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EU-Erweiterung sozial gestalten: Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit

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Academic year: 2022

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EU-Erweiterung sozial gestalten:

Arbeitnehmerfreizügigkeit und Dienstleistungsfreiheit

1. Die Erweiterung der EU ist eines der wichtigsten Projekte der kommen- den Jahre und der vorgesehene Zeitplan sollte unter allen Umständen einge- halten werden. Da sich aber die unterschiedlichen wirtschaftlichen und so- zialen Voraussetzungen nicht von heute auf morgen angleichen werden, brauchen wir in einigen Bereichen befristete Übergangsregelungen, um so- ziale Spannungen zu verhindern oder zumindest gestaltend eingreifen zu kön- nen. Dies ist nach Ansicht des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) in Bezug auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Dienstleistungsfreiheit der Fall. Diese Übergangsfristen müssen dazu genutzt werden, soziale Fortschrit- te und die Angleichung der Lebens- und Arbeitsbedingungen stärker voranzu- bringen, als dies im Beitrittspro-zess bisher geschehen ist.

2. Der DGB begrüßt, dass auf der Grundlage des Vorschlags der EU- Kommission vom März 2001 und der Vermittlung der schwedischen Rats- präsidentschaft sich eine Entscheidung der Mitgliedstaaten zu Gunsten von Übergangsfristen in der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Zuge der Erweiterung abzeichnet, bevor die Arbeitsmärkte vollständig geöffnet werden. Die Inan- spruchnahme dieses Zeitraums von maximal 7 Jahren muss nach Ansicht des DGB allein in der Entscheidungskompetenz der einzelnen Mitgliedstaaten liegen, das heißt das Verfahren muss sich auf eine Mitteilung (Notifizierung) an die Kommission beschränken.

3. Die Übergangsregelung in der Arbeitnehmerfreizügigkeit erfordert zu- gleich komplementäre Maßnahmen der Beschränkung der Dienst- leistungsfreiheit. Die Definition der Dienstleistungsfreiheit ist im EG-Vertrag sehr weit gefasst. Faktisch fällt alles, was nicht den anderen drei Freiheiten (Kapital, Waren und Arbeit) zuzuordnen ist, unter die Dienstleistungsfreiheit.

Damit eröffnet sich ein weites Feld für den grenzüberschreitenden Arbeit- nehmereinsatz, der den Arbeitsmarkt der jetzigen EU-Mitgliedstaaten emp- findlich belasten kann. Die Regelung der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Dienstleistungsfreiheit muss unmittelbar miteinander verknüpft werden, da- mit nicht über eine weitreichende Auslegung von Dienstleistungsaufträgen, Scheinselbständigkeit und illegalen Praktiken von Entsendefirmen Vorschub geleistet wird.

4. Entsprechend fordert der DGB für die Herstellung beider Freiheiten Übergangsfristen. Ziel ist, die Regelung der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu si- chern, Arbeitssuchende aus den Beitrittsstaaten nicht in prekäre Beschäfti- gungsformen zu drängen und sensible Dienstleistungsbranchen vor einem

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Seite 2 Unterbietungswettbewerb zu schützen, der in massive Beschäftigungsverlu- ste münden würde.

5. Ein überaus sensibler Bereich ist in diesem Zusammenhang die öffent- liche Auftragsvergabe. Ohne eine EU-weit verbindliche Verpflichtung zur Ein- haltung der vor Ort geltenden Tarif- und Sozialbestimmungen und der Über- prüfung der sozialen Eignung der jeweiligen Anbieter wird sich in einem er- weiterten Europa enormer sozialer Konfliktstoff entwickeln.

Es kann nicht im staatlichen und kommunalen Interesse liegen, ungleiche Einkommens- und Sozialstandards derart auszunutzen und ein Unterlaufen europaweiter Sozialstandards zu fördern. Der kurzfristige Gewinn billiger Dienste wird mittelfristig teuer erkauft, nicht zuletzt zu Lasten der ortsan- sässigen Betriebe und ihrer Beschäftigten.

6. Die Übergangsregelung in der Dienstleistungsfreiheit muss im Rahmen der Erweiterung mit Hilfe eines Maßnahmenbündels angegangen werden.

6.1 Die Ausgestaltung der Dienstleistungsfreiheit braucht grundsätzlich mehr Rechtsklarheit. Jegliche Dienstleistungen, die sich in der Praxis rein mit der grenzüberschreitenden Vermittlung von Arbeitskräften beschäftigen, müssen den gleichen Übergangsfristen wie die Arbeitnehmerfreizügigkeit un- terworfen sein, wie etwa die Leiharbeit, Arbeitnehmerüberlassung, die soge- nannte Werkvertragsarbeit insbesondere am Bau sowie in der Land-, Forst- und Fleischwirtschaft oder Zeitarbeitsvermittlung. Grenzüberschreitende Lei- harbeit sollte nach Ansicht des DGB grundsätzlich und EU-weit unterbunden werden, da sie nur dazu dient, das Prinzip „gleicher Lohn für gleiche Arbeit am Einsatzort“ auszuhöhlen, ohne dass dem etwas wirksam entgegengesetzt werden könnte.

