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Archiv "Barmherzigkeit und Vorsorge: Das neue Gesundheitswesen der Sowjetunion" (05.05.1988)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

S

eit gut einem Jahr ist Ewgenij I. Tschasow als Gesundheits- minister der Sowjetunion im Amt; die Mit-Präsidenten- schaft in der Ärztebewegung gegen den Atomkrieg hat er abgegeben.

Die Ernennung eines Vollmitgliedes des Zentralkomitees der KPdSU zum obersten Gesundheitsschützer zeigt das Gewicht, das den überfälli- gen Reformen des rückständigen Gesundheitsdienstes beigemessen wird. Tschasow hat sich sowohl bei der Glasnost, beim Zerschlagen der überholten Strukturen und schlech- ten Gewohnheiten, als auch bei der Perestrojka und der großzügigen Pla- nung eines neuen, besseren Gesund- heitssystems der Zukunft als enga- gierter Mitstreiter seines Generalse- kretärs erwiesen. Er machte sich so- gleich zum Wortführer der Kritiker, obwohl man ihn doch fragen muß, was er selber denn 18 Jahre lang, in denen er stellvertretender Gesund- heitsminister war, gegen die Mißstän- de unternommen hat, die er nun an- prangert — Mißstände, die der sowje- tischen Volkswirtschaft, wie er versi- chert, jährliche Verluste von mehr als 90 Milliarden (!) Rubel einfahren.

Auch wenn die Umgestaltung schon Konturen annimmt und die Richtung ahnen läßt, in der die Ent- wicklung geführt werden soll, geht die Kritik weiter. Sie wird schärfer und hat auch den sakrosankten Be- reich der Psychiatrie ergriffen. Da- bei bezieht sie sich noch nicht auf den Mißbrauch psychiatrischer Maß- nahmen gegen politische Abweich- ler; der wird nach wie vor abgestrit- ten. Ihr Ziel ist der lukrative Einsatz der Psychiater gegen unbequeme, da kritische Arbeitnehmer und zur Ret- tung von Straftätern vor dem Arbeits-

lager, das ihnen mit dem Zertifikat der „Geschäftsunfähigkeit" erspart bleibt. Die Staatsanwaltschaft steht bei ihren Ermittlungen vor einer Mauer, denn die Kollegen decken sich gegenseitig und bestechen oder bedrohen die Zeugen. Im Gesund- heitsministerium heißt es: „Die Psychiatrie ist eine delikate Angele- genheit. Man sollte sich nicht einmi- schen." Diesen Freibrief nutzt(e) ei- ne Mafia aus Psychiatern und Ge- richtsgutachtern in Moskau aus. Ei- ner der Ärzte, die kürzlich doch vor Gericht gestellt werden konnten, fuhr einen Mercedes für 35 000 Rubel.

Aber das ist ein Thema für sich.

Die Ärzte -

im Kreuzfeuer der Kritik

Die Ärzte vor allem mit ihren beruflichen und moralischen Schwä- chen stehen im Kreuzfeuer der Kriti- ker. Über 1,2 Millionen Ärzte ver- sorgen die 283 Millionen Sowjet- menschen, 42,8 auf je zehntausend (Bundesrepublik: rund 30/10 000);

69 Prozent von ihnen sind Frauen.

Ihnen stehen rund 3,2 Millionen Me- dizinwerker der mittleren Ebene (Schwestern, Feldschere, Hebam- men, Laboranten) zur Seite. Die re- gionalen Unterschiede in der Vertei- lung sind groß. In unwirtlichen Ge- genden herrscht Ärztemangel: nur 26,9/10 000 in Tadshikistan, aber im sonnigen Kaukasus drängen sich die Doktoren. Mit 55/10 000 ist Geor- gien überbesetzt, besonders in den Städten. Tbilisi (Tiflis) verschweigt 400 arbeitslose Ärzte. Dort kann man auch als Taxifahrer gut leben.

Ungenügendes theoretisches Wissen und völlig unzureichende

praktische Fertigkeiten sind die häu- figsten Vorwürfe an die Adresse der jungen Internisten, Chirurgen, Frauen- und Kinderärzte oder Hy- gieniker/Epidemiologen, die als

„Primärspezialisten" die 83 Fach- hochschulen absolvieren. Zur selb- ständigen Tätigkeit seien sie ebenso wenig fähig wie zum Umgang mit moderner Medizintechnik (die we- nigsten bekommen sie zu sehen!).

