karl-friedrich ernst
Behinderung
und Teilhabe
Alle Leistungen und Rechte
Das neue Bundesteilhabegesetz steht im
Zeichen einer besseren Inklusion und soll mehr Unterstützungs- möglichkeiten und Selbstbestimmung für
Menschen mit Behinderung schaffen. Dieser Ratgeber bietet
Orientierung und informiert zum Beispiel über die vielfältigen Leistungen zur Rehabilitation und zur
Teilhabe am Arbeitsleben sowie über den Schwer- behindertenausweis. Wo gibt es Hilfe bei Streitigkeiten mit
Behörden oder dem Arbeitgeber? Vorgestellt werden auch spezielle Angebote für behinderte Kinder und Jugendliche.
9 783863 366360
Die Ratgeber der Verbraucherzentrale:
Unabhängig. Kompetent. Praxisnah.
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isbn 978-3-86336-636-0
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Behinderung und T eilhabe
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BEHINDERUNG UND TEILHABE
Alle Leistungen und Rechte
Das Bundesteilhabegesetz, Ende 2016 vom Bundestag verabschiedet, soll mehr Unterstützungsmöglichkeiten und mehr Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderungen schaffen. Die wesentlichen Änderungen des Behindertenrechts sind zu Beginn des Jahres 2018 in Kraft getreten.
Dieser Ratgeber leistet Orientierungshilfe und liefert Menschen mit Behinderung die Informationen, die sie brauchen, um ihre Rechte gegenüber Behörden und am Arbeitsplatz wahrzunehmen.
Karl-Friedrich Ernst ist Dezernent des Integrationsamts des Kommunal
verbands für Jugend und Soziales BadenWürttemberg und war viele Jahre Vorsitzender der Bundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsämter und Hauptfürsorgestellen. Er ist Herausgeber und Autor von vielen Publikationen zum Behindertenrecht.
Immer aktuell
Wir informieren Sie über wichtige Aktualisierungen zu diesem Ratgeber. Wenn sich zum Beispiel die Rechtslage ändert, neue Gesetze oder Verordnungen in Kraft treten, erfahren Sie das unter www.vz-ratgeber.de/aktualisierungsservice
KarlFriedrich Ernst
BEHINDERUNG UND TEILHABE
Alle Leistungen und Rechte
Rechtslage
1. Auflage 2018
Dieser Ratgeber ist bisher unter dem Titel »Behinderung« in der Reihe
»Rat geber Recht« in Zusammenarbeit mit dem Südwestrundfunk (SWR) erschienen, zuletzt in der 2. Auflage 2013. Er wurde für diese neue Ausgabe grundlegend überarbeitet, erweitert und aktualisiert.
© Verbraucherzentrale NRW, Düsseldorf, www.verbraucherzentrale.nrw Alle Rechte, insbesondere das Recht zur Vervielfältigung und Verbreitung, vorbehalten. Kein Teil des Werks darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Rechteinhabers reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
ISBN 9783863368289 Vorsicht, Risiko!
Tipp, Ratschlag Beispiel
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Wichtig
Checkliste
Vorwort 5
VORWORT
Liebe Leserinnen und Leser,
das neue Bundesteilhabegesetz soll Menschen mit Behinderung ermöglichen, mehr Teilhabe, mehr Inklusion und individuelle Selbst bestimmung zu erreichen. Doch nach wie vor ist das Sys
tem von Leistungen und Zuständigkeiten in unserem Sozialrecht für Laien nur schwer zu durchschauen. Menschen mit Behinde
rung und ihre Angehörigen beklagen oft den hohen Aufwand, der nötig ist, um an aktuelle und vor allem gebündelte Informa
tionen zu kommen. Dieser Ratgeber leistet Orientierungshilfe für die neue Rechtslage, zeigt Wege durch den Zuständigkeits
dschungel und informiert über die gesetzlichen Neuerungen.
Mit dem in seiner ersten Stufe am 1.1.2017 in Kraft getretenen Bundesteilhabegesetz hat das Behindertenrecht in Deutschland einen großen Umbruch erfahren. Mehrere Jahre wurde an die
sem Gesetz gearbeitet. Es soll die Forderungen der UNBehin
dertenkonvention umsetzen, denen sich vor einigen Jahren auch Deutschland angeschlossen hat.
