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Archiv "Bürgerversicherung: Hauptsache wählergerecht" (03.09.2004)

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llzu groß war die Überraschung nicht, als die Vorsitzende der Pro- jektgruppe Bürgerversicherung des SPD-Vorstands, Andrea Nahles, am 29. August das angekündigte Modell- konzept präsentierte. Dass die SPD auf Dauer die gesamte Bevölkerung in eine solidarisch angelegte Bürgerversiche- rung einbeziehen will, also auch Beam- te und Selbstständige, ist bekannt. Und dass als zweites wichtiges Element der Bürgerversicherung Krankenkassen- beiträge auf Kapitaleinkünfte erhoben werden sollen, ebenso. Selbst Einzel- heiten waren schon durchgesickert, bei- spielsweise, dass man Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung ausneh- men und Freibeträge einziehen wolle.

Auch parteiinterne Skeptiker und Kritiker der Bürgerversicherung hatten sich bereits zu Wort gemeldet. „Wir sind sehr groß im Definieren von Reform- zielen, aber die Kärrnerarbeit will am Ende keiner übernehmen“, warnte beispielsweise der nordrhein-westfä- lische Ministerpräsident Peer Stein- brück. Gleichwohl verabschiedete der SPD-Parteivorstand die Eckpunkte der Nahles-Gruppe mit großer Mehrheit.

Einen Gesetzentwurf wird es jedoch so schnell nicht geben. Das stehe in dieser Legislaturperiode nicht an, betonte Bundeskanzler Gerhard Schröder.

Innerhalb der Ärzteschaft werden die Pläne zu einer Bürgerversicherung jedoch aufmerksam verfolgt. Denn es geht längst nicht nur um Finanzierungs- fragen und den Versichertenkreis. Pa- rallel dazu will die SPD weitere Struk- turreformen vorantreiben. „Die Bür- gerversicherung macht den Weg nicht überflüssig, das Gesundheitswesen effi- zient und in verantwortungsvoller Weise sparsam zu organisieren“, heißt es im Konzept. Eine ideale strukturelle Er- gänzung zur Bürgerversicherung seien folgende Elemente: die Ausweitung di-

rekter Verträge zwischen Krankenkas- sen, Ärzten und Krankenhäusern, der Ausbau der Integrierten Versorgung und spezieller Behandlungsprogramme sowie eine qualitätsorientierte Vergü- tung der Ärzte. Zur Projektgruppe gehört übrigens Prof. Dr. med. Dr. sc.

Karl Lauterbach.

Kritik: ein System wie in Chile

Ärztinnen und Ärzte wären von einer Systemumstellung zur Bürgerversiche- rung doppelt betroffen: Die große Mehrheit ist mit ihren Familien privat krankenversichert. Außerdem sind die Einkünfte durch Privatpatienten eine wichtige Einnahmequelle. „Weniger PKV-Versicherte bedeutet auch weni-

ger Honorare“, betont der Verband der privaten Krankenversicherung. „Im- merhin leisten Privatversicherte heute fünf bis sechs Milliarden Euro als überproportionalen Finanzierungs- beitrag im Gesundheitswesen.“ Soll heißen: durch die vergleichsweise teure Behandlung von Privatpatienten wer- den Versicherte der Gesetzlichen Kran- kenversicherung (GKV) subventioniert.

Dass es nach dem Modellkonzept der Nahles-Gruppe den privaten Kranken- versicherungen bisheriger Prägung an den Kragen gehen soll, steht fest. „Die parallele Existenz zweier vollständig unterschiedlich finanzierter Vollversi- cherungssysteme, zwischen denen nur bestimmte, insbesondere gut verdienen- de Personengruppen wählen können, ist nicht zukunftsfähig“, betonen die Auto- P O L I T I K

Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 363. September 2004 AA2357

Bürgerversicherung

Hauptsache wählergerecht

Die SPD-Projektgruppe um Andrea Nahles hat Eckpunkte vorgelegt. Ein Gesetzentwurf ist vorerst nicht zu erwarten.

Nahles-Kommission: Wahl zwischen Einheitstarifen

In dem 71-seitigen „Modell einer solidarischen Bürgerversicherung“ sind folgende Detailvorschläge enthalten:

>Jeder kann sich entweder bei einer gesetzlichen Krankenkasse oder einem privaten Unternehmen für den so genannten Bürgerversicherungstarif entscheiden. Dieser muss folgende Mindestanforderungen er- füllen: einkommensbezogene Beiträge als Basis, Kontrahierungszwang, einheitlicher Leistungskatalog, Sachleistungsprinzip, Einbezug der Versicherten in einen morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich.

Profilieren könnten sich Anbieter in diesem vereinheitlichten Geschäft nach Darstellung von Projektgrup- penmitglied Prof. Dr. med. Karl Lauterbach durch geschickte Vertragsabschlüsse mit den Leistungserbringern und durch gute Versorgungsmodelle.