Das Gegenmittel sind neue Lehrpro- gramme, in denen große, gleicharti- ge Fächer zusammengelegt und klei- ne (Medizingeschichte!!) gestrichen wurden und in denen praktische Un- terweisungen gegenüber den theore- tischen Vorlesungen erheblich mehr Gewicht erhielten.

Wiederentdeckung des

„Allgemeinpraktikers"

Regelmäßige Leistungskontrol- len begleiten den Mediziner nun während des gesamten Studiums und auch im späteren Berufsleben.

Diese obligaten „Attestierungen"

haben den Charakter von Staatsprü- fungen. Wer nach dem praktischen Jahr im gewählten Spezialfach (sub- ordinatura) das Abschlußexamen nicht besteht, darf ein Jahr lang als Krankenschwester beziehungsweise Feldscher arbeiten und dann einen zweiten Versuch wagen, Arzt zu werden. Auch die Professoren und Dozenten haben sich der Attestie- rung zu unterziehen, der regelmäßi- gen Überprüfung ihres Wissens und didaktischen Könnens, das sie in Fortbildungskursen auffrischen kön- nen.

Generationen von Medizinern sind zu Spezialisten herangezogen worden, die in ihrem Ärzte-Kollek- tiv Deckung fanden. Nun soll in der Klinischen („Therapeutischen") Fa- kultät das Medizinstudium auf den allround-gebildeten „Allgemein- praktiker" zielen, der in der Lage und bereit ist, Verantwortung zu übernehmen. Nur der Allgemeinme- diziner, nicht ein Spezialist, ist ge- eignet für die Funktion des Haus- und Familienarztes, dem künftig stärker als bisher die Basisversor- gung anvertraut wird. In diese Rolle soll endlich der „Bezirksarzt" hin-

Barmherzigkeit und Vorsorge

Das neue Gesundheitswesen der Sowjetunion

Heinz Müller-Dietz

A-1254 (28) Dt. Ärztebl. 85, Heft 18, 5. Mai 1988

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einwachsen. Er ist in seinem Bezirk mit 1600 bis 1800 Einwohnern der Poliklinik oder dem Landambulato- rium vorgeschaltet; er sieht die Kranken als erster Arzt und betreut seine Klientel auch präventiv — eine Position also, die großes Können, langjährige Erfahrung und Vertrau- en erfordert. Bislang ist bei den rund 77 000 Bezirksärzten die Fluktuati- on noch weit stärker als bei jedem anderen ärztlichen Berufsbild. Be- sonders auf dem Lande wurden die vakanten Stellen vorwiegend mit ge- rade examinierten Jungärzten aufge- füllt, die den Anforderungen an ei- nen „Familienarzt" kaum gewach- sen waren und nach ihren drei Pflichtjahren rasch wieder enteilten.

Die ärztliche Ethik wird wiederbelebt

Ein weiterer Schwachpunkt in der Ausbildung der Ärzte und Heil- hilfspersonen, der nun korrigiert werden soll, war bisher offenbar die Pflege der Ethik. Zwar legen die Ärzte bei der Approbation ein Ge- löbnis ab, mit dem sie sich zu Kolle- gialität, ständiger Fortbildung, Ein- haltung der Schweigepflicht und Kampf gegen den Atomkrieg ver- pflichten. Aber viele von ihnen scheinen ihre Patienten nicht son- derlich zu schätzen, denn Klagen über gleichgültiges, hartherziges, grobes Verhalten sind an der Tages- ordnung. Dies scheint die Verant- wortlichen so irritiert zu haben, daß sie einen längst obsoleten Begriff re- aktivieren und selbst in offiziellen Dokumenten verlangen, Ärzte und Pflegekräfte sollten sich zu den Kranken „barmherzig" verhalten.

Die uns naheliegende Assoziation der christlichen Nächstenliebe ist da- mit sicherlich nicht beabsichtigt.

Dennoch — ein Moskauer Kollege empfahl allen Ernstes, um dem Mangel an Pflegepersonal abzuhel- fen, auf die große Gemeinde der Gläubigen zurückzugreifen, die für den Dienst am Nächsten nicht pri- mär materiell motiviert seien.

Daß es den sowjetischen Kolle- gen — nicht allen natürlich — viel- leicht bei ihren beruflichen Pflich- ten, aber gewiß nicht bei der Auf-

besserung ihres kärglichen Salärs an Initiative mangelt, haben wir bei den Psychiatern schon angedeutet. Un- terschlagungen, Diebstähle (Narko- tika!) und Bestechungen mag es ge- ben. Aber viel weiter verbreitet ist die Annahme von Schmiergeldern.

