• Keine Ergebnisse gefunden

Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche - Die professionelle Verdachtsabklärung durch die Soziale Arbeit

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2021

Aktie "Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche - Die professionelle Verdachtsabklärung durch die Soziale Arbeit"

Copied!
48
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Fachbereich Soziale Arbeit, Bildung und Erziehung

Studiengang Soziale Arbeit

Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche:

Die professionelle Verdachtsabklärung durch die

Soziale Arbeit

Bachelor-Arbeit

vorgelegt von

Nora Böhme

urn:nbn:de:gbv:519-thesis2014-0377-2

Erstprüferin: Prof. Dr. Claudia Steckelberg Zweitprüferin: Gabriele Taube-Riegas M.A.

(2)

Inhaltsverzeichnis

Einleitung ... 1

1. Begriff und Umfang sexueller Gewalt ... 3

1.1. Zur Begriffswahl ... 4

1.2. Zur „wahren“ Bedeutung sexueller Gewalt ... 4

1.3. Sexuelle Gewalt – eine Definition... 6

1.4. Zur Ausprägung sexueller Gewalt ... 7

2. Die rechtliche Verankerung ... 8

2.1. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ... 9

2.2. Das deutsche Strafgesetzbuch (StGB) ... 9

2.3. Das Sozialgesetzbuch – Achtes Buch – Kinder- und Jugendhilfe ... 11

3. Das Ausmaß sexueller Gewalt ... 12

3.1. Die Betroffenen ... 12

3.2. Die Täter ... 14

4. Die professionelle Verdachtsabklärung ... 16

4.1. Wer ist am Hilfeprozess beteiligt? ... 16

4.2. Die Prozessgestaltung der Verdachtsabklärung ... 18

4.2.1. Reflexion ... 19

4.2.2. Kollegiale Beratung ... 20

4.2.3. Fachberatung ... 22

4.2.4. Hilfekonferenz ... 23

4.2.5. Maßnahmen zum Schutz ... 25

4.2.6. Konfrontationsgespräch ... 26

4.2.7. Therapeutische Angebote ... 27

4.2.8. Strafanzeige ... 28

5. (Sozialpädagogische) Grundlagen der Verdachtsabklärung ... 30

5.1. Hinweise auf sexuelle Gewalt ... 30

5.1.1. Verhaltens- und psychische Auffälligkeiten ... 32

5.1.2. Körperlich-medizinische Hinweise ... 34

5.2. Das Gespräch mit Kindern und Jugendlichen ... 36

6. Zusammenfassung ... 40

(3)

Einleitung

„Nicht sexuelle Gewalt ist ein Tabu, sondern das Sprechen darüber.“ – Ursula Enders

Kein Mensch der Welt weiß wie es sich anfühlt sexuelle Gewalt über sich ergehen las-sen zu müslas-sen, außer jener, der sie erfahren hat. Sexuelle Gewalt ist die fundamentals-te Art der Entwürdigung eines Menschen. Auch die Schwächsfundamentals-ten, Wehrlosesfundamentals-ten, dieje-nigen, die den größten Schutz vor den Gefahren der Welt benötigen, sind betroffen: Kinder und Jugendliche. Die Last auf ihren Schultern droht sie zu erdrücken, zu zerstö-ren. Die Angst, die Verletzung, das Stillschweigen.

Nicht sexuelle Gewalt ist ein Tabu, sondern das Sprechen darüber.

Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gibt es schon seit Menschengedenken. Weltanschauungen und Menschenbilder unterliegen einem stetigen Wandel. Einst wa-ren sie die Werkzeuge der Erwachsenen, heute sind sie die Zukunft, und die Zukunft ist schützenswert. Doch die Realität sieht oft anders aus. Selbst in unserer angeblich mo-dernen Gesellschaft gibt es vereinzelt Schicksale, die schockieren, wütend machen und uns an unsere emotionalen Grenzen bringen. Uns, die Erwachsenen. Wir, die Kindern so etwas antun. Wir, die Angst davor haben, etwas zu unternehmen. Wir, die

weg-schauen.

Nicht sexuelle Gewalt ist ein Tabu, sondern das Sprechen darüber.

In den Medien gibt es jeden Tag Meldungen über Gewalttaten. Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche gehört zu den grausamsten Verbrechen. Erinnern wir uns an die Schlagzeilen über die Übergriffe von Mitgliedern der katholischen Kirche, Priestern, Ordensleuten und Erziehern an kleinen Jungen, die ihnen anvertraut wurden. Men-schen, die das Leben und die Würde eines jeden für heilig erklären. Erinnern wir uns an die Odenwaldschule, in welcher Schüler systematisch von ihren Lehrern sexuell ausge-beutet wurden. Menschen, die sich dazu verpflichtet haben, Kinder zu lehren und zu erziehen. Diese beiden Fälle erregten vor ungefähr zwei Jahrzehnten erstmals öffentli-che Aufmerksamkeit. Die sexuelle Gewalt in beiden Institutionen dauerte zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Jahrzehnte an.

(4)

Man könnte meinen, dass Meldungen wie solche die Menschen wachrütteln müssten und sie verstehen lassen, was sie Kindern damit antun. Wir schreiben das Jahr 2014 und doch sind die Nachrichten mit Schlagzeilen über Gewaltverbrechen gegen Kinder und Jugendliche überflutet. Die Edathy-Affäre löste in der Bevölkerung Entsetzen und Unverständnis aus. Ein Politiker im Bundestag verschafft sich kinder- und jugendporno-grafisches Material. Ein Mensch, der mit seinen Entscheidungen über das Leben von 82 Millionen Menschen mitbestimmt. In Gera verbreitet ein alleinerziehender Vater porno-grafisches Material seiner siebenjährigen Tochter im Internet und bietet sie einem Be-kannten zum Sex an. Nicht nur ein Mensch, sondern vor allem ein Vater, dessen höchs-tes Streben das Wohl seiner kleinen Tochter sein sollte.

Obwohl die Dinge anscheinend beim Alten geblieben sind, gab es doch einige Verände-rungen: Sexuelle Gewalt ist kein Tabu, das Sprechen darüber auch nicht.

