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Archiv "Das gewisse Etwas" (28.11.1984)

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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Kulturmagazin

Das gewisse Etwas

anchmal gibt eine gängige Plattheit plötzlich Tiefe preis. Da singt Marlene Dietrich „Nimm dich in acht vor blonden Frau'n, sie haben so et- was Gewisses." Das singt sie dank Electrola seit 1930. Und plötzlich tut sich eine anregen- de, sogar aufregende Perspekti- ve bis ins Altertum auf. Dieses

„gewisse Etwas" ist nämlich das griechische „ti esti", das latei- nische „nescio quid", das spani- sche „no sö quö", das französi- sche „je ne sais quoi", das engli- sche „it". Ein schillernder Be- griff, der durch die Kulturen und ihre geistige Geschichte geht, durch die Jahrhunderte und Jahrtausende. Seit der Antike dient er zur Umschreibung des objektiv nicht Faßbaren.

Im zweiten Buch des Lehrge- sprächs „Über die Gesetze" (De legibus) ließ Cicero einen gewis- sen Marcus die Landschaft Lati- um als seine Heimat preisen:

„Deshalb empfinde ich in mei- nem Innern heimlich ein unbe-

schreibliches Gefühl (qua re in- est nescio quid et latet in animo ac sensu meo) und dieser Ort macht mir vielleicht deswegen um so mehr Freude." Dies die klassische und immer noch nor- male Anwendung, der mehr oder minder gedankenlose Be- helf für irgendetwas Gedanken-

Marlene Dietrich, die Lady mit dem gewissen Etwas, sagt über ihr Image als Kult- figur, sie sei

„zu Tode fotogra- fiert" worden

tiefes, benutzt vor allem für Selbsterklärungen und zur Um- schreibung von nicht erklärba-

ren Gemütsregungen.

Als Augustinus sein Gewissen erforschte, erkannte er, wie falsch es ist, sich mit dieser va- gen Formel zufriedenzugeben:

„Ich war gewohnt, mich freizu- sprechen und etwas Unbekann- tes, Anderes (nescio quid aliud) schuldig zu sprechen, das in mir stecke und das ich gar nicht sei.

In Wirklichkeit aber stand hinter dem Ganzen ich allein, und nur meine Gottferne war es, die mich wider mich aufgespalten hatte. Und das war Sünde." I>

Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 48 vom 28. November 1984 (57) 3593

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Manchmal geht von Men- schen oder Dingen ein heim- licher Zauber aus, eine natür- liche Anmut, die man nicht genau bestimmen kann und die man deshalb das gewisse Etwas nennen müßte. Mir scheint, es handelt sich dabei um eine Wirkung, die auf Überraschung beruht.

Montesquieu: Artikel „Gout"

in der Encyclop&lie von Di- derot/Alembert, 1751

Ich weiß von einem ganz be- sonderen Fall, er betrifft ei- nen meiner Freunde. Egal, was er tut, ihm wird immer verziehen. Das liegt nicht an seinem Aussehen, obwohl er wahnsinnig gut aussieht. Es liegt nicht an seiner Intelli- genz oder an seinem Charak- ter oder seiner Persönlich- keit, es liegt ganz einfach am gewissen Etwas.

Glyn: „The Man and the Mo- ment", 1915

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Das gewisse Etwas

„Vünkelin der Söle"

Die spanischen Mystiker Juan de la Cruz und Teresa von Avila haben den Begriff benutzt, um Ekstase und Vergöttlichung aus- zudrücken. Meister Eckart sprach vom „Etwas" in der See- le, zunächst lateinisch: aliquid in anima. Dann fand er eine schö- nere Umschreibung für jene im- materielle Qualität, die als Gna- dengeschenk zuteil werde und einen prominenten Platz auf dem Stufenweg des Heils zuge- wiesen bekam: Seelenfünklein,

„vünkelin der söle". Es erleuch- tet die Stufen zur unio mystica, und dem Erleuchteten merke man diese Einstrahlung der Ge- genwart Gottes an. „In euren Wunderzügen scheint irgend et- was Göttliches zu brennen", sagte Dante bei seiner Wande- rung durch den Mondhimmel zur (verhinderten) Nonne Pic- carda Donati.