Schon bisher hatte Deutschland zwar ein komplexes und umfas
sendes Hilfesystem für Menschen mit Behinderung, aber dies war, gemessen an den internationalen Forderungen, zu sehr auf Sondereinrichtungen und letztlich nicht auf gleichberechtigte Teilhabe, sondern eher auf Ausgrenzung ausgelegt.
Das Schlagwort heute heißt »Inklusion«. Menschen mit Behin
derung sollen, soweit möglich, also voll am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, schon im früheren Lebensalter. Sonder
kindergärten, Sonderschulen, Wohnheime, Werkstätten werden nicht mehr als der ideale Weg zu einer vollständigen Inklusion angesehen. Gefragt sind offene Lösungen mitten in der Gesell
schaft.
VORWORT 6
Die Philosophie des neuen Rechts heißt auch: heraus aus dem Fürsorgesystem der Sozialhilfe – hin zu mehr Selbstbestimmung.
700 000 der 10,2 Millionen Menschen mit Beeinträchtigungen erhalten nämlich die sogenannte Eingliederungshilfe, letztlich eine Sozialhilfeleistung.
Ein weiteres Schlagwort heißt: »personenzentriert und nicht ein
richtungszentriert«. Im Mittelpunkt soll also der individuelle Be
darf der Menschen stehen, es sollen nicht Einrichtungen belegt werden, weil sie nun einmal da sind.
Was sind nun die Kernpunkte des neuen Rechts? Es würde den Rahmen dieses Ratgebers sprengen, alles vollständig darzustel
len. Vor allem enthält das Bundesteilhabegesetz eine Reform der Eingliederungshilfe. In zwei Stufen werden hier zunächst die Einkommens und Vermögensschongrenzen für die Erbringung dieser Leistung erhöht, zunächst ab dem Jahr 2017, aber dann nochmals ab dem Jahr 2020. Die betroffenen Menschen sollen also deutlich mehr Vermögen ansparen dürfen, ohne dass der Staat darauf zurückgreift. Auch der Zugang zur Eingliederungs
hilfe soll – allerdings erst 2023 – verändert werden.
»PeerCounseling« ist ein weiteres Schlagwort moderner Behin
dertenpolitik, also die Beratung von Betroffenen für Betroffene, sozusagen durch Experten in eigener Sache. Deshalb soll es künftig eine unabhängige Teilhabeberatung geben, die der Bund fördern wird. Dieser stellt auch Mittel zur Entwicklung neuer An
sätze in der Rehabilitation und Prävention zur Verfügung.
Durch besser abgegrenzte Zuständigkeiten zwischen den gesetz
lichen Leistungsträgern soll mehr Sicherheit und Schnelligkeit in den Antragsverfahren erreicht werden. Die Inklusionsbetriebe werden ausgebaut, die gewählten Schwerbehindertenvertretun
gen werden gestärkt.
So wichtig die Gesetzesänderungen sind, sollte aber auch nicht der Eindruck entstehen, es sei in der Behindertenpolitik sozusagen »kein
Vorwort 7
Stein auf dem anderen geblieben«. Im Gegenteil: Viele bewährte In
strumente und Unterstützungsleistungen sind erhalten geblieben und wurden nur weiter ausgebaut. So wurde das Schwerbehinder
tenrecht, das mehr als 7,5 Millionen Menschen in Deutschland be
trifft, im Sozialgesetzbuch IX lediglich nach hinten verschoben und erhält weitgehend neue Paragrafenziffern. Alleine schon das hat eine Neuauflage dieses Ratgebers erforderlich gemacht.
Wenn Sie Anmerkungen oder Verbesserungsvorschläge zu die
sem Buch haben, schreiben Sie uns unter publikationen@ver
braucherzentrale.nrw. Wir freuen uns über Ihre Beiträge und Rückmeldungen!
Karl-Friedrich Ernst Karlsruhe, im Oktober 2017
9
UMFASSEND, ABER SEHR KOMPLIZIERT:
DAS DEUTSCHE SOZIALSYSTEM
WER IST BEHINDERT UND WER STELLT DIES FEST?