Gemeint sind damit engagierte SozialarbeiterInnen, die es sich zum Ziel gemacht ha-ben, Kinder und Jugendliche vor sexueller Gewalt zu schützen. Diese HelferInnen be-mühen sich darum, sexuelle Gewaltverhältnisse aufzudecken und zu durchbrechen, damit das Leid der Betroffenen ein Ende hat. Jedoch hört sich diese Sache leichter an, als sie ist. Die Betroffenen schweigen, die TäterInnen sind meist unscheinbar, das Um-feld schaut oft lieber weg. Deswegen bedarf es guter Organisation, Planung und Ein-fühlsamkeit, um dieses Ziel zu erreichen. Diese Arbeit befasst sich daher mit der Frage, welche Schritte und welches Vorgehen bei einem Verdacht auf sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche zu beachten sind und welche Methoden und sozialpädagogi-schen Grundlagen im Prozess der Verdachtsabklärung Anwendung finden. Eine Ver-dachtsabklärung meint jedoch nicht eine Ermittlung im kriminalistischen Sinne, sondern einen Hilfeprozess. Das Ziel lautet, die Betroffenen zu unterstützen und zu stärken und nicht die TäterIn dingfest zu machen. Der Versuch einer Aufdeckung der sexuellen Ge-walt dient dabei also hauptsächlich einer optimalen Bereitstellung von Hilfen für die Be-troffenen und ihre Angehörigen. Da es Fälle gibt, in denen der Verdacht bestehen bleibt und nicht ausgeräumt werden kann, bedeutet der Hilfeprozess, also die Verdachtsab-klärung, fallgerecht zu entscheiden, inwieweit ein Eingreifen im Sinne der Kinder und Jugendlichen von Nöten ist.

Bevor auf die Fragestellung eingegangen wird, soll zunächst der Begriff der sexuellen Gewalt in seiner Bedeutung und mit all seinen Ausprägungen bestimmt und definiert werden. Dabei sollen sowohl die Auswahl des Begriffs, als auch die Wahl der Definition

(5)

abgeklärt und begründet werden. Jedoch soll die sexuelle Gewalt nicht nur aus einer objektiven Sichtweise, sondern auch aus der Perspektive der Betroffenen mit all den menschlichen und emotionalen Aspekten untersucht werden.

Danach erfolgt die juristische Betrachtung, bei der zunächst das Grundgesetz seine Anwendung findet, sexuelle Gewalt in den strafrechtlichen Kontext eingeordnet wird und zuletzt das Achte Sozialgesetzbuch über sozialarbeiterische Hilfen und den Schutzauf-trag informieren soll. Anschließend sollen Zahlen bezüglich Betroffenen und TäterInnen Aufschluss über das Ausmaß sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche geben. Nachdem die wichtigsten Aspekte der sexuellen Gewalt, die alle maßgeblich sind für die Optimierung von Hilfeangeboten und die professionelle Einschätzung und Abklärung von Verdachtsfällen, dargelegt worden sind, folgt der eigentliche Teil der Arbeit, in dem auf die Fragestellung eingegangen werden soll. Hier werden das Jugendamt und der Allgemeine Sozialdienst als Hauptakteure im Hilfeprozess vorgestellt und die einzelnen Schritte der Verdachtsabklärung anhand des in Mannheim praktizierten Modells unter Zuhilfenahme eines Fallbeispiels erläutert. Dabei soll bei der Betrachtung des Prozes-ses besonderer Wert auf die Methoden der Qualitätssicherung des sozialarbeiterischen Vorgehens gelegt werden.

Abschließend sollen die Grundlagen dargestellt werden, die einen Hilfeprozess möglich machen und eine wesentliche Rolle bei der Verdachtsabklärung spielen. Dazu zählen die Einschätzung der Situation und des Kindeswohls durch das Wahrnehmen von Hin-weisen zur psychischen Gesundheit anhand von Verhaltensauffälligkeiten und einer medizinischen Untersuchung, als auch das Gespräch mit möglichen Betroffenen durch SozialarbeiterInnen.

1. Begriff und Umfang sexueller Gewalt

Um der Fragestellung sinngerecht nachgehen zu können, ist es unabdingbar sich zu-nächst dem Begriff der sexuellen Gewalt anzunähern und zu bestimmen. In diesem Ka-pitel soll es darum gehen, die Bezeichnung „sexuelle Gewalt“ von anderen Umschrei-bungen abzugrenzen, ihre Bedeutung auf menschlicher und emotionaler Ebene

(6)

her-auszustellen, eine Definition zu erarbeiten und das Phänomen in seinen Ausprägungen weiter aufzugliedern.

1.1. Zur Begriffswahl

In der einschlägigen Fachliteratur finden sich allerhand Synonyme, die alle jene Er-scheinung der sexuellen Gewalt umschreiben, wobei jeder Begriff einen anderen As-pekt betont. Bei „sexueller Gewalt“ steht beispielsweise der Faktor der Gewalt im Vor-dergrund, der durch das Sexuelle instrumentalisiert wird. Der Ausdruck „sexueller Miss-brauch“, der nicht nur im allgemeinen Sprachgebrauch und der Literatur der am häufigs-ten verwendete, sondern auch der juristische Begriff ist, demonstriert hingegen die Do-minanz des Sexuellen und die Ausnutzung eines anderen Menschen für die eigene Be-friedigung. Hierbei sei allerdings anzumerken, dass „Missbrauch“ einen „richtigen“ und „falschen“ Gebrauch impliziert, Kinder und Jugendliche aber keine Gebrauchsobjekte darstellen. Weitere Bezeichnungen, die in der Fachliteratur Verwendung finden, lauten: sexuelle Misshandlung, sexualisierte Gewalt, sexuelle Ausbeutung, sexueller Übergriff und sexuell grenzverletzendes Verhalten1. In meinen weiteren Ausführungen werde ich mich auf den Begriff „sexuelle Gewalt“ beziehen, da dieser meiner Meinung nach die eigentlichen Ausmaße einer möglichen traumatischen Erfahrung am besten reflektiert und es zu dem macht, was es ist: Gewalt.

1.2. Zur „wahren“ Bedeutung sexueller Gewalt

Für die Annäherung an die Bedeutung von sexueller Gewalt ist es sinnvoll, einige wich-tige Merkmale näher ins Auge zu fassen, die nicht nur den objektiven Umfang sexueller Gewalt beschreiben. Einer der grundlegendsten Aspekte ist die Erfahrung einer Grenz-verletzung, wie Kavemann anschaulich darstellt: „Die Persönlichkeit des Mädchens wird

ignoriert, negiert. Sie ist benutzbar für die Bedürfnisse eines Mannes, ihr Körper steht seinem Zugriff offen, ihre Willensäußerungen, ihre Bedürfnisse, die Grenzen, die sie um

(7)

sich ziehen will, sind nicht existent.“2 Den Kindern und Jugendlichen wird durch die

Grenzüberschreitung vermittelt, dass sie als Mensch uninteressant sind, Erwachsene frei über sie verfügen dürfen und sie in den Status eines Sexualobjekts gedrängt wer-den3.

