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Positionen Buchkritik
Rainer Hermann: Die Achse des Schei- terns. Wie sich die arabischen Staaten
zugrunde richten. Stuttgart: Klett- Cotta 2021. 304 Seiten, 18,00 Euro Die Warnrufe in der arabischen
Welt werden lauter. Im Libanon etwa, dem Land am Mittelmeer, auf das sich Europas Augen nur selten richten, zu klein und un- bedeutend scheint es zu sein.
Der Libanon leidet seit mehr als zwei Jahren an einer schweren Wirtschafts- und Finanzkrise, die der Weltbank zufolge zu den schlimmsten weltweit seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gehört.
Drei Viertel der Bevölkerung le- ben unter der Armutsgrenze, die Mittelschicht erodiert. Als wäre das nicht schlimm genug, ver- sinkt die korrupte politische Elite in Machtkämpfen und lähmt sich bis zur völligen Handlungsunfä- higkeit. Der Libanon stehe kurz davor, ein gescheiterter Staat zu werden, warnen die Vereinten Nationen. Sehenden Auges und mit Ansage stürzt ein Land in den Abgrund.
In den anderen Teilen der Re- gion ist die Lage nur unwesent-
Giles Kepel macht in der Region
„Covid und Chaos“ aus. In ihrer Argumentation unterscheiden sich beide, am Ende kommen sie jedoch zu sehr ähnlichen Ergeb- nissen, die für die Zukunft Böses erahnen lassen.
Die arabischen Aufstände im Jahr 2011 hätten sich ihnen zufolge nicht als Aufbruch in Demokratie und Freiheit erwie- sen, sondern als der Beginn von Erschütterungen, die noch lange nicht vorbei sind. „Die Missstän- de, die das Beben ausgelöst ha- ben, sind nicht beseitigt worden, dafür sind neue hinzugekom- men“, schreibt Hermann. „Es ist noch schlechter geworden, was bereits schlecht war.“ Der Aus- blick für die Zukunft sei noch nie so düster gewesen wie heute.
Ähnlich klingt es bei Kepel. „Der Mittelmeerraum und die angren- zenden Gebiete haben sich im Jahr 2020 zur explosivsten Regi- on der Erde entwickelt“, mahnt lich oder scheinbar besser. Alge-
rien, Libyen, Ägypten, Syrien, der Irak – eine Krise reiht sich an die andere. Die Corona-Pandemie wirkt wie ein Brandbeschleuni- ger. Dementsprechend alarmis- tisch klingen auch die beiden Bücher zu den Entwicklungen in der arabischen Welt. „Die Achse des Scheiterns“ nennt der FAZ-Nahost-Experte Rainer Her- mann seinen Band. Der renom- mierte französische Soziologe
Absturz mit Ansage
Krisen in Europas Nachbarschaft: Vielen Ländern der arabischen Welt droht weiteres Unheil.
Von Jan Kuhlmann
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Absturz mit Ansage Positionen
Gilles Kepel: Chaos und Covid. Wie die Pandemie Nordafrika und den Nahen Osten verändert. München: Antje Kunst-
mann 2021. 360 Seiten, 26,00 Euro er. Pandemie und Ölpreisverfall
hätten „nie dagewesene Erschüt- terungen“ verursacht.
Hinzu kommt die Demografie.
Von 1970 bis 2050 wird die Bevöl- kerung in den 22 Ländern der Ara- bischen Liga um das Fünffache wachsen, wie Hermann schreibt.
Zugleich sei in keiner anderen Re- gion der Anteil der Jugendlichen größer, nirgendwo sonst seien so viele von ihnen ohne Arbeit. An der Macht sieht Hermann Eliten, die das Scheitern nicht aufhiel- ten, sondern beschleunigten.
Das bedeute „chronisch schlechte Regierungsführung, endemische Korruption, das Fehlen guter öf- fentlicher Dienstleistungen für alle, ob im Bildungssystem oder im Gesundheitswesen. Es bedeu- tet, dass die meisten Menschen vom politischen Prozess ausge- schlossen sind und ihnen wirt- schaftliche Chancen versperrt bleiben.“ Die Eliten setzten auf
„Kumpel-Kapitalismus“, der klei- ne Schichten privilegiere und das Geld immer ungleicher verteile.
