrung unverbrüchlicher ethischer Grundsätze die ärztliche Versorgung der Patienten zu verbessern und den Menschen in Deutschland und in Eu- ropa ein Leben in sozialer Sicherheit und Gesundheit sowie in Frieden und Freiheit zu ermöglichen.

Anschrift des Verfassers:

Dr. med. Karsten Vilmar

Präsident der Bundesärztekammer und des Deutschen Ärztetages Herbert-Lewin-Straße 1 50931 Köln

Deutsches Ärzteblatt 90, Heft 47, 26. November 1993 (37) A1-3129

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