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Archiv "„Absolute Überbetonung von Leistung“" (05.09.2003)

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xtrem lange Arbeitszeiten mit Nacht- und Rufbereitschaft, starke Zu- kunftsängste und ökonomische Un- sicherheiten – bei einem großen Anteil der berufstätigen Ärzte ist die Arbeitsbe- lastung so hoch, dass sie sich offenbar ne- gativ auf ihre Lebenszufriedenheit und Gesundheit auswirkt. Dies haben Rei- mer und Jurkat, Klinik für Psychosoma- tik und Psychotherapie der Universität Gießen, bereits 1996 in einer Studie fest- gestellt (1). Die Autoren fanden bei einer Befragung von niedergelassenen Ärzten in Mittelhessen heraus, dass nur ein Vier- tel der Befragten ihren Kindern raten würde, den Arztberuf zu wählen. 36 Pro- zent der Ärzte würden ihren Beruf selbst nicht noch einmal wählen. Mehr als die Hälfte der Befragten schätzte, dass ihr Lebensstil ihre Gesundheit beeinträch- tigt oder stark beeinträchtigt. Als Verän- derungswünsche für ihr Privatleben ga- ben die meisten an, mehr Zeit für ihre Kinder, Partnerschaft und sich selbst ha- ben zu wollen.

Erhöhte Suchtgefährdung

Die beeinträchtigte Lebenszufriedenheit scheint ein Grund für die erhöhte Sucht- gefährdung von Ärzten zu sein. Dass die- se besteht, darin gibt es in der Literatur Übereinstimmung. Bohigian et al. (1994) schätzen, dass zehn bis 15 Prozent aller Mediziner irgendwann in ihrem Leben substanzabhängig sind. Dass süchtige Ärz- te mit ihrem Leben noch weniger zufrie- den sind als Nicht-Abhängige, liegt nahe und wurde von Reimer et al. in einer Stu- die bestätigt (2). Signifikante Unterschie- de fanden die Autoren auch im Umgang mit Anspannungen, die aus der Arbeit re- sultieren: 80 Prozent der substanzabhän- gigen Ärzte gaben an, dass sie solche

Spannungen eher mit sich selbst austra- gen beziehungsweise Alkohol und Niko- tin oder auch illegale Drogen zur Entspan- nung wählen. Die Kontrollgruppe hinge- gen bewältigt Spannungen eher durch sportliche Aktivitäten, Pflege kollegialer Kontakte und Gespräche mit dem Part- ner. Bei Substanzabhängigen ist zudem der Nikotinkonsum wesentlich höher.Sie leiden stärker an Ein- und Durchschlaf- störungen und nehmen entsprechend mehr Schlaf- und Beruhigungsmittel.

Reimers und Jurkat legen den Ärzten nahe, die Empfehlungen für ihre Patien- ten zu einer gesunden Lebensführung zu beachten und für ihre eigene Psychohy- giene zu sorgen. Dies bedeutet, sich be- wusst mehr Zeit für Entspannung, für die Familie oder den Partner zu gönnen, sich ausreichend zu bewegen, gesund zu ernähren und auf Suchtmittel zu verzich- ten. Besonders für Ärzte ist es wichtig, zum Ausgleich für den belastenden Be- rufsalltag auf ein befriedigendes Privatle- ben zu achten und sich von den berufli- chen Belastungen auch abgrenzen zu können. Zur Prophylaxe sollten bereits Medizinstudenten systematisch über die Stressoren des Arztberufes aufge- klärt werden und berufstätige Ärzte in Fortbildungsveranstaltungen und Semi- naren über Möglichkeiten der Präventi- on informiert werden, fordern die Auto- ren. Ärzte und Ärztinnen müssten sich dabei auch über eine mögliche Suchtge- fährdung bewusst werden können, die sie vielleicht aufgrund ihrer eigenen Helferrolle verdrängen. Petra Bühring

Literatur

1. Reimer C, Jurkart H: Lebensqualität von Ärzten. Pessi- mismus macht sich breit. Dtsch Ärztebl 1996; 93: A- 1022–1024.

2. Reimer C, Jurkart H, Mäulen B, Stetter F: Zur Proble- matik der Suchtgefährdung von berufstätigen Medizi- nern. Psychotherapeut 2001; 46: 376–385.

P O L I T I K

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A2272 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 365. September 2003

Lebenszufriedenheit von Ärzten

Für Psychohygiene Sorge tragen

Die Belastungen des Arztberufes können Lebens- qualität und Gesundheit stark beeinträchtigen.