Nepotismus ziehe sich wie ein
„roter Faden“ durch die Region.
Doch ein Neubeginn sei mit den alten Eliten unmöglich. Für Her- mann ist es nur eine Frage der Zeit, wann der Druck im Kessel mit einem Knall entweiche.
Als einen Kandidaten dafür sieht Hermann Ägypten, für ihn eines der arabischen Schlüssel- länder. Die Lage am Nil scheint nur bei einem flüchtigen Blick stabil zu sein. Als einen Haupt- grund für die Probleme macht Hermann die Armee aus, die Ägyptens Politik und Wirtschaft
de facto und mit harter Hand re- giere. Angesichts der rasch stei- genden Bevölkerungszahl brau- che das ressourcenarme Land dringend stabiles Wachstum.
Die Streitkräfte stülpten Ägyp- ten aber ein Wirtschaftsmodell über, das Strukturreformen und die Schaffung von Arbeitsplätzen verhindere. Die Regierung von Abdel Fattah al-Sisi setze vor al- lem auf Großprojekte wie die Er- weiterung des Suez-Kanals oder den Bau einer neuen Hauptstadt östlich von Kairo. Das Regime Sisi sei ein „Koloss auf tönernen Füßen“, warnt Herrmann auch mit Blick auf Europas Außenpo- litik, die Ägypten gerne für einen
„Anker der Stabilität“ hält.
Auch um das erdölreiche Sau- di-Arabien sorgt sich Hermann, nicht zuletzt weil die meisten Erd- ölproduzenten den Zeitpunkt ver- passt hätten, ihre Volkswirtschaf- ten rechtzeitig zu diversifizieren.
Im Königreich ist es völlig unklar, wie der bisherige Wohlstand bei einer wachsenden Bevölkerung
künftig bewahrt werden soll.
Die Öleinnahmen reichen dafür schon heute nicht mehr aus. In- nenpolitisch hat das Land zudem unter dem mittlerweile allmächti- gen Kronprinzen Mohammed bin Salman einen Wandel unbekann- ten Ausmaßes erlebt. „MBS“ habe eine über Jahrzehnte gewachse- ne Kon struktion zerstört, die im Herrscherhaus der Al Saud den Konsens in den Vordergrund ge- stellt habe, schreibt Hermann.
Dazu zählen Säuberungsaktio- nen und andere Menschenrechts- verstöße, etwa der brutale Mord am regierungskritischen Journa- listen Jamal Khashoggi. Sollte das Haus Saud zerbrechen oder der Umbau des Landes nicht recht- zeitig gelingen, könnte auch von Saudi-Arabien Gefahr ausgehen, prophezeit Hermann.
Religion und Säkularisierung Giles Kepel arbeitet sich in sei- nem Buch vor allem am türki- schen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan ab, bei dem er nicht nur neoimperiale Ansprüche erkennt, die er an Ankaras Militärinterven- tionen in Syrien und Libyen fest- macht. Der Sozialwissenschaftler sieht in Erdoğan auch den Mentor des politischen Islam, weil er die islamistischen Muslimbrüder unterstütze, die palästinensi- sche Hamas fördere und mit dem Emirat Katar paktiere. Allerdings verwendet Kepel den Begriff Is- lamismus ziemlich pauschal und macht sich nicht die Mühe, zwischen den unterschiedlichen Spielarten zu differenzieren. Ge- nerell überbetont er die Rolle der
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Positionen Buchkritik
Religion. Hermann hingegen er- kennt bei den jungen Menschen der Region einen „tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandel“:
„Ihre Lebenswelten säkularisie- ren sich, Tabus werden aufgebro- chen, Frauen emanzipieren sich, eine neue Moral entsteht.“
Kepel macht in der Golfregion ein „Great Game“ aus, ein „riesi- ges Monopoly“, in dem sich zwei große Achsen gegenüberstehen:
auf der einen Seite die Türkei und Katar, die sich mit dem schi- itischen Iran verbündet hätten;
auf der anderen Seite Israel, die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain – die Unterzeichner des Abraham-Abkommens, das sich in allererster Linie gegen den Iran richte, dessen Arm weit in die arabische Welt hineinreiche.