Mit der Missachtung der persönlichen Grenzen einhergehend ist die Ohnmachtserfah-rung und Hilflosigkeit, die das Kind oder die Jugendliche durch die Gewaltanwendung durchleben muss. „Zentral ist dabei die Verpflichtung zur Geheimhaltung, die das Kind

zur Sprachlosigkeit, Wehrlosigkeit und Hilflosigkeit verurteilt.“4 Dieses Gefühl wird durch den Geheimhaltungsdruck verstärkt, der ihnen von der TäterIn auferlegt wird. In sehr jungem Alter wird dieser vor allem durch ein Vertrauensverhältnis, das Machtgefälle zwischen TäterIn und Kind sowie einem kindlichen Gefallen an Geheimnissen aufrecht-erhalten. Im späteren Alter erfolgt dies meist über Drohungen und emotionale Erpres-sung („Wenn du darüber redest, kommst du ins Heim / zerstörst du die Familie“)5. In diesem Kontext entwickeln sich in den meisten Fällen zusätzlich starke Schuld- und Schamgefühle auf Seiten des Kindes oder der Jugendlichen6.

Besonders tiefgehend ist zudem der erlebte Vertrauensbruch, wenn die missbrauchen-de Person zum nahestehenmissbrauchen-den Kreis missbrauchen-des Mädchens omissbrauchen-der Jungen gehört, missbrauchen-denn „ein

Mann, den sie sehr liebt oder bewundert, der die zentrale Autorität in ihrem Leben ist oder dem sie gehorsam sein muß, dem sie vertraut hat, dem sie sich in ihrer kindlichen Art genähert und sich auf ihn verlassen hat, der tut ihr sowas an: was sie verwirrt, ihr peinlich oder eklig ist, ihr Schmerzen bereitet. … Ihr wird der Boden unter den Füßen weggezogen.“7 Wie Dörsch und Aliochin berichten, löse dieser Vertrauensmissbrauch

in vielen Fällen eine Ambivalenz sowohl gegenüber der TäterIn, mit der sie in der Regel auch schöne Dinge verbinde, als auch gegenüber der Familie aus, die sie nicht vor Übergriffen beschütze8.

2 Kavemann 1991, S. 11

3 vgl. Enders 1995, S. 20

4 Wirtz, zit. nach Hofmeister 2011, S. 51

5 vgl. Dörsch/Aliochin 1997, S. 18

6 vgl. Gründer/Kleiner/Nagel 1997, S. 19

7 Kavemann 1991, S. 11

(8)

1.3. Sexuelle Gewalt – eine Definition

Nach Hartwig und Hensen würden beim Versuch der Aufstellung einer Definition von sexueller Gewalt in gängiger Literatur oft verschiedene Kriterien angegeben, die ihrer Ansicht nach allerdings nicht dem gesamten Umfang sexueller Gewalt Rechnung tragen würden und den Begriff daher zu sehr einengten. Dazu zähle der oftmals angegebene Altersunterschied von mindestens fünf Jahren. Dieser sei aber zu ungenau, da die Ge-walt unter Gleichaltrigen und individuelle Entwicklungsstände nicht berücksichtigt wür-den. Ein weiteres Kriterium stelle in Fachliteratur die Schädigung des Kindes oder der Jugendlichen dar. Hartwig und Hensen weisen dabei darauf hin, dass nicht jede An-wendung von sexueller Gewalt traumatisierend wirke, sich manche Schäden erst nach Jahren ausprägten und auch die strafrechtlichen Konsequenzen für die TäterIn nicht über den Grad der Schädigung messbar seien. Auch sei dabei die Absicht der TäterIn als Kriterium auszuschließen, da die meisten Übergriffe geplant seien und nicht zufällig. Weiterhin lehnen sie die eigene Wahrnehmung als Missbrauchsopfer der Kinder und Jugendlichen als Kriterium für eine Definition ab, weil sich nicht alle Betroffenen mit dem Opferstatus identifizieren würden und jene nicht nur von der Begebenheit, sondern auch vom Selbstbild und den gesellschaftlichen Normen abhänge.9

Hartwig und Hensen stellen jedoch fest, dass unter AutorInnen weitestgehend Einigkeit in dem Punkt herrsche, dass sexuelle Gewalt meist unter Drohung, körperlicher Gewalt und der Ausnutzung bestehender Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse umgesetzt werden würde und dies daher als Kriterium einer Definition angesehen werden könne. Sexuelle Gewalt erfolge daher entweder gegen den Willen des Kindes oder der Jugend-lichen, wobei keine Widerstandsleistung, also eine Passivität im Geschehen und das Über-sich-ergehen-Lassen eher als Überlebensstrategie, z.B. um andere Familienmit-glieder vor der TäterIn zu schützen, gedeutet werden könne oder sie würde ausgeübt ohne die Fähigkeit des Kindes oder der Jugendlichen, bewusst oder freiwillig in sexuelle Handlungen einwilligen zu können, da sie nicht in der Lage seien, die Tragweite dessen abzuschätzen. Dabei gäbe es Tendenzen dazu, das verletzende Verhalten der TäterIn dazu umzudeuten, dass man „es“ ja auch gewollt hätte.10

9 vgl. Hartwig/Hensen 2008, S. 18ff.

(9)

Da sich sexuelle Gewalt in zahlreichen Formen darstellt und mit einer Definition nicht alle Ausprägungen und die sich daraus ergebenden Grenzfälle abgedeckt werden kön-nen, stellt es sich als besonders schwierig heraus, eine präzise als auch Spielraum öff-nende Definition zu finden. Nach Abwägung aller möglichen Definitionskriterien haben sich Hartwig und Hensen für eine Definition von Bange und Deegener entschieden, die sich bisher in Fachkreisen größtenteils etabliert hat:

„Sexueller Missbrauch an Kindern ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen des Kindes vorgenommen wird oder der das Kind auf-grund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wis-sentlich zustimmen kann. Der Täter nutzt seine Macht- und Autoritätsposition aus, um seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen.“11

Diese Definition ist nach meiner Ansicht die treffendste, da sie durch ihre Formulierung weitestgehend alle möglichen Arten von sexueller Gewalt abdeckt, auf die fehlende Fä-higkeit der Zustimmung hinweist, das hierarchische Gefälle herausstellt und vor allem den Schaden auf Seiten des Kindes oder der Jugendlichen betont.

1.4. Zur Ausprägung sexueller Gewalt

Häufig gibt es bei der begrifflichen Bestimmung von sexueller Gewalt jedoch noch eine Unterscheidung zwischen einer engen Definition, wie die obige, die sich nur auf den körperlichen Kontakt bezieht und als Handlung zu sehen ist und einer weiten Definition, die den gesamten Umfang einschließt, also sowohl sexuelle Gewalt mit als auch ohne körperlichen Kontakt. Zu einer weiten Definition zählen Hartwig und Hensen alle uner-wünschten, gewaltsam erzwungenen geschlechtlichen Handlungen, verbale und sexis-tische Belästigungen, Exhibitionismus, Anstiftung zur Prostitution, die Herstellung, der Verkauf und der Konsum pornografischen Materials mit Kindern einschließlich aller wei-teren Handlungen, bei denen es zu keinem körperlichen Kontakt käme. Die begriffliche Bestimmung sei zudem ausschlaggebend für die Ergebnisse von Studien und

(10)

chungen zur Bestimmung des Ausmaßes von sexueller Gewalt gegen Kinder und Ju-gendliche.12

Hierfür werde nach Engfer in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen die sexuelle Gewalt zusätzlich nach Intensitätsgraden kategorisiert:

• Als leichtere Formen sexueller Gewalt gelten alle Handlungen ohne Körperkontakt, wie z.B. Exhibitionismus, anzügliche Bemerkungen oder das Zeigen von Pornos.