500 Rubel oder Kognak erhält der

g;

Ewgenij I. Tschasow rückte vom Stellver- treter zum Gesundheitsminister auf Chefarzt für einen Operationster- min, ein Rubelchen die Schwester für einen passenden Kittel, ein wei- teres für Pantoffeln und eines für das längst überfällige Wechseln der Bettwäsche. Der in der Verfassung verbriefte kostenfreie Gesundheits- dienst ist für die Patienten, die es sich leisten können, gar nicht so ko- stenfrei. Die Regierenden haben darauf reagiert und bieten nun, im Rahmen der „individuellen Aus- übung der Berufstätigkeit", Ärzten und Pflegekräften die Möglichkeit, neben ihrer Arbeit für den Staat, auch freiberuflich tätig zu sein.

Das Gesetz ist seit Mitte 1987 in Kraft und hat bisher besonders Zahnmediziner und Außenseiter — Akupunkteure, Chiropraktiker — animiert, sich nach Feierabend al- lein oder mit anderen in einer „Ko- operative" ein Zubrot zu verdienen.

Auch wenn der Andrang der Patien- ten groß ist, liegt das Problem in der Beschaffung geeigneter Räume und funktionierender Geräte.

Ein weiteres Instrument, um das Ansehen und die wirtschaftliche Si- tuation der Ärzte im ersten Glied aufzubessern, ist die im August 1987 überraschend verkündete Möglich- keit der freien Wahl des Bezirksarz- tes. Das heißt, der Patient ist nicht mehr an den ärztlichen Bezirk seines Wohnortes gebunden, in dem er ko- stenfrei versorgt wird, sondern er darf sich — ebenfalls kostenfrei — von dem Arzt eines ganz anderen Be- zirks untersuchen und behandeln lassen. Die Kollegen, die mehr Kranke auf sich ziehen, erhalten bis zu 30 Prozent Gehaltszulage. Aber dabei entstehen Probleme, die of- fenbar noch gar nicht bedacht, ge- schweige denn gelöst worden sind.

Was geschieht, wenn ein Patient ei- nen Doktor am anderen Ende der großen Stadt wählt und ihn, der auf öffentliche Verkehrsmittel angewie- sen ist, zu einem Hausbesuch bittet?

Oder wenn ein Arzt so gesucht ist, daß er die maximale Versorgungs- norm von 1800 Einwohnern weit überschreitet? Oder wenn nicht ein guter, sondern ein (bei Krankschrei- bungen) „gefälliger" Arzt sich vor arbeitsunwilligen „Kranken" nicht mehr retten kann? Schon jetzt wer- den täglich vier Millionen Werktäti- ge krankgeschrieben. Die Kranken- geldzahlungen übersteigen in jedem Jahr sieben Milliarden Rubel.

Geringere

Weisungsabhängigkeit Und doch veranschaulichen bei- de Maßnahmen einige Ziele der Pe- restrojka: geringere Weisungsab- hängigkeit und größere Selbständig- keit der Krankenanstalten und der Ärzte, höhere Einkommen — nicht nur durch Gehaltszulagen, sondern durch (legale) Eigeninitiative und als Ansporn zu mehr und besserer Leistung. Seit mehreren Jahren schon liefen Versuche, den Leitern ausgesuchter Krankenanstalten mehr Spielraum bei der Verwen- dung ihrer Finanzmittel und Perso- nalstellen einzuräumen. Sie waren offenbar ermutigend, denn jetzt geht man dazu über, ganze Poliklini- ken und Krankenhäuser auf das Prinzip der Eigenfinanzierung um- Dt. Ärztebl. 85, Heft 18, 5. Mai 1988 (31) A-1255

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zustellen. Kostenpflichtige Poliklini- ken und andere Einrichtungen gab es auch bisher schon, vorwiegend für Zahnbehandlung, Zahnersatz und verschiedene Dienste, die von den territorialen Anstalten nicht ange- boten wurden (zum Beispiel Homöopathie). Sie durften Gewinn erwirtschaften, mußten ihn aber ab- liefern. Nach dem neuen Modell er- hält zum Beispiel eine städtische Po- liklinik eine Pauschalsumme, die sich aus den jährlichen Pro-Kopf- Aufwendungen für medizinische Zwecke (1986: etwa 70 Rubel), mul- tipliziert mit der Einwohnerzahl des Einzugsbereichs (200 000 bis 250 000), errechnet. Oder sie erhält aufgrund eines Vertrages mit den Gesundheitsbehörden (oder Groß- betrieben) von diesen die pauscha- lierten Kosten für jede nachgewiese- ne Behandlung erstattet. Neu ist, daß die Chefärzte mit einem Teil des Geldes nun freier operieren können.