>Wer bislang privat versichert ist, kann seinen (Vollversicherungs-)Vertrag behalten oder in einen Bürger- versicherungstarif seiner Wahl wechseln. Wer gesetzlich krankenversichert ist, kann zwischen privaten und gesetzlichen Anbietern wählen. Wer sich neu krankenversichern muss, kann sich nur noch für einen Bürgerver- sicherungstarif entscheiden. Die private Krankenversicherung (PKV) würde so nach und nach ausgedünnt.

>Familienmitglieder ohne eigenes Einkommen und Kinder werden beitragsfrei mitversichert.

Die Vorstellungen darüber, was mit den Altersrückstellungen in der PKV geschehen soll, sind noch unaus- gegoren. Beim Wechsel von einer privaten Versicherung zu einem Bürgerversicherungstarif bei einer gesetz- lichen Krankenkasse gingen sie dem Versicherten verloren. Bei einem Wechsel von einem Altvertrag zu einem Bürgerversicherungstarif innerhalb einer privaten Krankenversicherung wird vorgeschlagen, die Rückstellungen in einen eigenen Tarif umzuwandeln, um die Beiträge auch im Alter finanzierbar zu halten.

Vorgesehen ist als zweites wesentliches Element, die Einnahmebasis einer Bürgerversicherung zu ver- breitern. Lohnbezogene Beiträge würden dem Modell zufolge weiter je zur Hälfte von Arbeitgebern und Ar- beitnehmern finanziert. Darüber hinaus sollen Beiträge auf andere Einkommensarten erhoben werden.

Dafür schlägt die Kommission zwei Wege vor: Variante 1 umfasst eine eigene zweite Beitragssäule, bei der bis zur Beitragsbemessungsgrenze auf Kapitaleinkommen Krankenversicherungsbeiträge gezahlt werden.

Hier soll allerdings ein Freibetrag in Höhe des derzeitigen Sparerfreibetrags gelten. Variante 2 sieht vor, dass ein Teil einer zukünftigen Abgeltungssteuer auf Kapitaleinkommen zweckgebunden in die Finanzierung der Bürgerversicherung fließt. Hierfür würden gesetzlich wie privat Krankenversicherte herangezogen.

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ren der Eckpunkte. Selbst Prof. Dr. rer. pol.

Bert Rürup weist gern darauf hin, dass ei- ne Einteilung in PKV (private Kranken- versicherung) und GKV wie in Deutsch- land nur noch in Chile zu finden sei.

Der PKV-Verband setzt allerdings dem Argument, eine Bürgerversiche- rung sei in allem viel gerechter als das heutige System, einiges entgegen. Die privaten Krankenversicherer sind über- zeugt, dass das Gerechtigkeitsargument nur auf den ersten Blick großen Charme entfaltet. „Das wird sich entzaubern, je mehr es um die Details geht“, meint PKV-Verbandsgeschäftsführer Christian Weber. In einem Punkt hat der Verlauf der bisherigen Diskussion dem Ver- band schon Recht gegeben. Miet- und Pachteinnahmen würden wohl nicht einbezogen, wenn Krankenversiche- rungsbeiträge zusätzlich auf andere Einkommensarten anfielen. Ein zu großer bürokratischer Aufwand, mei- nen die einen. Ein Schuss nach hinten, warnen die anderen:Viele Bürger mach- ten hier Verluste, die sie dann womög- lich noch beitragsmindernd verrechnet haben wollten. Vor allem Gewerk- schaftler hatten sich für die Ausnahme stark gemacht. Denn gerade gut ver- dienende Facharbeiter träfe es angeb- lich besonders, wenn Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung für die Kassenbeiträge herangezogen würden.

Als große Verbesserung wird es von der Nahles-Projektgruppe bewertet, dass sich in Zukunft Beamte und Selbst- ständige in eine Bürgerversicherung

einreihen sollen. Das stimmt auf den er- sten Blick. Weber weist jedoch darauf hin, dass bei Selbstständigen als Basis für eine Beitragsbemessung nicht Brut- tolohn oder -gehalt, sondern der Ge- winn herangezogen wird. Selbstständige hätten jedoch ganz andere Möglich- keiten, ihren Gewinn zu minimieren als Arbeitnehmer ihren Bruttolohn:

„Im Extremfall setzt der selbstständige Rechtsanwalt die Ausgaben für sein Auto gewinnmindernd an. Der normale Arbeitnehmer zahlt jedoch Kranken- versicherungsbeiträge auf seinen Brutto- lohn und kann noch nicht einmal seine Fahrten zum Arbeitsplatz beitragsmin- dernd angeben“, erläutert Weber.

Skepsis auch bei den Kassen

Nicht grundlos werden bislang für Selbstständige, die sich freiwillig in der GKV versichern, relativ hohe Mindest- beiträge angesetzt. Das würde wohl in Zukunft so bleiben. Ist es aber gerecht, dass ein Selbstständiger mit tatsächlich geringem Verdienst einen Mindestbei- trag zahlt, der dem eines sehr viel besser verdienenden Angestellten entspricht?

„Das jetzige System ist nicht gerecht“, gibt Projektgruppenmitglied Prof. Dr.

rer. pol. Martin Pfaff unumwunden zu.