• Wenig intensive sexuelle Gewalt bezieht sich auf das Anfassen von Genitalien des Kindes oder der Jugendlichen oder sexualisierte Küsse.

• Intensive sexuelle Gewalt besteht beim Berühren oder Vorzeigen der Genitalien oder wenn das Kind oder die Jugendliche vor der TäterIn masturbieren muss oder die Täte-rIn vor ihr masturbiert.

• Als intensivste sexuelle Gewalt wird die versuchte oder vollzogene, orale, anale oder vaginale Vergewaltigung gewertet.

Weitere Parameter zur Einteilung in Intensitätsgrade seien die Häufigkeit, die Dauer, das Alter des Kindes oder der Jugendlichen bei Beginn der sexuellen Gewalt und die Beziehung zur TäterIn.13 Alle bis hierhin aufgeführten Erscheinungsformen, Bedingun-gen und Dimensionen können nicht nur maß- und ausschlaggebend sein für eventuelle Folgen und Schädigungen des Kindes oder der Jugendlichen, für eine möglichst präzise Angabe von Ausmaß und Ausprägungen sexueller Gewalt in der Bevölkerung durch Umfragen und Studien und damit die Möglichkeit zur Bereitstellung von geeigneten Therapieangeboten und Hilfen, sondern auch im juristischen Sinne die Erteilung eines angemessenen Strafmaßes für TäterInnen.

2. Die rechtliche Verankerung

Um die juristische Perspektive bezüglich sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendli-che umfassend zu beleuchten, werden hierfür verschiedene Gesetzesgrundlagen

12 vgl. Hartwig/Hensen 2008, S. 17

(11)

zugezogen. Beginnend mit dem Grundgesetz, welches den elementaren rechtlichen Rahmen bildet, wird das Strafgesetz sexuelle Gewalthandlungen gegen Kinder und Ju-gendliche täterzentriert in den Kontext von Illegalität und Strafbarkeit einordnen und das Achte Sozialgesetzbuch die sozialen Grundrechte von Kindern, Jugendlichen und Er-ziehungsberechtigten, die Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe und den Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung verdeutlichen. Weitere Gesetze bezogen auf das Thema der Arbeit, die an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden, finden sich im Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) sowie im Gesetz zur Kooperation und Information im Kinder-schutz (KKG).

2.1. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland

Die Grundlagen für eine Einordnung von sexueller Gewalt in die deutsche Rechtsord-nung findet man im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vor. Oberstes Gebot liegt hier in der unantastbaren Würde des Menschen und der Verpflichtung zum Schut-ze dieser durch die staatliche Gewalt (Art.1 Abs.1 GG). Des Weiteren wird dort das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art.2 Abs.1) und auf körperliche Unver-sehrtheit (Art.2 Abs.2) verlautet. Damit spricht sich die Rechtsordnung deutlich gegen die Anwendung von sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche und für eine ge-waltfreie Erziehung und den Schutz dieses Rechtsanspruchs durch staatliche Institutio-nen aus.

2.2. Das deutsche Strafgesetzbuch (StGB)

Im deutschen Strafgesetzbuch sind im 13. Abschnitt die Straftaten gegen sie sexuelle Selbstbestimmung verankert, womit die Anwendung sexueller Gewalt nicht nur verboten ist, sondern auch unter Strafe gestellt wird. Kommt es aufgrund jener Straftat zu einem Strafverfahren, ist dieses jedoch nicht hauptsächlich auf den Schutz des Kindes oder

(12)

der Jugendlichen ausgerichtet, sondern stellt ein Instrument zur Verfolgung von staatli-chen Strafansprüstaatli-chen gegen die TäterInnen dar.14

Nach Hartwig und Hensen werde das am häufigsten vorkommende Sexualdelikt durch den §176 StGB Sexueller Mißbrauch von Kindern repräsentiert.15 Dieser stellt alle se-xuellen Handlungen mit oder an Personen unter 14 Jahren unter Freiheitsstrafe. Darin inkludiert sind nach meiner Auslegung des Paragraphen alle Begebenheiten, die sich unter dem Verständnis der weiten Definition sexueller Gewalt ereignet haben. Erweitert wird die Strafordnung durch den §176a Schwerer sexueller Mißbrauch von Kindern, der in Kraft tritt, wenn die sexuelle Handlung Penetration beinhaltet, von mehreren TäterIn-nen begangen wird oder mit einer erheblichen Schädigung der körperlichen oder seeli-schen Gesundheit des Kindes einhergeht (Abs. 2). In Ergänzung dazu tritt der §176b

Sexueller Mißbrauch von Kindern mit Todesfolge, der alle sexuellen Handlungen mit

einschließt, die wenigstens leichtfertig den Tod eines Kindes verursachen.

Ein weiterer Paragraph, der in Fällen von sexueller Gewalt Anwendung finden kann, ist der §174 Sexueller Mißbrauch von Schutzbefohlenen, welcher sexuelle Handlungen an minderjährigen Personen, die den TäterInnen zur Erziehung, Ausbildung oder Betreu-ung in der LebensführBetreu-ung anvertraut sind, unter Strafe stellt (Abs. 1). Darüber hinaus findet auch der §182 Sexueller Mißbrauch von Jugendlichen Anwendung, wenn es bei Personen unter 18 Jahren unter Ausnutzung einer Zwangslage, gegen Entgelt oder mit einer Person über 21 Jahren zu sexuellen Handlungen kommt. Allerdings bin ich der Ansicht, dass es sich bei beiden Paragraphen nur bedingt um sexuelle Gewalt handelt, je abhängig vom Willen des Jugendlichen und damit verbunden die geistige Reife und die Fähigkeit zur Einschätzung der Konsequenzen einer sexuellen Handlung.

Abschließend sind es noch der §180 Förderung sexueller Handlungen Minderjähriger, sowie §184b und §184c Verbreitung, Erwerb und Besitz kinder- bzw.

jugendpornogra-phischer Schriften, die in Bezug auf sexuelle Gewalt bei entsprechendem Umstand in

Kraft treten. Nach §184g gilt es jedoch zu beachten, dass jene sexuellen Handlungen für einen Straftatbestand im Hinblick auf das geschützte Rechtsgut von einiger Erheb-lichkeit sein müssen, bevor sie Anwendung finden.

14 vgl. Hartwig/Hensen 2008, S. 21f.