Sie dürfen durch mehr und bessere Arbeit Personal einsparen und die so gewonnenen Mittel für Gehalts- zulagen, Prämien, Wohnungsbau und Sozialleistungen verwenden.

Programmziel Vorsorge Ähnlich ist das Verfahren in den Modell-Krankenhäusern. Hier ken- nen wir einige Anhaltszahlen, die der Rechnung zugrunde liegen kön- nen. Ein Pflegetag ist in einem mitt- leren Krankenhaus mit rund zehn Rubeln anzusetzen. Die Behandlung eines internistischen Patienten ver- braucht mindestens 200 und eines chirurgischen 500 Rubel. Soviel ko- stet eine Appendektomie, während eine Herzoperation mit 1500 bis 2000 Rubel zu Buche schlägt. Eine Interruption wird mit 93 Rubel be- wertet. Das Ziel dieses Modells für die Krankenanstalten der Zukunft ist die Umerziehung des Personals.

Ärzte und Schwestern sollen nicht mehr nur Weisungsempfänger sein, die ohne Anstrengung und unabhän- gig vom Ergebnis ihrer Arbeit regel- mäßig in den Genuß ihres festen Ge- halts kommen Sie sollen lernen, daß sie sich selber bessere wirt- schaftliche und soziale Bedingungen erarbeiten können. Damit wird, so

versichern die Gesundheitspolitiker, das Gesundheitssystem insgesamt effizienter werden; Krankenstand, Morbidität und Mortalität werden sinken.

Vor allem im ambulanten Ver- sorgungssystem ist die Erhaltung der Gesundheit bei der gesunden Bevöl- kerung das vorrangige Kriterium.

Vorsorge wird ganz groß geschrie- ben. Sie soll die Leitlinie der künfti- gen Gesundheitspolitik sein (war es übrigens schon in den ersten Partei- programmen). Das beginnt bei der Erziehung zur „gesunden Lebens- weise": 30 Prozent der Bürger ha- ben Übergewicht, 70 Millionen rau- chen, auch 60 Prozent der 16jähri- gen, zwei Drittel der Bevölkerung halten nichts von aktivem Sport und Leibesübungen. Viel zu viele kön- nen es immer noch nicht lassen, sich mit Alkohol und — zunehmend — auch mit anderen Drogen zu vergif- ten. Diesen Kampf gegen das süße Leben sollen die Mediziner führen (sie trinken und rauchen doch selber so gern!), zusammen mit Gewerk- schaften, Partei- und Jugendverbän- den, den Medien usw.

Zur Vorsorge gehört der ganze Komplex des Umweltschutzes, ge- gen den auch die sowjetischen Be- hörden sträflich sündigen. Der Hy- gieneaufsicht werden schwere Ver- säumnisse vorgeworfen: Verunreini- gungen der Luft und des städtischen Trinkwassers in großem Umfang durch industrielle Schadstoffe, Kon- taminationen der Nahrungsmittel durch Pestizide und pathogene Kei- me — an mehreren Orten sind im ver- gangenen Jahr Massenerkrankungen an Ruhr aufgetreten — und das be- vorstehende Umkippen oder Aus- trocknen der großen Wasserreser- voire — des Bajkal-, des Aral- und nun auch des Ladogasees. Tscherno- byl droht überall. Die hohe Infek- tionsrate in Krankenhäusern, Ent- bindungs- und Kinderheimen und die vielen Berufserkrankungen spre- chen für das noch unterentwickelte Hygiene-Bewußtsein. 1986 starben in der Turkmenischen SSR mehr als 58 von 1000 Säuglingen im ersten Lebensjahr (in der Bundesrepublik weniger als neun)!