Deutsches Ärtzeblatt:Sie haben viele Ärztinnen unter Ihren Patienten, die aufgrund der Belastungen in ihrem Be- ruf Ihre Hilfe suchen. Was sind deren Hauptprobleme?

Heidrun Wendel:Bei den Ärztinnen häufen sich Essstörungen. Ich habe sehr übergewichtige, aber auch magersüchti- ge Frauen in Therapie. Bei den überge- wichtigen Frauen habe ich das Gefühl, dass sie sehr viel in sich reinfressen – im wahrsten Sinne des Wortes – also Pro- bleme, die sie im Alltag nicht bewältigen können. Die Diskrepanz zwischen dem, was sie anderen erzählen und dem, wie sie tatsächlich leben, ist sehr groß. Sie sind unzufrieden in der Partnerschaft und der Familiengestaltung, haben eine gestörte oder fehlende Sexualität.

Gleichzeitig erlebe ich Ärztinnen, die im Trubel des Berufsalltags das Essen vergessen oder besser: sich vergessen.

Das heißt, sie beginnen den Tag ohne Frühstück, rauchen viel, trinken Unmen- gen Kaffee, nehmen mittags schnell was auf die Hand. Abends kommen sie mit ausgebranntem Magen nach Hause – der Kühlschrank ist leer, weil sie es nicht ge- schafft haben einzukaufen. Dann ist wie- der Fastfood angesagt. Diesen Frauen ist meist gar nicht bewusst, was sie ihrem Körper antun.

DÄ:Suchen auch Ärzte Ihre Hilfe?

Wendel: Nein, es sind hauptsächlich Frauen. In letzter Zeit kommen aber häufig die Partner von Ärztinnen zu mir, die sehr unzufrieden sind, weil sie das Gefühl haben, sehr wenig von ihren Partnerinnen mitzubekommen. Sie erle- ben ihre Frauen meist ausgebrannt:

Nach vielen Stunden Schichtdienst kom- men sie nach Hause, sind völlig erledigt, können nur noch schlafen. Die Frauen müssen psychisch und körperlich bis zum nächsten Dienst wieder aufgebaut werden. Die Partner erleben das als fremdbestimmtes Leben, sie haben das Gefühl, allein zu zweit zu sein. Das Pfle- gen von Freundschaften ist nicht mög- lich, gemeinsame Hobbys sind ebenso- wenig möglich.

DÄ:Was halten Sie von der Aussage des Präsidenten der Bundesärztekam- mer auf dem letzten Deutschen Ärzte- tag: „Für viele ist es immer noch eine Be- rufung, Arzt zu sein. Sie gehen der Pro- fession mit Leib und Seele nach.“

Wendel:Da ist viel Wahres dran. Das Engagement, das Ärzte für ihren Beruf

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aufbringen, können sie nicht gleicher- maßen für ihre Beziehung aufbringen und auch nicht für ihre Kinder. Noch schwieriger ist es, ein guter Freund oder guter Nachbar zu sein, der soziale Kon- takte pflegt. Viele vernachlässigen auch die körperliche Pflege. Ich habe viele Ärztinnen in Therapie, die sich gehen lassen – die nicht mal mehr zur eigenen Körperpflege kommen. Viele greifen auch häufig zu Drogen wie Aufputsch- mittel, Zigaretten und Kaffee. Bis zu fünf Aspirin am Tag sind bei einigen normal, um dem Schlafdefizit entgegen- zuwirken.

DÄ: Sehen die Betroffenen dies als behandlungsbedürftiges Problem an?

Wendel: Es gibt eine erschreckende Mischung aus Verleugnung, Verdrän- gung und Selbsterkenntnis. Gleichzeitig ist das Gefühl vorhanden, nach außen hin so tun zu müssen, als ob sie alles im Griff hätten, gesundheitlich fit sind, weil

sie der Gesundheit anderer dienen.Viele geraten in eine Sackgasse, trauen sich nicht, Partner, Freunden oder Kollegen von ihren Problemen zu erzählen. Ich beobachte ein verstecktes, einsames Le- ben bei vielen Ärztinnen, bis sie das Gefühl haben, dass es so nicht weiter- gehen kann und sich ein Leidensdruck einstellt – der die Voraussetzung für eine Therapie ist.

DÄ: Welche Möglichkeiten der thera- peutischen Intervention gibt es?