(13)

2.3. Das Sozialgesetzbuch – Achtes Buch – Kinder- und Jugendhilfe

Das Achte Sozialgesetzbuch regelt in erster Linie die gesetzlichen Ansprüche von Kin-dern und Jugendlichen auf Erziehung und Förderung der persönlichen und sozialen Entwicklung, das natürliche Recht und die gleichzeitige Pflicht der Eltern zur Umsetzung der Erziehung und Pflege sowie die Aufgaben der Jugendhilfe zur Verwirklichung dieser Rechte durch die Förderung von positiven Lebensbedingungen für Kind und Familie, den Abbau von Benachteiligungen, die Unterstützung der Eltern und den Schutz vor Gefahren für das Kind oder die Jugendliche (§1 SGB VIII).

In Bezug auf die Gefährdung durch sexuelle Gewalt bedeutet dies die Wahrnehmung des Handlungsauftrages der Kinder- und Jugendhilfe (§1 Abs. 3) resultierend aus der Position des staatlichen Wächteramtes (§1 Abs. 2 Satz 2). Dazu zählen laut §2 Abs. 2 vor allem der Erzieherische Kinder- und Jugendschutz nach §14, der Kinder und gendliche bzw. Erziehungsberechtigte befähigen soll, sich selbst bzw. Kinder und Ju-gendliche vor gefährdenden Einflüssen zu schützen oder auch bei dringender Gefahr die Inobhutnahme nach §42.

Der Schutzauftrag selbst ergibt sich aus §8a Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung. Hiernach muss das Jugendamt im Zusammenwirken mit mehreren Fachkräften das Ge-fährdungsrisiko abschätzen, sobald gewichtige Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Kindeswohls, in diesem Fall sexuelle Gewalt, vorliegen (Abs. 1 Satz 1). Hierbei sollen die Personensorgeberechtigten sowie die Kinder und Jugendlichen mit einbezogen werden, insofern dies nicht den wirksamen Schutz des Kindes oder der Jugendlichen entgegen spricht (Abs. 1 Satz 2). Wenn das Jugendamt daraufhin Hilfen zur Abwen-dung der GefährAbwen-dung für geeignet und nötig hält, sollen diese den Personensorgebe-rechtigten angeboten werden (Abs. 1 Satz 3). Darüber hinaus kann das Jugendamt das Gericht in Kenntnis setzen, wenn es das Tätigwerden des Familiengerichts für erforder-lich hält, dies gilt auch wenn die Personensorgeberechtigten nicht an der Abschätzung des Gefährdungsrisikos mitwirken (können) (Abs. 3 Satz 1). Die Verpflichtung des Ju-gendamtes zur Inobhutnahme besteht dann, wenn dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder Jugendlichen besteht und eine Entscheidung des Gerichts nicht abgewar-tet werden kann (Abs. 3 Satz 2).

(14)

Weiterhin betont Weber, dass das Kindeswohl immer über die Interessen der Familie gestellt und dem auch Vorrang vor den Elternrechten, also dem Recht zur Erziehung und Pflege des Kindes oder der Jugendlichen, gewährt werden müsse. Dabei gelte im-mer zu beachten, dass im Idealfall aber nicht gegen, sondern mit den Eltern gearbeitet würde. Da sexuelle Gewalt immer eine traumatische Erfahrung darstelle und damit das Kindeswohl gefährde, zähle als Handlungsanlass immer die Tat an sich und nicht even-tuell sichtbare Folgen.16

3. Das Ausmaß sexueller Gewalt

Wie bereits beschrieben, sind das Vorhandensein von Zahlen und die Kenntnis von Ausmaß und Ausprägung sexueller Gewalt wichtige Indikatoren für die Bereitstellung und den spezifischen Charakter von oben erläuterten Hilfen. Nach Zietlow gäbe es da-für drei Quellen, die einen Einblick in das Ausmaß geben könnten: Für das Hellfeld wä-ren es die jährliche Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), die alle polizeilich gemeldeten Fälle sexueller Gewalt, die Aufklärungsquote und ermittelte Tatverdächtige beinhalte und die mit mindestens einjähriger Verzögerung erscheinende Strafverfolgungsstatistik (SVS), die Aufschluss gäbe über die Zahl der Ver- und Abgeurteilten und die verhäng-ten Sanktionen. Des Weiteren verschaffverhäng-ten retrospektive Dunkelfeldbefragungen einen Überblick über die Zahl selbst erlebter sexueller Gewalttaten, die TäterInnen, Tatfolgen und die eigene Anzeigebereitschaft.17 Im weiteren Verlauf werden einige Zahlen aus der PKS und ein paar ausgewählte Dunkelfeldbefragungen präsentiert, mit Blick auf die Betroffenen und die Täter.

3.1. Die Betroffenen

Stellt man die Frage nach einem Ausmaß sexueller Gewalt aus der Perspektive von Betroffenen, sind vor allem die Anzahl, auch nach Intensitätsgrad, das Zahlenverhältnis von betroffenen Geschlechtern und das Alter während der Taten von Bedeutung.

16 vgl. Weber 2004, S. 192

(15)

Aus der Polizeilichen Kriminalstatistik aus dem Jahre 2012 geht hervor, dass 12.623 erfasste Fälle nach §§ 176, 176a und 176b ausgewiesen wurden.18 Jedoch ist hierbei zu beachten, dass dies nur einen Ausschnitt des wahren Ausmaßes darstellt, da nicht jede Tat bei der Polizei angezeigt wird. Doch kann man mit Dunkelfeldbefragungen nicht auf ein präzises Ausmaß gelangen, sondern sich der tatsächlichen Zahl immer nur annähern.

Eine für Deutschland repräsentative Stichprobe ist die des Kriminologischen For-schungsinstitutes Niedersachsen aus dem Jahr 1992, bei der 1.661 Frauen und 1.580 Männer zu konkreten als auch zu unspezifischen Handlungsformen sexueller Gewalt befragt wurden. Die Bedingungen waren, dass die Vorfälle während der Kinder- oder Jugendzeit stattgefunden haben, die TäterIn mindestens fünf Jahre älter war, die Hand-lungen nicht verstanden oder gewollt und die sexuelle Erregung das Ziel der Handlun-gen waren. Die Untersuchung ergab, dass 18,1% der Frauen und 6,2% der Männer Übergriffe nach den erläuterten Kriterien erleiden mussten.19 Eine Studie von Wetzels aus dem Jahr 1997 kann diese Zahlen mit ziemlicher Genauigkeit bestätigen.20

Diese Zahlen ließen sich nach Berechnungen von Deegener nach Intensitätsgraden einteilen, wie sie schon unter dem Punkt 2.4. ausführlich erläutert wurden. Danach stell-ten die instell-tensive und die weniger instell-tensive sexuelle Gewalt mit jeweils 35% den Haupt-anteil dar, während sehr intensive und sexuelle Gewalthandlungen ohne Körperkontakt mit jeweils 15% nur einen kleineren Anteil ausmachten.21