24 Behinderung 26 Schwerbehinderung 30 Der Schwerbehindertenausweis
34 Besonders betroffene schwerbehinderte Menschen 35 Wesentliche Behinderung
36 Rechtsschutz 38 Die Gleichstellung
40 Fragerecht des Arbeitgebers nach einer Schwerbehinderung
TEILHABE BEHINDERTER MENSCHEN
44 Der Begriff der Teilhabe
44 Selbstständiges und selbstbestimmtes Leben 44 Kinder im SGB IX
45 Qualitätssicherung
47 Leistungsgruppen und zuständige Rehabilitationsträger 49 Regelung über die Zuständigkeitsklärung
51 Die Eingliederungshilfe für behinderte Menschen 53 Das Bundesteilhabegesetz (BTHG)
53 Wunsch- und Wahlrecht behinderter Menschen 55 Persönliches Budget
56 Einzelne Leistungen zur Teilhabe 56 Medizinische Rehabilitation
58 Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben 62 Soziale Teilhabe
INHALT
01
02
03
10 INHALT
HILFEN FÜR BEHINDERTE KINDER UND JUGENDLICHE
66 Früherkennung und Früh förderung für behinderte Kinder 68 Leistungen zur Teilhabe an Bildung
70 Wie geht es nach der Schule weiter?
70 Unterstützte Beschäftigung
72 Ausbildung in einem Berufsbildungswerk oder Förderung durch eine berufs vorbereitende Bildungsmaßnahme
74 Studium und Behinderung
MENSCHEN MIT BEHINDERUNG AUF DEM ARBEITSMARKT
79 Die Aufgaben des Integrationsamts 80 Pflichten des Arbeitgebers
85 Der besondere Kündigungsschutz für schwerbehinderte Menschen 86 Beginn des besonderen Kündigungsschutzes
87 Inhalt des besonderen Kündigungsschutzes
88 Verhältnis des besonderen zum allgemeinen arbeitsrechtlichen Kündigungsschutz
90 Wirkung des besonderen Kündigungsschutzes 92 Ablauf des Kündigungsverfahrens beim Integrationsamt 94 Die begleitende Hilfe im Arbeitsleben
96 Leistungen an den Arbeitgeber
97 Leistungen an schwerbehinderte Menschen 108 Integrationsfachdienste
111 Inklusionsbetriebe
113 Betriebliches Inklusionsteam/Schwerbehindertenvertretung
04
05
11 Inhaltsverzeichnis
SONSTIGE SCHUTZRECHTE, LEISTUNGEN UND NACHTEILSAUSGLEICHE
122 Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) 124 Das Behindertengleichstellungs gesetz (BGG) 126 Gebärdensprache/Gebärdensprachdolmetscher 128 Altersrente für schwerbehinderte Menschen 128 Jahrgänge 1951 bis 1963
130 Jahrgänge ab 1964 131 Pflegeversicherung 133 Mobilität
133 Erleichterungen im Personenverkehr 135 Reisen
136 Fahrdienste 136 Parkerleichterungen 140 Kommunikation 140 Rundfunkgebühren 141 Telefon
142 Wohnen 142 Wohngeld 142 Barrierefreiheit 143 Fördermittel
147 Steuererleichterungen und Kindergeld 147 Einkommensteuer
151 Kraftfahrzeugsteuer
152 Kinderfreibetrag und Kindergeld 154 Blindenhilfe/Blindengeld
155 Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung 158 Zusatzurlaub
161 Sonstige Nachteilsausgleiche/ Vergünstigungen
06
12 INHALT
SERVICE UND ADRESSEN
163 Internet
163 Zentrale Adressen im Internet mit einem guten und aktuellen Informationsangebot
166 Kostenlose Publikationen und Gesetzestexte 167 Wichtige Adressen
167 Verbände behinderter Menschen 171 Verbände der Leistungserbringer
172 Ministerien, Dachverbände der Rehabilitationsträger und anderer gesetzlicher Leistungsträger
173 Behindertenbeauftragte des Bundes und der Länder 178 Adressen der Verbraucherzentralen
182 Stichwortverzeichnis 186 Impressum
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DIE WICHTIGSTEN ABKÜRZUNGEN IM ÜBERBLICK
Abs. Absatz
AGG Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz Art. Artikel
BBW Berufsbildungswerk BGB Bürgerliches Gesetzbuch BTHG Bundesteilhabegesetz
BVB Berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme EStG Einkommensteuergesetz
GdB Grad der Behinderung KSchG Kündigungsschutzgesetz MdE Minderung der Erwerbsfähigkeit
SchwbAV Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabeverordnung SGB Sozialgesetzbuch
WfbM Werkstatt für behinderte Menschen
Die wichtigsten Abkürzungen im Überblick
UMFASSEND, ABER SEHR
KOMPLIZIERT: DAS DEUTSCHE SOZIALSYSTEM
W er als Betroffener oder Angehöriger zum ersten Mal mit dem Thema Behinderung konfrontiert wird, muss nicht nur mit den unmittelbaren Folgen dieser Behinderung und eventuell stark veränderten Lebensumständen zurechtkommen. Er muss sich auch in einem für den Laien schwer durchschaubaren System von Leistungen und Zuständigkeiten in unserem Sozial- recht orientieren.