Was Dante als Abglanz gött- licher Schönheit deutete, sah der nur eine Generation jüngere Petrarca schon recht profan aus den Augen seiner Laura leuch- ten. Inkarnation der idealen Schönheit in der menschlichen.

Das ist der Abstieg von der Göt- tin zur Diva. Petrarcas Laura hat nicht nur engelhaften Sinn, wie fünfzig Jahre früher Beatrice, sondern durchaus auch körper-

liche Schönheit. In ihrem Blick mache „ein Unbestimmtes" die Nacht zum Tage, heißt es im 179. Sonett auf Laura. Diese Lobgesänge machten jahrhun- dertelang Schule, bis der „Pe- trarkismus" in besinnungsloser Schwärmerei für jene „Zauber- macht" verkam.

Petrarca schrieb 300 Sonette für Laura, Joachim Du Bellay, der

„französische Ovid", schaffte nur 115 zum Lobe seiner Viola.

Auch er kam ohne das Je-ne- sais-quoi nicht aus: „Ceste gra- ce, et doulceur, et ce je ne scay quoy". Grazie und Anmut, selber schwer zu präzisieren, blieben undefiniert, das gewisse Etwas

scheint eine Übersteigerung dieser beiden Werte sein zu sol- len. Im März 1635 sprach ein ge- wisser Gombauld vor der Acada- mie Francaise über das Je-ne- sais-quoi. Es war eine der ersten Zusammenkünfte dieses von Ri- chelieu patronisierten Gremi- ums, so dringlich und so ernst- haft schien dieses Thema. Es war eine Periode des Feminis- mus, wie der Minnesang. Die Da- men waren der Lohn, aber die Regeln bestimmten sie selber.

Die geheimnisvolle Macht, wel- che die Menschen zueinander- treibt — die französischen Klassi- ker haben sich sehr gemüht, ihr

Walten darzustellen. Sie kon- struierten geistreiche Grenzfäl- le, um Gefühle zu profilieren. In Corneilles Oedipus-Tragödie gesteht die Verlobte des The- seus, sie liebe ihren Bruder Ödi- pus. Und sie umschreibt diesen Zwiespalt der Gefühle in typi- scher Je-ne-sais-quoi-Manier:

„Ich weiß nicht, was mir daran gefällt, das sich nicht auszu- drücken wagt, und diese verwor- rene Mischung hat irgend etwas, das mich bezaubert." Corneilles Medea versucht, dem König von Athen die Macht der Liebe der- art klarzumachen: „Oft weiß ich nicht, was mir daran gefällt. Man kann es nicht ausdrücken, was uns überrascht, uns hinreißt, zur Liebe zwingt. Oft blenden die Objekte unserer Leidenschaft grundlos unsern Blick und er- greifen unsere Herzen." Pascal polemisierte gegen diese Dar- stellung von Ursachen und Wir- kungen der Liebe, speziell bei Corneille. Er fand die Auswir- kungen erschreckend: „Dies Ich-weiß-nicht-was, das so we- nig ist, daß man es kaum fassen kann, setzt die Erde, die Für- sten, die Heere, die ganze Welt in Bewegung." Es ist, als habe Pascal künftigen massenmedia- len Rummel vorausgesehen.

Kein Arbiter moralis kam damals ohne jenes undefinierbare In- grediens aus, das alle Vorzüge krönte wie der Sahneklecks die kunstvolle Torte.