Für Kepel hat sich mit dem Abra- ham-Abkommen das Blatt gegen Teheran gewendet: „Nachdem sich bisher Teheran in der Positi- on des Schützen sah, der auf den jüdischen Staat zielte, sind seit dem Abkommen zwischen Israel und den Emiraten die Waffen von Israel und der arabischen Halb- insel aus auf den Iran gerichtet.“
Insgesamt fällt Kepels Analy- se nicht nur hier zu schematisch aus. Die Partnerschaft der Türkei mit dem Iran ist längst nicht so unerschütterlich, wie es bei Kepel den Eindruck macht. Stattdessen nähert sich Erdoğan derzeit in der Hoffnung auf Milliardeninvesti- tionen den Emiraten an. Kepel verstrickt sich oft in Details, ohne dass die großen Linien sichtbar werden. Hermanns Analyse fällt wesentlich klarer aus. Bei ihm
völkerung helfen, andererseits unterstützen sie so ein Regime, das sich schlimmster Menschen- rechtsverletzungen am eigenen Volk schuldig gemacht hat.
Seit Längerem gilt internatio- nal die Praxis, dass humanitäre Hilfe nur im Konsens mit der Re- gierung des betroffenen Landes geleistet wird, weil deren Souve- ränität quasi als unantastbar gilt.
So auch in Syrien, wo ein Großteil der Lieferungen über Damaskus erfolgt. Und das mit allen Kon- sequenzen, schließlich haben die dortigen Machthaber ihre Bedingungen durchgesetzt. So müssen etwa regimetreue Kräfte für wichtige UN-Posten am Ein- satzort angeheuert werden. Als Partner im Land kommen nur Hilfsorganisationen in Betracht, bei denen es sich in Wahrheit um den verlängerten Arm von Milizen handelt. Einkäufe von Gütern sind nur bei regimetreuen Anbietern gestattet. Gleichzeitig zweigen die Herrschenden einen nicht unerheblichen Teil der Lie- ferungen für sich selbst ab.
Der alte Grundsatz, dass hu- manitäre Hilfe nicht politisiert werden sollte, hat in Syrien schon lange seine Gültigkeit verloren.
Die internationale Unterstützung trägt letztlich zur Stabilisierung des syrischen Regimes bei. Wenn wie im Falle Syriens die Regie- rung die humanitäre Hilfe für ihre Zwecke missbraucht und schwere Menschenrechtsverlet- zungen begeht, dann wird das gut gemeinte „Banner der Un- parteilichkeit und Neutralität“, dem sich die Helfer verpflichtet nitäre Hilfe der Vereinten Natio-
nen für das Land. Wieland kennt Syrien wie nur wenige Fachleute im Westen. Er hat über Jahre als Berater verschiedener UN- Syrien- Gesandter gearbeitet und die Verhandlungen zwischen Regie- rung und Opposition in Genf aus nächster Nähe miterlebt. Das hat ihm tiefe Einblicke in die Proble- me der UN-Hilfslieferungen für Syrien gewährt. Er beschreibt ein Dilemma, dem die UN kaum entgehen können: Einerseits wollen sie der notleidenden Be- wird deutlich, wie sehr das Ver- sagen der Eliten für die vielen Krisen verantwortlich ist.
Das humanitäre UN-Dilemma Das gilt auch und gerade für Syri- en, wo nach mehr als zehn Jahren Bürgerkrieg kein Ende des Kon- flikts in Sicht ist. Der deutsche Diplomat Carsten Wieland wirft in seinem Buch „Syria and the Neutrality Trap“ einen originellen wie kritischen Blick auf die huma-
Carsten Wieland: Syria and the Neutrality Trap: The Dilemmas of Delivering Humani- tarian Aid to Violent Regimes. London: I.B.
Tauris 2021. 200 Seiten, 82,15 Euro
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Absturz mit Ansage Positionen
Jan Kuhlmann ist Regionalbüroleiter der Deutschen Presse-Agen- tur dpa für die arabische Welt und Israel mit Sitz in Beirut.
sehen, zur „Farce“, schlussfol- gert Wieland. Der Krieg und das Leiden der Menschen könnten so sogar verlängert werden.