01
KURZ & BÜNDIG
• Recht auf umfassende Teilhabe und Gleichstellung: Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen wurde Anfang 2009 als deutsches Recht in Kraft gesetzt.
• Aus Integration wird Inklusion: Allen Menschen soll von vornherein die Teilhabe an allen gesellschaftlichen Aktivitäten auf allen Ebenen und in vollem Umfang ermöglicht werden.
• Nachteilsausgleiche: Diese Leistungen, die die gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen sollen, finden sich in den verschiedensten Gesetzen, weil die Lebenssituationen behinderter Menschen sehr unterschiedlich sind.
• Kein einheitliches »Behindertengesetzbuch«: Das seit dem Jahr 2001 in Deutschland geltende und durch das Bundesteilhabegesetz Ende 2016 geänderte Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – erfüllt diese Funktion allenfalls zum Teil.
• Das deutsche Sozialsystem: Es gibt viele verschiedene gesetzliche Leistungsträger, insbesondere die Rehabilitationsträger, wie zum Beispiel die gesetzliche Krankenversicherung, die Bundesagentur für Arbeit, die gesetzliche Unfallversicherung oder die gesetzliche Rentenversicherung, aber auch die Versorgungs- und die Integrationsämter.
• Nachteil des gegliederten Systems: Für Betroffene ist es schwierig, die richtige Stelle zu finden, die in einer konkreten Situation und bei einem bestimmten Problem helfen kann. Noch schwieriger wird es, wenn man es mit mehreren gesetzlichen Leistungsträgern gleichzeitig zu tun hat, da es häufig Uneinigkeiten über die Zuständigkeiten und Kostentragung gibt.
UMFASSEND, ABER SEhR KoMPLIZIERT: DAS DEUTSchE SoZIALSySTEM 16
In der Behindertenpolitik in Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten ein großer Wandel vollzogen: Seit dem Jahr 1994 ist in Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes ein Benachteiligungsver- bot verankert. Behinderte Menschen sollen nicht mehr Objekt staatlicher Fürsorge sein, sondern ihr Leben möglichst selbstbe- stimmt und eigenverantwortlich führen können. Sie haben ein Recht auf umfassende Teilhabe und Gleichstellung.
Ein weiterer Meilenstein in der Behindertenpolitik wurde Anfang 2009 erreicht: Die UN-Konvention über die Rechte von Men- schen mit Behinderungen wurde als deutsches Recht in Kraft gesetzt. Die Konvention will die bei Behinderung grundsätzlich drohende rechtliche und gesellschaftliche Benachteiligung durch den Anspruch behinderter Menschen auf positive Rechte vermeiden. Dabei gibt es viele Bereiche, in denen die UN-Kon- vention weiter geht als das bisherige deutsche Recht, und der deutschen Gesetzgebung wichtige Impulse gibt.
Ein Beispiel dafür ist das Bildungssystem: In Deutschland haben bisher nur wenige Kinder mit Behinderung eine Regelschule be- sucht. Die UN-Konvention fordert jedoch von allen Vertragsstaa- ten erhebliche Anstrengungen im Schulbereich – Kinder mit und ohne Behinderung sollen also in Zukunft gemeinsam unterrich- tet werden können. Die Bundesländer haben daher ihre Schul- gesetze angepasst und Voraussetzungen für den gemeinsamen Unterricht geschaffen.