Wie Engfer berichtet, sei in den frühen achtziger Jahren die Rede gewesen von einem Betroffenenverhältnis zwischen Mädchen und Jungen von 9:1. Nach neueren Erkennt-nissen sei dies jedoch viel zu ungenau. Jüngere Studien schätzten daher ein Verhältnis von 2:1 bis 6:1, die meisten kämen auf einen Nenner bei 1,5-4:1, was weiterhin Mäd-chen als Hauptbetroffene charakterisiere.22

Außerdem ergab eine Studienzusammenfassung von Enger, dass fünf bis 14-Jährige am häufigsten von sexueller Gewalt betroffen seien, seltener über 14 Jahren, aber noch seltener im Vorschulalter, was daran liegen könne, dass Säuglinge und Kleinkinder

18 vgl. Bundesministerium des Innern 2013 (Internetquelle)

19 vgl. Bange 2004, S. 35

20 vgl. Herzig 2010, S. 4

21 vgl. Deegener 2006, S. 34

(16)

eignisse kaum über die Sprache erinnern könnten, so Herzig.23 Weiterhin besagen Stu-dien, dass nur etwa 59% aller Taten bei Mädchen und 70% bei Jungen ein einmaliger Übergriff waren, wobei Wiederholungstaten hauptsächlich durch Angehörige der Betrof-fenen begangen werden. Dabei dauern gerade mal 6-12% der Fälle über ein Jahr lang an. Die meisten Vorkommnisse sind bei Jungen eher exhibitionistische Handlungen, während bei Mädchen sexuelle Berührungen die Oberhand gewinnen. Darüber hinaus sind sexuelle Taten gegen Kinder und Jugendliche durch Bekannte oder Fremde drei-mal so häufig begleitet von der Androhung und Anwendung von Gewalt, während Fami-lienangehörige die Betroffenen eher mit emotionaler Zuwendung verführen.24 Zuletzt sei noch anzumerken, dass sowohl die Betroffenenbefragung von Wetzels, als auch eine Metaanalyse von insgesamt 169 Studien ergeben hat, dass es keinerlei Trends von Zu- oder Abnahme gibt, sexuelle Gewalt also kein Phänomen unserer Zeit ist.25

3.2. Die TäterInnen

Wenn man das Feld derer betrachtet, die sexuelle Gewalt ausüben, ist es vor allem wichtig, die Beziehung zur Betroffenen und den geschlechterspezifischen Anteil ins Au-ge zu fassen.

Nach offiziellen Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik von 2002 wurden knapp die Hälfte der sexuellen Gewalttaten gegen Kinder und Jugendliche von Fremden began-gen, was jedoch nicht mit Zahlen aus den Dunkelfeldstudien übereinstimmt.26 Auch die PKS aus dem Jahr 2008 zeigt auf, dass nur in 19% der Fällen eine Verwandtschaft, in 30% eine Bekanntschaft, in 9% eine flüchtige Vorbeziehung und in 35% keine Vorbe-ziehung bestand.27 Diese hohen Zahlen in Bezug auf die prozentualen Anteile an FremdtäterInnen vergleichend zu Dunkelfeldstudien könnten auf dem Fakt beruhen, dass die Hemmschwelle zur polizeilichen Anzeige von Familienangehörigen oder Be-kannten deutlich höher ist als bei Fremden.

23 vgl. Herzig 2010, S. 4 24 vgl. Engfer 2005, S. 15 25 vgl. ebd. S. 13 26 vgl. ebd. S. 12 27 vgl. Zietlow 2010, S. 9

(17)

Die Dunkelfeldstudie von Wetzels aus dem Jahr 1997 zeigt hingegen deutlich, dass der Anteil von FremdtäterInnen geringer ist, als offizielle Zahlen sagen. Hier sind es nämlich 26% der Fälle, die von Unbekannten begangen wurden, während die TäterInnen zu 42% Bekannte und zu 27% Familienmitglieder waren.28 Auch Banges Studie aus dem Jahr 1992 beweist dies, bei der in der Hälfte der Fälle auf TäterInnen aus dem Bekann-ten-, zum Viertel aus dem Familienkreis und nur zu einem Fünftel auf Fremde zurückzu-führen war.29 Ergänzend dazu weisen diese Zahlen darauf hin, dass sexuelle Gewalt häufiger als bei anderen Misshandlungsformen im außerfamiliären Kontext geschieht.30 Weiterhin haben Studien ergeben, dass in 97,5% der Fälle, in denen die Betroffene weiblich war und in 78,7% der Fälle mit männlichen Betroffenen, von männlichen Tätern die Rede ist. Dazu lässt sich jedoch sagen, dass die Zahl der Täterinnen wahrscheinlich unterschätzt wird, weil Frauen im Allgemeinen mehr Körperkontakt mit Kindern und Ju-gendlichen zugestanden wird und sie es daher eher kaschieren können und da Jugend-liche, die sexuellen Kontakt mit älteren Frauen haben, sich weniger „missbraucht“ oder als „Opfer“ fühlen. Des Weiteren kommt auch der oft angesprochene Vater-Tochter-Inzest vergleichsweise selten vor. Dieser macht gerade mal zwei bis drei Prozent aller Fälle aus. Die Wahrscheinlichkeit, durch Stief- oder Pflegeväter sexuelle Gewalt erleben zu müssen, ist für Kinder und Jugendliche hingegen schon deutlich höher.31

Zusammenfassend bin ich der Ansicht, dass gerade aufgrund der eher hohen Zahl von einmaligen Übergriffen SozialarbeiterInnen oder gegebenenfalls andere Beteiligte gut überlegt abwägen sollten, ob eine Anzeige bei der Polizei und eine psychotherapeuti-sche Aufarbeitung der Ereignisse immer sinnvoll wären, da diese damit verbunden sind, erneut die Geschehnisse durchleben zu müssen und das Wohl der Kinder und Jugend-lichen dadurch noch mehr gefährdet würde, zumal gerade kleinere Kinder oder bei we-niger intensiven Handlungen die Chance besteht, keine (schwerwiegenden) Traumati-sierungen davonzutragen. 28 vgl. Herzig 2010, S. 4 29 vgl. Engfer 2005, S. 15 30 vgl. Herzig 2010, S. 4 31 vgl. Engfer 2005, S. 14f.

(18)

4. Die professionelle Verdachtsabklärung

Diese Überlegungen werden neben anderen wichtigen Entscheidungen von den betei-ligten Fachkräften während des Hilfe- bzw. Abklärungsprozesses vorgenommen. Je-doch geht es weniger um den Nachweis der Tat oder die Frage, wer der Täter ist und wie er zur Verantwortung gezogen wird, sondern welche Hilfen angemessen für die Be-troffene und ihre Familie sind und wie der Schutz des Kindes oder der Jugendlichen effektiv gewährt werden kann.