Eine zukünftige Bürgerversicherung werde gerechter sein, aber nicht per- fekt, meint er. Auch in Zukunft werden als Folge der beitragsfreien Familien- versicherung Versicherte ohne Kinder

Familien subventionieren. Diese Soli- darität mag vielen noch zusagen. Dass aber ein berufstätiges Paar doppelt Bei- träge zahlt, ein Paar mit demselben Ein- kommen aus einem Verdienst aber nur einmal, ärgert heute schon manchen.

Kritisch stehen der Bürgerversiche- rung auch die gesetzlichen Krankenkas- sen gegenüber. Die Leitgedanken seien lobenswert, beurteilte Dr. rer. pol. Doris Pfeiffer, Vorstandsvorsitzende der Er- satzkassenverbände. Problematisch sei es allerdings, Privatversicherten den Wechsel in einen GKV-Bürgerversiche- rungstarif zu ermöglichen. Damit fände möglicherweise eine Risikoverlagerung von PKV zu GKV statt. Doch nicht nur das: „Wegen der Gewinnorientierung der PKV könnten europäische Wettbe- werbs- und Kartellregelungen wirksam werden, sodass Steuerungsinstrumente der GKV gefährdet sind“, sorgt sich Pfeiffer. Gemeint sind Festbeträge oder Zwangsrabatte auf Arzneimittel.

Fachleute des Bundesverbandes der Betriebskrankenkassen stört, dass die Diskussion um eine bessere Finanzie- rung des Gesundheitssystems längst mit vielen weiteren Zielen verknüpft wird:

mit anderen Strukturen, mit besserer Forschung et cetera. „Unangefochtener Meister in dieser Disziplin, schon die Ausgangsfragen umzulenken, ist Prof.

Lauterbach“, heißt es in einem internen Bericht.Als Beispiel wird die Diskussion um Kopfpauschalen angeführt, denen man vorwirft, sie führten zu steigenden Gesundheitsausgaben wie in der Schweiz. „Steigende Belastungen des Gesundheitswesens, die im Wesentlichen aus dem demographischen Wandel, dem medizinischen Fortschritt und den stei- genden Präferenzen für Gesundheits- leistungen resultieren, lassen sich durch ein Finanzierungsmodell nicht wegrefor- mieren“, heißt es aber in dem Bericht.

Entweder stiegen die Beitragssätze oder die Gesundheitsprämien. Die Effizienz eines Gesundheitssystems werde nicht von der Art der Finanzierung bestimmt.

Nicht umsonst habe die Bertelsmann- Stiftung ihren Gesundheitspreis sowohl der Schweiz für ihre Finanzierung wie auch den Niederlanden wegen der Re- formen auf der Versorgungsseite verlie- hen. Und nicht umsonst sollen Bürger- versicherung und weitere Strukturrefor- men ineinander greifen. Sabine Rieser P O L I T I K

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A2358 Deutsches ÄrzteblattJg. 101Heft 363. September 2004

BÄK und KBV gegen Bürgerversicherungs-Konzept

Prof. Dr. med. Jörg-Dietrich Hoppe, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), hat das Modellkonzept der SPD zur Bürgerversicherung kritisiert. Die Vorschläge beinhalteten keine echte Wahlfreiheit für Versicherte mehr, erklärte er gegenüber dem Deutschen Ärzteblatt. Richtig findet es Hoppe allerdings, die Einnahmebasis der Krankenversicherung zu verbreitern. Eine Abkehr von der bisherigen Lohnbezogenheit des GKV-Systems und eine Ausweitung der Beitragserhebung auf andere Einkommen würde er begrüßen.

Der Vorstand der BÄK hat sich am 27. August auf „Kriterien der deutschen Ärzteschaft zur Finanzierung einer patientengerechten Gesundheitsversorgung“ geeinigt. Dabei ging es weniger darum, ein Reform- modell oder gar Finanzierungsvorschläge zu entwickeln. Vielmehr beschreibt die BÄK allgemein gehalten Vorgaben, an denen sich zukünftige Konzepte orientieren sollten. Gefordert werden ein verlässlicher und chancengleicher Zugang zur gesundheitlichen Versorgung und eine selbstbestimmte Option der Bürger für ärztliche Gesundheitsleistungen über einen abgedeckten notwendigen Schutz hinaus. Es müsse „Flexibilität in der Inanspruchnahme der Versorgungsmöglichkeiten, Freiheit in der Wahl des Arztes und vor allem auch Freiheit der Berufsangehörigen im Zugang zur Behandlung von Versicherten“ bestehen bleiben. Die Politik wird aufgefordert, ernsthaft über eine Weiterentwicklung des bestehenden Systems der GKV zu diskutieren.

Dr. med. Manfred Richter-Reichhelm, Vorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV), kriti- sierte die Nahles-Vorschläge ebenfalls: „Eine nachhaltige Finanzierung des Systems mit einer Bürgerversi- cherung ist nicht möglich.“ Die KBV hat noch kein eigenes Konzept vorgelegt.Ansätze zu Nachhaltigkeit und einer Bewältigung des demographischen Wandels müssten jedoch im Vordergrund stehen, heißt es. Rie

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