Durch die UN-Konvention wird der frühere Begriff der »Integ- ration« mehr und mehr durch den weitergehenden Begriff der
»Inklusion« ersetzt. Es geht nicht mehr nur darum, Ausgeson- derte zu integrieren, sondern allen Menschen von vornherein die Teilnahme an allen gesellschaftlichen Aktivitäten auf allen Ebe- nen und in vollem Umfang zu ermöglichen. In einem Nationalen Aktionsplan hat die Bundesregierung inzwischen weitere Um- setzungsschritte beschrieben. Für die betroffenen Menschen ist aber wichtig zu wissen: Aus der UN-Konvention – mag sie auch inzwischen ein deutsches Gesetz sein – lassen sich noch keine Recht auf Teilhabe und
Gleichstellung
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01
individuellen Ansprüche im Einzelfall herleiten. Inzwischen bildet aber das am 1.1.2017 mit seiner ersten Stufe in Kraft getretene Bundesteilhabegesetz einen weiteren Meilenstein. Dieses Ge- setz ist kein eigenständiges Gesetz, sondern es ändert die vor- handenen Sozialgesetzbücher umfassend. Um diese Rechte in Anspruch zu nehmen und praktisch davon zu profitieren, muss man Bescheid wissen. Dieses Buch unterstützt Sie in vielerlei Hinsicht und bietet eine für Laien verständliche Darstellung. Es greift unterschiedliche Probleme und Bedürfnisse behinderter Menschen auf.
Ein einheitliches »Behindertengesetzbuch« gibt es in Deutsch- land nicht. Auch das seit dem Jahr 2001 geltende und durch das Bundesteilhabegesetz Ende 2016 geänderte Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX) – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – erfüllt diese Funktion allenfalls zum Teil. Die Rege- lungen des Behindertenrechts und vor allem die sogenannten Nachteilsausgleiche, also Leistungen, die die gleichberechtigte Teilhabe ermöglichen sollen, finden sich in den verschiedensten Gesetzen. Das hängt auch damit zusammen, dass die Lebenssi- tuationen behinderter Menschen sehr unterschiedlich sind. El- tern, deren Kinder beispielsweise eine geistige Behinderung ha- ben, haben ganz andere Probleme als ein schwerbehinderter Arbeitnehmer, der etwa aufgrund eines Bandscheibenschadens keine schwere, körperliche Arbeit mehr leisten kann, oder ein aus dem Erwerbsleben bereits ausgeschiedener behinderter Mensch mit Pflegebedarf, zum Beispiel nach einem Schlagan- fall. Ebenso unterschiedlich sind auch die Behinderungen und ihre Auswirkungen selbst. So verursacht ein gerade überstande- ner Herzinfarkt oder die Krebserkrankung eines vorher gesunden Menschen einen völlig anderen Unterstützungsbedarf als etwa eine von Geburt an vorhandene Blindheit oder Gehörlosigkeit, die ein massives Kommunikationsproblem mit der Umwelt mit sich bringt. Bei psychischen Erkrankungen wiederum sind es oft die Vorbehalte der Gesellschaft, die die Teilhabe der Betroffenen erschweren. Die Barrieren, mit denen behinderte Menschen konfrontiert sind, können also sehr unterschiedlich sein.
Kein einheitliches Behindertengesetz
UMFASSEND, ABER SEhR KoMPLIZIERT: DAS DEUTSchE SoZIALSySTEM 18
Mit diesem Buch bekommen Sie einen Überblick über die rechtlichen Regelungen für behinderte Menschen sowie über wichtige Anlaufstellen, die kompetente Beratung für jeden indi- viduellen Fall bieten. Weiterführende Hinweise auf Informations- quellen, insbesondere auch im Internet, finden Sie hier ebenfalls.
Das Nennen von Gesetzen und Paragrafen lässt sich bei einer so komplexen Materie nicht ganz vermeiden. Auf den Abdruck von Gesetzestexten, Richtlinien und Zitaten aus Gerichtsentschei- dungen wurde aber bewusst verzichtet, damit Sie die Kerninfor- mationen besser aufnehmen können.
Das Sozialsystem in Deutschland gilt weltweit als vorbildlich.