Der Diplomat hat akribisch re- cherchiert, er argumentiert diffe- renziert und schlüssig. Wieland schreibt zwar kritisch, aber mit Wohlwollen über die Arbeit der UN. Ihm ist bewusst, in welcher Zwickmühle diese steckt. Al- ternativen seien schwierig um- zusetzen und enthielten große Risiken, räumt Wieland ein. Die Hilfe einzustellen hieße, Hun- derttausende Notleidende im Stich zu lassen.
Trotzdem hält Wieland Verän- derungen für dringend notwen- dig. So fordert er mehr Trans- parenz bei der Beschaffung von Gütern und der Auswahl lokaler Partner. Die UN sollten in Ver- handlungen mit der Regierung entschiedener auftreten. Hilfsgü- ter sollten zusammengelegt und als „take-it-or-leave-it“ angebo- ten werden. Dabei solle auch die Option auf dem Tisch bleiben, sich vorübergehend oder ganz zurückzuziehen. Leider sei die Lernkurve der UN in der Vergan- genheit flach gewesen.
Hydra des Dschihadismus Europa kann und darf vor den Krisen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft nicht die Augen verschließen. Instabilität in der arabischen Welt und ihren Nach- barländern gibt auch Terrororga- nisationen wie dem Islamischen Staat oder Al-Kaida Auftrieb, die zwar geschwächt, aber noch lan- ge nicht besiegt sind. Davor war-
nen nicht nur unisono Hermann und Kepel, sondern auch der Journalist und Wissenschaftler Asiem El Difraoui, der in seinem Buch „Die Hydra des Dschihadis- mus“ die Genese des Terrors im Namen des Islam nachzeichnet.
Mit der Expertise aus rund drei Jahrzehnten gelingt ihm diese Aufgabe kundig und souverän, wenn auch ohne große Überra- schungen. Für El Difraoui ist der Dschihadismus eine Sekte, eine
„verlogene Heilslehre“, die es kontinuierlich zu entlarven und zu widerlegen gelte. Dschihadis- ten missbrauchten den Koran als Steinbruch, um mit Versatzstü- cken daraus Mord und Terror zu rechtfertigen.
El Difraoui schaut auch auf Etappen, die in den vergange- nen Jahren aus dem Blick geraten
sind. So ist oft nicht mehr präsent, dass sich Bosnien während des Bürgerkriegs in den 1990er Jah- ren für die Dschihad-Bewegung zum Brückenkopf nach Europa entwickelte. Dutzende ehemali- ge Bosnien-Kämpfer gründeten später Zellen in Europa.
Heute sei die Hydra des Dschihadismus so sehr auf dem Globus verbreitet wie noch nie.
Die Terrorgruppen seien längst nicht mehr in den einstigen Kernländern Syrien oder Irak am aktivsten, sondern in der Pe- ripherie der arabischen Welt, vor allem in der Sahelzone, wo von der Weltöffentlichkeit fast unbe- merkt „Emirate“ oder „Islamische Staaten“ entstehen und „die gan- ze Region in ein Chaos stürzen“, wie er schreibt.
El Difraouis Warnung ist ein- deutig: „Wird die dschihadisti- sche Gefahr nicht gebannt, könn- ten Millionen von Menschen zur Flucht vor Terror und Chaos ge- zwungen werden“. Viele von ih- nen dürften versuchen, nach Eu- ropa zu kommen. Auch wenn die größeren Anschläge hierzulande länger zurückliegen, sollten sich die europäischen Länder nach Ansicht El Difraouis auf keinen Fall in Sicherheit wähnen: „Die Hydra des Dschihadismus kam jedes Mal, wenn sie angeblich besiegt war, in noch verheeren- derer Form zurück.“
Asiem El Difraoui: Die Hydra des Dschiha- dismus. Entstehung, Ausbreitung und Abwehr einer globalen Gefahr. Berlin:
Suhrkamp 2021. 443 Seiten, 24,00 Euro