6.2 Generelle Übergangsfristen müssen sektoral und regional für solche Branchen gesetzt werden, die in einigen Mitgliedstaaten heute schon durch eine überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit und ruinösen Wettbewerb geprägt sind, wie dies im deutschen Baugewerbe der Fall ist. Der DGB setzt sich deshalb dafür ein, den heutigen Mitgliedstaaten für die Dauer der Über- gangsfristen in der Arbeitnehmerfreizügigkeit die Möglichkeit einzuräumen, die Tätigkeit von Einzelselbständigen und Dienstleistungsfirmen aus den Bei- trittsstaaten nach Sektoren, Tätigkeit und/oder Regionen differenziert einzu- schränken oder ganz auszuschließen.

6.3 Die europäischen Bestimmungen zur öffentlichen Auftragsvergabe und zur Ausschreibung von öffentlichen Dienstleistungen müssen verbindlich die Einhaltung der am Erbringungsort geltenden Tarifverträge und Sozialbe- stimmungen vorschreiben. Ein völlig deregulierter Vergabemarkt ist ange- sichts der enormen sozialen Unterschiede im erweiterten Europa und ange- sicht der großen Lücken bei den sozialen Mindeststandards in der EU nicht zu vertreten. Der DGB unterstreicht die Dringlichkeit und Brisanz dieser An- gelegenheit. Die EU-Erweiterung bringt die Versäumnisse und Zögerlichkeiten in dieser Hinsicht deutlich zu Tage.

6.4 Die grenzüberschreitende Entsendung von Arbeitnehmern muss EU- weit neu ausgestaltet werden, damit auch hier Missbrauch vermieden und Struktureinbrüche verhindert werden. Dies betrifft zum einen den Ausschluss

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Seite 3 von Scheinselbständigen, was eine genaue Definition voraussetzt. Eine Revi- sion der Entsendebestimmungen muss dem Rechnung tragen. Zum anderen müssen die Entsendebestimmungen auf andere betroffene Branchen ausge- dehnt werden.

Dies sind neben dem Baugewerbe, vor allem die Dienstleistungsbereiche Transport und Verkehr, Bewachung, Gebäude- und Industriereinigung, Hotel- und Gastgewerbe, handwerkliche Dienstleistungen, Software-Beratung und Datenverarbeitung, sowie die Land-, Forst- und Fleischwirtschaft. Da die Branchengrenzen nicht EU-weit einheitlich geregelt sind, sollte auch eine ge- nerelle Geltung der Entsenderegelung in Erwägung gezogen werden.

6.5 Ein praktikables Gesetz zur Bekämpfung von Schwarzarbeit und ille- galer Praktiken muss diese Mechanismen ergänzen.

6.6 Ein vertraglicher Passus sollte in juristischer Hinsicht klarstellen, dass die Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht durch die Ausnutzung der Dienstleistungsfreiheit unterlaufen werden darf. In diesem Sinne gibt es durchaus Erfahrungen in der EU mit der Einschränkung der Dienstleistungs- freiheit, vor allem im Spiegel der Urteile des Europäischen Gerichtshofes, so zum Beispiel im Rahmen des Beitritts Portugals.

7. Die besonderen Bedingungen in den Grenzregionen, die in ganz ande- rer Form mit täglichen Berufpendlern und grenzüberschreitenden Dienstlei- stern konfrontiert sind, müssen, in einem europäischen Aktionsprogramm aufgegriffen werden. Dabei geht es nicht um ein defensives Schutzpro- gramm, sondern darum, beiderseits der heutigen EU-Außengrenze die Ge- bietskörperschaften, Gewerkschaften, Unternehmen und Wirtschaftsverbän- de in die Lage zu versetzen, gemeinsam den bevorstehenden Strukturwandel zu gestalten und wirtschaftliche und soziale Fortschritte zu realisieren. Die Grenzregionen spielen eine besondere Rolle als Bindeglied zwischen neuen und alten Mitgliedstaaten und sie können eine Vorreiterrolle in der Lösung praktischer Fragen des Zusammenwachsens im neuen Europa spielen. Ein solches Aktionsprogramm sollte einen deutlichen Schwerpunkt auf die Quali- fizierung von Arbeitnehmern legen.

8. Die Übergangsfristen in der Arbeitnehmerfreizügigkeit werden in ge- setzten Abständen überprüft. Diese Überprüfung sollte nicht nur öko- nomische Kriterien und die Arbeitsmarktlage berücksichtigen, sondern auch als Hebel dienen, sozialen Fortschritt in den Beitrittsländern zu fördern und zu honorieren. Dazu gehören in erster Linie funktionierende Strukturen des sozialen Dialogs und Rechtspositionen, die die Tarifparteien und insbesonde- re die Gewerkschaften handlungsfähig machen. Dieser Aspekt ist bisher kaum mehr als eine Randnotiz im Rahmen der Erweiterungsverhandlungen, deshalb müssen die Übergangsfristen dazu genutzt werden, die rechtlichen und strukturellen Voraussetzungen des sozialen Dialogs in den Beitrittstaaten und einer entsprechend lebendigen Praxis zu fördern. Dies muss durch eine Informationsstrategie zu den Arbeits- und Sozialbedingungen in Europa un- terstützt werden, die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in den Bei- trittstaaten wie auch den heutigen Mitgliedstaaten erreicht.

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