Leider ist es aber sehr kompliziert und selbst für Fachleute oft unübersichtlich. Für Hilfen und Leistungen können je nach Le- bensphase und Behinderung verschiedenste Behörden – also gesetzliche Leistungsträger – zuständig sein. Man spricht vom
»gegliederten System«. Die gesetzlichen Leistungsträger sind insbesondere die Rehabilitationsträger, zum Beispiel die gesetz- liche Krankenversicherung, die Bundesagentur für Arbeit, die gesetzliche Unfallversicherung oder die gesetzliche Rentenversi- cherung, aber auch die Versorgungs- und die Integrationsämter.
Vorteil des gegliederten Systems in Deutschland ist seine Voll- ständigkeit: Für nahezu alle Probleme gibt es spezielle Lösungen.
Oft ist es für den Betroffenen aber sehr schwierig, die richtige Stelle zu finden, die ihm in einer konkreten Situation und bei einem bestimmten Problem helfen kann. Es können auch Situa- tionen eintreten, in denen man es mit mehreren gesetzlichen Leistungsträgern gleichzeitig zu tun hat. Keine Stelle unterstützt behinderte Menschen in allen Lebenslagen. Die gesetzlichen Leistungsträger sind sich häufig auch nicht ganz einig, wer was zu tun hat, und vor allem, welcher öffentliche Haushalt die Kos- ten zu tragen hat. Die Fachleute nennen das beschönigend
»Schnittstellenprobleme«.
Der Gesetzgeber hat in den letzten Jahren viel getan, um die rechtlichen Regelungen für den behinderten Menschen als Leis- tungsempfänger einfacher und übersichtlicher zu machen. Ins- Unübersichtlich: das
deutsche Sozialsystem
Problematisch: die Zuständigkeitsfrage
SGB IX – das
»Behinderten
gesetzbuch«
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01
besondere durch das SGB IX, das sozusagen das »Behinderten- gesetzbuch« der immerhin zwölf Bücher des Sozialgesetzbuchs darstellt, sollte ein Paradigmenwechsel in der Behindertenpolitik erreicht werden. Der Gesetzgeber hat im SGB IX die Verpflich- tung zur Kooperation und zur Verabredung »Gemeinsamer Emp- fehlungen« der gesetzlichen Leistungsträger verankert. Dazu gehört auch ihre Verpflichtung, Leistungen an behinderte Men- schen »wie aus einer Hand« zu erbringen. Er hat mit einer Rege- lung über die zuvor teilweise sehr schwierige Zuständigkeitsklä- rung die Grundlage für eine Vereinfachung des Systems geschaffen. Zwar hat sich die Situation dadurch teilweise tat- sächlich verbessert, aber in der Praxis läuft vieles noch nicht so, wie es sich der Gesetzgeber vorgestellt hatte. Deshalb wurde das SGB IX Ende 2016 erneut geändert. Für den Rat suchenden behinderten Menschen ist es immer noch schwierig, sich durch den Dschungel von Zuständigkeiten und Leistungen zu bewe- gen. Unübersichtlich ist auch die Vielfalt der Leistungsangebote, also zum Beispiel von Schulen, Wohnheimen, Werkstätten für behinderte Menschen, Beratungsstellen der Wohlfahrtsverbän- de, Berufsbildungs- und Berufsförderungswerken oder Integrati- onsfachdiensten. Es gibt in Deutschland eine sehr große Zahl stationärer und ambulanter Angebote, die regional unterschied- lich sein können.
Das Thema Behinderung betrifft weit mehr Menschen, als man sich gemeinhin vorstellt. Ende 2015 gab es in Deutschland 7,6 Millionen Menschen, die einen Schwerbehindertenausweis besaßen. Statistisch gesehen war somit jeder elfte Einwohner schwerbehindert. Behinderungen traten bei Männern mit 51 Pro- zent etwas häufiger auf als bei Frauen. Vor allem aber nehmen sie mit dem Alter überproportional zu. Drei Viertel aller Betroffe- nen (74 Prozent) waren älter als 55 Jahre, mehr als die Hälfte (54 Prozent) nicht mehr im erwerbsfähigen Alter. Da die meisten Behinderungen durch eine im Lebensverlauf erworbene Krank- heit verursacht werden, überrascht der hohe Anteil an älteren Betroffenen nicht. Herzinfarkte, Schlaganfall, Krebserkrankun- gen mit ihren bleibenden Schäden sowie bestimmte Sehbehin-
Mögliche Leistungs
angebote
Behinderung: ein Thema, das alle angeht