Diese „schreiende(n) Unzu- länglichkeiten in unserer medizini-

schen Versorgung" (Gorbatschow) machen die Vorsorge zu einem emi- nent wichtigen Programmziel. „Auf allen Entwicklungsetappen des so- wjetischen Gesundheitswesens war und bleibt die Prophylaxe das grund- legende Prinzip, die Ideologie des Gesundheitsschutzes. Ihrem Wesen nach ist die Prophylaxe ein Komplex von Maßnahmen, gerichtet auf die Gesundheit der Menschen auf ho- hem Niveau, auf ein kreatives langes Leben, auf die Beseitigung jeglicher Ursachen für Krankheiten, auf die Verbesserung der Arbeits- , Lebens- und Erholungsbedingungen und auf den Schutz der Umwelt."

Die Bevölkerung soll durchuntersucht werden Wie effektiv die Vorsorge-Maß- nahmen sein werden, soll die vom 27. Parteitag der KPdSU im März 1986 beschlossene Durchuntersu- chung der gesamten Bevölkerung zeigen. Bestimmte Gruppen von Gesunden und Kranken unterlagen auch bisher schon der regelmäßigen Kontrolle. Nun sollen in zwei Etap- pen alle 280 Millionen Sowjetmen- schen auf Herz und Nieren geprüft werden — bis 1991 neben den chro- nisch Kranken, Kindern und Jugendlichen, Schwangeren und Kriegsveteranen auch die Arbeiter und Angestellten bestimmter Zwei- ge der Industrie und Landwirtschaft;

bis 1995 dann der Rest. Die techni- schen, personellen und logistischen Probleme dieser gewaltigen Veran- staltung, die regelmäßig wiederholt werden soll, sind noch nicht gelöst.

Für die Bürger ist die Teilnahme daran keine strafbewehrte Pflicht, aber eine moralische Verpflichtung, der sich kaum einer entziehen wird.

„Der Staat wird die Sorge für die Gesundheit jedes Bürgers in ihrer höchsten Form auf sich nehmen — in der aktiven dynamischen Beobach- tung . . . während seines ganzen Le- bens." Orwells „1984" durften die- se Bürger nicht lesen; das böse Jahr ist ja auch schon verstrichen.

Die beiden Zitate stammen aus dem ersten umfassenden Perestroj- ka-Programm, den „Hauptrichtun- gen für die Entwicklung des Ge- A-1256 (32) Dt. Ärztebl. 85, Heft 18, 5. Mai 1988

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DEUTSCHES

ÄRZTEBLATT I

;1 Hei «in

sundheitsschutzes", die alle geplan- ten Reformen bis zum Jahre 2000 vorzeichnen (Prawda vom 27. No- vember 1987). Mehr Leistung for- dert das Dokument, mehr Qualität, Kontrolle, Effektivität und Effizienz

— wie bisher. Dafür verspricht es — später einmal — mehr Selbständig- keit, Vertrauen und Lohn für das Fachpersonal und mehr (verordne- te) Gesundheit in einer gesunden Welt für die Bürger. Die Absichtser- klärungen in allen Bereichen — von der besseren Altenpflege bis zur aus- reichenden Produktion von Compu- ter-Tomographien — sind gigantisch, ihre Kosten unabsehbar. Bisher schon war das Gesundheitswesen mit vier Prozent Anteil (16 bis 18 Milliarden Rubel) am Staatshaushalt nicht ausgekommen, weil es sich nach dem „Rest-Prinzip" (Gorba- tschow) mit dem begnügen mußte, was andere, wichtigere Ressorts üb- riggelassen hatten. Und das Gesund- heitswesen ist ja nur ein kleiner Be- reich in den Umgestaltungen und Erneuerungen der gesamten Volks- wirtschaft.

Trotzdem kann ein Teil der an- gekündigten Reformen wahrschein- lich verwirklicht werden. Ein Zu- rück zum status quo ante gibt es oh- nehin nicht mehr, nachdem offen- sichtlich geworden ist, daß das be- stehende Gesundheitssystem für die Bedürfnisse der dreißiger und vierzi- ger Jahre konstruiert worden war, aber nicht für eine moderne Indu- striegesellschaft. Daß aber die Um- gestaltung des Gesundheitsdienstes und das dafür erforderliche radikale Umdenken so gründlich ausfallen werden, wie Tschasow und der Mini- sterrat ankündigen, noch dazu in nur wenigen Jahren, ist kaum anzuneh- men. Die finanziellen, materiellen und technischen Probleme sind enorm. Daneben sollten die innere Opposition, die Trägheit und der liebgewordene Schlendrian, nicht unterschätzt werden.

Anschrift des Verfassers:

Univ.-Prof. Dr. med.