In diesem Kapitel soll es darum gehen, einen Einblick in die institutionellen Verfahren und Standards bei der Bereitstellung der Hilfen und der Gewährleistung des Schutzes eines betroffenen Kindes oder einer Jugendlichen durch die Jugendhilfe zu schaffen. Um die Verfahren näher erläutern zu können, ist es zunächst wichtig sich zu fragen, welche HelferInnen und Institutionen am Hilfe- bzw. Aufklärungsprozess beteiligt sind. Anschließend soll der Blick auf den Prozessablauf der Verdachtsabklärung durch Sozi-alarbeiterInnen mit Schwerpunkt auf den Methoden der Qualitätssicherung der Hilfe gerichtet werden.

4.1. Wer ist am Hilfeprozess beteiligt?

Die Jugendhilfe ist eine Selbstverwaltungsangelegenheit der Gemeinden und alle ihre Aufgaben sind auf kommunaler Ebene angesiedelt. Dem Jugendamt als Vertreter der öffentlichen Jugendhilfe obliegt die Gesamtverantwortung für die Erfüllung der Aufga-ben nach dem Achten Sozialgesetzbuch.32 Seine MitarbeiterInnen sind damit verpflich-tet sich für den Schutz von Kindern und Jugendlichen einzusetzen, indem sie Gewalt-handlungen präventiv begegnen und frühzeitig erkennen, frühe Hilfen für die Betroffe-nen und die Familien bereitstellen und anbieten, eine akute Gefährdung so schnell wie möglich beenden und nachfolgend Hilfen zur Verarbeitung der Erlebnisse durch Ver-trauenspersonen unterbreiten. Ebenso ist auch die Mitwirkung in strafrechtlichen Pro-zessen nicht ausgeschlossen.33 Damit stehen die Jugendhilfe und seine VertreterInnen stets im Spannungsfeld zwischen den im Achten Sozialgesetzbuch verankerten

32 vgl. Hartwig/Hensen 2008, S. 56

(19)

rechten, dem Kindeswohl und den Kinderrechten sowie zwischen Hilfe und Kontrolle, was ein Doppelmandat für die Jugendhilfe darstellt.34

Der Allgemeine Sozialdienst (ASD) repräsentiert einen Verwaltungsteil innerhalb der kommunalen Selbstverantwortung und hat folglich die Aufgabe der öffentlichen Fürsor-ge der Gemeinde. Meist verkörpert er eine Abteilung der JuFürsor-gend- oder Sozialämter, existiert vereinzelt aber auch als eigenes Amt. Er ist genau an der Schnittstelle zwi-schen BürgerInnen und dem Jugendamt angesiedelt und dafür verantwortlich, defizitäre Lebenslagen und Hilfebedarfe aufzuspüren und Angebote für Kinder, Jugendliche und Familien zugänglich zu machen. Er nimmt damit die Aufgaben des Jugendamtes vor Ort wahr.35

Der Kinderschutz ist ebenso das oberste Ziel von besonderen Stellen und Fachdiens-ten, die teilweise selbständig agieren, zum anderen Teil eine beratende Instanz inner-halb des Jugendamtes konstituieren. Ebenso wird er auch von Institutionen in freier Trägerschaft wahrgenommen, die mit dem Jugendamt kooperieren und die Verpflich-tung zum Eingreifen bei Kindeswohlgefährdung nach dem SGB VIII innehaben. Damit können bestimmte Aufgabenbereiche der öffentlichen Jugendhilfe an freie Träger dele-giert werden. Das Jugendamt behält allerdings stets die Gesamtverantwortung.36

Hinweise auf das Vorliegen von Kindeswohlgefährdung, also auch sexueller Gewalt, können somit nicht nur beim Jugendamt, sondern auch beim ASD eingehen. Falls keine spezialisierten Dienste innerhalb der Jugendamtsbehörde integriert sind, übernehmen Mitarbeiter des ASD die Federführung im Hilfeprozess. Spezialisierte Fachstellen kön-nen aber auch hauptsächlichen beratend für Mitarbeiter im Fallgeschehen tätig sein.37 Mögliche außerinstitutionelle Kooperationspartner, die zum Hilfeprozess mit dienlichen Hinweisen zur Gefährdung und zur Abklärung der Lebenssituation einer möglichen Be-troffenen sowie zur Beratung von möglichen Handlungsschritten beitragen können, sind Schule oder Kindergarten, die die Betroffene besucht, Einrichtungen zur Fremdunter-bringung, Fachdienste im Jugendamt oder in freier Trägerschaft, Spezialberatungsstel-len, die auf den Schwerpunkt sexueller Gewalt konzentriert sind, Erziehungs- und Fami-lienberatung, Arbeitsgemeinschaften nach §78 SGB VIII, in denen sich Vertreter der Jugendhilfe zusammengefunden haben, medizinische Institutionen, psychologische

34 vgl. Weber 2004, S. 195

35 vgl. Hartwig/Hensen 2008, S. 57ff.

36 vgl. ebd. S. 57f. 37 vgl. ebd. S. 58

(20)

oder ärztliche Gutachter sowie die Justiz, die von Richtern oder der Polizei vertreten werden.38

4.2. Die Prozessgestaltung der Verdachtsabklärung

Da die Jugendhilfe auf kommunaler Ebene angesiedelt ist, gibt es von Gemeinde zu Gemeinde unterschiedliche Abläufe und Devisen in der Verdachtsabklärung von sexuel-ler Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Im Folgenden soll der Prozess der Ver-dachtsabklärung anhand der „Leitlinien für die fachliche Kooperation bei sexueller Ge-walt gegen Mädchen und Jungen in Mannheim“ erläutert werden, die 1993 von einem Mannheimer Arbeitskreis vorgelegt, 2004 weiterentwickelt und seitdem praktiziert wer-den. Die Handlungsschritte werden unterteilt in:

• Reflexion

• Kollegiale Beratung • Fachberatung • Hilfekonferenz

• Maßnahmen zum Schutz • Konfrontationsgespräch • Therapeutische Angebote • Strafanzeige39

Um die einzelnen Schritte besser zu verdeutlichen, sollen sie anhand eines Fallbei-spiels näher erläutert werden:

„Max (5 Jahre) und Tim (7 Jahre) sind im Kinderheim. Die junge Mutter war mit ihren Kindern überfordert und nervlich überbelastet. Am Samstagnachmittag kommt die 5-jährige Melina heulend zur Erzieherin. Max habe versucht, Melina einen Zungenkuss zu geben und mit dem Finger in ihre Scheide einzudringen. Als die Erzieherin Max an-spricht, woher er das kenne, äußerte er, das habe er zu Hause bei seiner Mama und ihrem Freund gesehen. Dort hätten der Freund und seine Mutter ihn und auch den Bru-der gezwungen, bei sexuellen Handlungen zuzuschauen. Dazu seien sie mit einem Ka-bel an einen Stuhl festgebunden, bedroht und mit dem KaKa-bel geschlagen worden.