Wendel: Ich unterstütze die Ärztin- nen zunächst in der Wahrnehmung ihres Leids. Die meisten glauben zu Anfang, sich alles nur einzubilden, eigentlich al- les schaffen zu müssen. Sie meinen, es ginge ihnen gut, denn sie haben einen Partner, Kinder und ein finanzielles Aus- kommen. Gleichzeitig relativieren sie das eigene Leiden angesichts des Leids ihrer Patienten.

Ich unterstütze die Betroffenen, sich selber zu helfen, Ansätze zu finden, mit denen Erfolgserlebnisse schnell spür- bar werden. Das sind beispielsweise or- ganisatorische Dinge wie: sich einmal

in der Woche einen Baby- sitter nehmen, um wieder Zweisamkeit in der Part- nerschaft zu erleben. Oder sich eine Biokiste mit Gemüse einmal in der Wo- che liefern zu lassen, wenn sie nicht regelmäßig ein- kaufen können. Es sind oft alltägliche praktische Dinge, die aber bei den ge- bildeten Ärztinnen oft nicht ausgebil- det sind. Das ist zunächst die schnelle Kurzhilfe.

DÄ:Und dann?

Wendel:Ich schaue dann, warum die Frauen so leben. Das kann zum Beispiel damit zu tun haben, dass sie stark verin-

nerlicht haben, sich anstrengen zu müssen, perfekt zu sein, keine Fehler machen zu dürfen. Ich versuche, heraus- zufinden, woher die absolute Überbeto- nung von Leistung kommt. Häufig lei- sten Ärztinnen sehr viel, haben aber trotzdem ein geringes Selbstwertgefühl.

Ein Grund ist, dass sie Liebe einfach ih- rer selbst wegen, häufig als Kind nicht erlebt haben. Bei der Gestaltung ihrer beruflichen Situation, bei Partnerschaft und Freundschaften haben sie die Idee, viel Leistung bringen zu müssen, um überhaupt geliebt zu werden und Aner- kennung zu bekommen.

Das sind häufig alte Muster, Gefühle nicht wahrzunehmen oder nicht zu äußern. Dann ist es wichtig, tiefenpsy- chologisch nach den Ursachen zu schauen: Welche Überlebensstrategien wurden früher ergriffen, um zu überle- ben? Was war damals notwendig, für das es heute andere Gestaltungsmög- lichkeiten gibt?

DÄ: Raten Sie angestellten Ärztin- nen, von ihren Arbeitgebern mehr Rech- te einzufordern, zum Beispiel ein Recht auf Privatleben, Recht auf geregelte Ar- beitszeiten?

Wendel:Ich rate eher wenig. Wichtig ist, beim eigenen Selbstverständnis an- zufangen. Um auf die Strukturen einzu- wirken, ist politische Arbeit notwendig.

Wichtig ist, die eigene Haltung stark zu machen, zu spüren, was man braucht.

Wenn ich diese Haltung anderen und mir selber gegenüber einnehme, kann ich mehr verändern und bewegen, als wenn ich es infrage stelle. Das heißt, wenn ich selber nicht weiß, ob es mir gut gehen darf, kann ich auch von anderen nicht erwarten, dass sie darauf Rück- sicht nehmen.

DÄ:Wie gehen Sie bei den Lebens- partnern von Ärztinnen vor?

Wendel:Mein Ansatz bei Partnern ist, sie ernst zu nehmen in ihrem Leid. Ich stärke sie in ihrer Selbstständigkeit.

Wenn die Männer enttäuscht und fru- striert zu mir kommen, weiß ich, dass sie einer Illusionen erlegen sind. In dem Sin- ne, dass die Partnerin für die Befriedi- gung all ihrer Bedürfnisse zuständig sein soll. Ich ermuntere diese Klienten, zu mehr Selbstständigkeit, beispielsweise, eigene Hobbys wieder aufzunehmen.

Oder, wenn durch die Wechselschicht der Partnerin der Freundeskreis ver- nachlässigt wurde, eigenständig Freund- schaften zu pflegen. Das hat oft auch Synergieeffekte auf die Partnerin.

DÄ-Fragen: Petra Bühring P O L I T I K

Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 365. September 2003 AA2273

„Absolute Überbetonung von Leistung“

Ich beobachte ein verstecktes,

einsames Leben bei vielen Ärztinnen, bis sie das Gefühl haben, dass es so nicht weitergehen kann.

Foto:privat

Die Psychologische Psycho- therapeutin Heidrun Wendel hat zunehmend Ärztinnen – und deren Lebenspartner – in ihrer Praxis, die unter den

Anforderungen des Arzt-

berufes leiden.

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