H. Müller-Dietz Osteuropa-Institut der Freien Universität Garystraße 55 1000 Berlin 33

AIDS-Forschung auf hohem Niveau

Nach ausführlichem Meinungs- austausch mit dem Amerikaner Ro- bert Gallo erläuterte Bundesgesund- heitsministerin Rita Süssmuth auf ei- ner Pressekonferenz am 21. März in Bonn den Stand der AIDS-For- schung und Epidemiologie in der Bundesrepublik. Im internationalen Vergleich habe die bundesdeutsche Forschung ein beachtliches Niveau erreicht, so die Ministerin. Neben anderen Forschungsschwerpunkten halte sie die „Erforschung der psy- chischen Einflüsse auf das Körper- geschehen, des sozialen Umfeldes und der gesellschaftlichen Auswir- kungen" für besonders bedeutend.

Die Zahl der von der Bundesre- gierung geförderten Forschungsvor- haben sei sprunghaft angestiegen:

Waren es 1985 noch zwölf, so wer- den heute vom Nationalen AIDS- Zentrum in Berlin 70 solcher Vorha- ben mit einem Gesamtvolumen von rund 40 Millionen DM betreut. Dar- über hinaus, so die Gesundheitsmi-

Herz-Lungen-Wieder- belebung für Laien

Ein Kursprogramm in Herz- Lungen-Wiederbelebung (HLW) hat der Malteser Hilfsdienst (MHD) bundesweit gestartet. Ab sofort ste- hen rund 2000 Ausbilder des MHD bereit, um möglichst viele Menschen in der Herz-Lungen-Wiederbele- bung zu unterrichten.

Auf einer Pressekonferenz am 17. März in Köln erklärte General- sekretär Johannes Freiherr Heere- man, es sei besonders wichtig, die Bevölkerung von der Notwendigkeit zu überzeugen, diese lebensrettende Technik zu erlernen. Von den etwa 90 000 plötzlichen Herztoten pro Jahr in der Bundesrepublik könn- ten, so Heereman, sehr viele geret- tet werden, wenn es gelänge, die HLW-Technik nicht nur wie bisher bestimmten Zielgruppen, sondern der breiten Bevölkerung beizubrin- gen. Die fünf Minuten, die nach ei-

nisterin, werde intensiv innerhalb der regulären Etats von Hochschul- instituten, Kliniken und Forschungs- einrichtungen geforscht.

Dennoch müsse die Forschung weiter ausgebaut und forciert voran- getrieben werden. Ein Verbundpro- jekt, in dem elf verschiedene For- schungseinrichtungen und Kliniken seit Februar in München zusammen=

arbeiten, wurde von Frau Süssmuth in diesem Zusammenhang ausdrück- lich begrüßt. Sie forderte die phar- mazeutische Industrie auf, zu ähn- licher Kooperation zusammenzufin- den.

Zum Thema der internationalen Zusammenarbeit hob die Ministerin besonders die Kooperation inner- halb der EG hervor: Hier soll eine bereits im Aufbau befindliche zen- trale Einrichtung zur Erfassung, Auswertung und Weitergabe epide- miologischer Daten (EURAIDS) ausgeweitet und über die EG hinaus in ganz Europa eingerichtet werden.

Daneben sei die bilaterale Koopera- tion zwischen der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten von be- sonderer Bedeutung. öck

nem plötzlichen Herzstillstand ver- bleiben, um das Leben des Sterben- den zu retten, seien in der Regel zu kurz für eine rechtzeitige Hilfe durch den Rettungsdienst.

Die HLW-Ausbildung soll zu- nächst als Ergänzung zur Ausbil- dung in Erster Hilfe in Kursen von drei Doppelstunden angeboten wer- den. Für das nächste Jahr ist ge- plant, die Ausbildung in Erster Hilfe zu aktualisieren und die Herz-Lun- gen-Wiederbelebung darin einzu- gliedern.

Das Programm des MHD wird von der Bundesärztekammer prinzi- piell begrüßt. Schon bald aber, so Dr.

med. Peter Knuth von der BÄK, wer- de der im Februar neugegründete Ge- meinsame Beirat für Erste Hilfe und Wiederbelebung einheitliche medizi- nische Richtlinien für die Ausbildung in der Wiederbelebung erarbeiten.

Diese Richtlinien müsse der MHD, der an der Arbeit des Beirates betei- ligt ist, dann auf sein Kursprogramm anwenden. öck A-1258 (34) Dt. Ärztebl. 85, Heft 18, 5. Mai 1988

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