Als Goethe die Worte fehlten Don Quichote erklärt einem Pa- gen, der Waffendienst habe den Wissenschaften ein Gewisses Etwas voraus. Ein andermal nennt er den Neid das lästerlich- ste Laster, weil alle anderen

„ein gewisses Etwas an Genuß"

böten, der Neid aber nur Ärger, Groll und Wut. Überhaupt ist Don Quichotes Welt voller no sä quö, er beschwört mit dieser Formel die hochgespannten rit- terlichen Erwartungen, vergeb- lich natürlich, als letzter Ritter in veränderter Zeit. Goethe be-

3594 (58) Heft 48 vom 28. November 1984 81. Jahrgang Ausgabe A

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Das gewisse Etwas

Wie kommt das gewisse Etwas der Dietrich rüber? Ist es der träge und doch aufreizende Blick ihrer Augen, ist es der sinnliche Mund (Seite 3594)? Sicher sind es nicht nur ihre berühmten Beine ... Foto: Filmarchiv Dr. Karkosch

nutzt die Phrase im „Wilhelm Meister", um einen geheimnis- vollen Zuwachs an Wohlgefallen zu umschreiben, den eine Schauspielerin gewinnt, indem sie sich nach Wilhelms Grund- sätzen richtet. Sie „hatte zeither ein ich weiß nicht was in ihrem Wesen, das sie interessanter machte. Sie erlangte bald ein richtiges Spiel und gewann den natürlichen Ton der Unterhal- tung vollkommen und den der Empfindung bis auf einen ge- wissen Grad". Goethe hat also immerhin eine gewisse Erklä- rung beigefügt.

Auch Rousseau mühte sich, die Formel mit Inhalt zu füllen. Er stattete die „schöne Seele" sei- ner Romanheldin Julie mit ei- nem „je ne sais quoi d'expri- mable" aus, weil er sich mit „An- mut" (gräce) nicht zufriedenge- ben wollte. Im Alter, als Rous- seau die „Träumereien eines einsamen Spaziergängers"

schrieb, fand er dann den Aus- druck, der das „gewisse Etwas"

in neuer Variation in die Geistes- geschichte entläßt, das Adjektiv

„romantisch".

Auf den Sex-Appeal fixiert Bisheriger Höhepunkt in der Ge- genwart ist die zwei Erdteile um- spannende Missionstätigkeit der englischen Trivialschriftstellerin Elinor Glyn zugunsten des „it".

Sie war entsetzt über die ameri- kanische Art der Liebesbezie- hungen und machte Gegenpro- paganda, indem sie Verhältnisse darstellte, die nicht von Geld, sondern von Leidenschaften ge- prägt waren.

Im Winter 1923/24 hielt Elinor Glyn in einem New Yorker Vau- deville-Theater allabendlich Vorträge über das „it". Ein Vor- gang, der jener Akademie-Rede 300 Jahre früher ähnelte. Die Romanciäre und Drehbuchauto- rin Glyn war damals eine 59jähri- ge Witwe, frisch legitimiert für ihr Thema durch den Bestseller

„The Philosophy of Love". Für eine Wochengage von 500 Pfund trug Elinor Glyn eine Mi- schung von praktischen Rat- schlägen und unpraktischen Theorien über erotische Anzie- hung vor. Sie lebte seit ein paar Jahren in Hollywood. Ihre Dreh-

bücher brachten eine Film- schauspielerin ans Licht, die als

„it-Girl" bekannt wurde: Clara Bow. Sie hat das „it" zum Sex appeal konkretisiert.

Elinor Glyn hat „sex appeal"

und „it" stets auseinandergehal- ten wissen wollen. Doch der

„Dictionaire du Cinöma Univer- sel" (Paris 1970) erklärt Elinor Glyn zur Erfinderin des Sex ap- peal. In der Gangster-Komödie

„Some like it hot" (it!), die in den zwanziger Jahren spielt, kopier- te die Monroe Clara Bow in vie-

len Einzelheiten.

Wo enden? Es gibt kein Ende.

Es gibt nur Niederungen und Aufschwünge. Leider geht es schon lange tendenziell nach unten. In Köln singt man alle Jahre zum Karneval ein Lied des 1970 verstorbenenen unartigen Karnevalisten Horst Muys: „Wer das gewisse Etwas hat, der ist nicht für die Liebe tabu."

Anschrift des Verfassers:

Hans Daiber Hausacker 17 5064 Rösrath

Ausgabe A 81. Jahrgang Heft 48 vom 28. November 1984 (59) 3595

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