38 vgl. Hartwig/Hensen 2008, S. 156

(21)

Die Erzieherin entschließt sich, am Wochenende auf sich allein gestellt, die Polizei zu informieren und die Aussage von Max zu Protokoll zu geben. Dass sie damit ein Verfah-ren in Gang setzt, dessen Verlauf sehr unsicher sein kann, ist ihr zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst.“40

Ein Verdacht auf sexuelle Gewalt entsteht in den meisten Fällen durch Aussagen oder Berichte von Kindern und Jugendlichen, aber auch auffallendes Verhalten wie eine se-xualisierte Sprache oder Spiele mit sexuellem Inhalt sowie gemalte Bilder können Indi-zien auf einen sexuellen Übergriff geben.

Meist sind es die Sozialen Dienste der Jugendämter oder Beratungsstellen, die Hinwei-se erhalten oder durch Kontakt eine Vermutung hegen. Sie tragen damit die Verantwor-tung zur fachlichen Initiierung erster Schritte im Sinne des Kinderschutzes.41 Im Fallbei-spiel ist es die Erzieherin, die von eventuellen Vorfällen hört und an der es nun liegt, ob und wie Schritte eingeleitet werden.

4.2.1. Reflexion

Eine Reflexion dient dazu unüberlegtes und voreiliges Handeln zu verhindern. Sie zielt darauf ab zu erkunden, was die Beobachtungen bei einem selbst auslösen, die Wahr-nehmung mit jemand anderem auszutauschen, Erklärungsmöglichkeiten für das Verhal-ten des Mädchens oder Jungen zu finden und Hypothesen zu bilden, was passieren würde, wenn sich der Zustand nicht verändert. Darauffolgend sollte überdacht werden, welche Veränderungen sich für das Kind oder die Jugendliche gewünscht werden und was nächste Schritte sein könnten. Denn im schlimmsten Fall kann übereiltes Handeln dazu führen, dass die TäterIn von dem Verdacht erfährt, ein Schutz der Betroffenen noch nicht gewährleistet werden konnte und die sexuelle Gewalt kein Ende findet.

Im genannten Fallbespiel wird deutlich, dass die Erzieherin mit diesen Richtlinien nicht vertraut ist. Eine vorherige Reflexion hätte dazu beitragen können, die Polizei nicht frühzeitig zu alarmieren und damit in Kauf zu nehmen, dass die Mutter und ihr Freund von der Aussage der Erzieherin erfahren.42 So hätte man sich gezielt auf eine

40 Sichau 2011, S. 214

41 vgl. Hartwig/Hensen 2008, S. 95f.

(22)

tation vorbereiten können und die Gefahr, dass die beiden den Vorfall abstreiten und nicht einsichtig sind, wäre minimiert gewesen.

4.2.2. Kollegiale Beratung

Eine kollegiale Beratung durchzuführen meint eine einrichtungsinterne Beratung mit Kollegen und falls möglich der ChefIn der Einrichtung einzuberufen, die darauf abzielt, die Wahrnehmung abzusichern, Fragen zuzulassen und gegebenenfalls die nächsten Schritte zu initiieren.43

Benannte Fragestellungen können mithilfe einer Checkliste abgearbeitet werden, wie der von Dörsch und Aliochin:

• Was hat das Mädchen oder der Junge geäußert, gemalt, gespielt? Welche Verhal-tensauffälligkeiten sind erkennbar?

• Zu welchem Zeitpunkt und wem gegenüber?

• Wer hat den Verdacht geäußert? Mehrere Personen unabhängig voneinander? • Warum wurde an sexuelle Gewalt gedacht?

• Wie zuverlässig sind Person und Information?

• Wie häufig und wie lange ist das Kind oder die Jugendliche möglicherweise schon Übergriffen ausgesetzt?

• Liegen Hinweise vor, dass mehrere Kinder oder Jugendliche betroffen sein könnten? • Wer wird als Täter vermutet? Innerfamiliär oder außerfamiliär?

• Fragen zur Familie der Betroffenen: Ist es ein geschlossenes, isoliertes System? Gibt es einen auffälligen Machtmissbrauch? Wird die Intimsphäre geachtet? Ist eine Rol-lenkonfusion zu erkennen?

• Sind bereits andere HelferInnen involviert? Welche? Wissen sie von dem Verdacht? • Sind bereits Schutzmaßnahmen getroffen worden?

(23)

• Welche HelferInnen müssen/dürfen informiert werden zur Gewährleistung des Schut-zes?

• Gibt es Vertrauenspersonen innerhalb der Familie/im weiteren Kreis/unter HelferIn-nen?

• Wer könnte es werden? Wie könnte sie sich für das Mädchen oder den Jungen er-reichbar machen?44

Wird der Verdacht nicht von einer MitarbeiterIn der Jugendhilfe, sondern einer Außen-stehenden erhoben, empfiehlt es sich ein persönliches Interview mit der MelderIn durchzuführen, um die Stichhaltigkeit der Hinweise weitestgehend abzuwägen. Dazu müssen die Motivation zur Meldung, die Beziehungsstruktur zum Mädchen oder Jungen und zur Familie und die Kompetenz, mit der die Verdachtsmomente erhoben wurden, abgeklärt werden. Durch die Sichtung und vorläufige Bewertung der Hinweise ist gele-gentlich in dieser Phase schon feststellbar, dass eine weitere Diagnostik nicht von Nö-ten ist.45

Hartwig und Hensen merken jedoch an, dass die Durchführung einer kollegialen Bera-tung in EinrichBera-tungen öffentlicher Jugendhilfe in Einzelfällen mehr der EinhalBera-tung von Verfahrensvorschriften, als einer ernsthaften gegenseitigen Unterstützung und einem Wahrnehmungsaustausch diene. Daher sei die Notwendigkeit gegeben, eine Teilnahme an der kollegialen Beratung verbindlich anzuordnen.46

Bezogen auf das Fallbeispiel, hätte die Erzieherin ihre KollegInnen hinzuziehen müssen um sich mit ihnen sorgfältig zu beraten, ob sie ebenfalls Beobachtungen mit Hinweis auf sexuelle Gewalt festgestellt haben und wie diese zu bewerten seien, um sich anschlie-ßend über die Einleitung von geeigneten Schritten abzustimmen, z.B. über die Informa-tion des Jugendamtes oder des ASDs.

An dieser Stelle wird deutlich, dass Hinweise auf sexuelle Gewalt oft nur vage und un-spezifisch erscheinen und diese bei den HelferInnen aus Angst etwas falsch zu machen zu überschnellen Reaktionen führen können. Diese können mithilfe einer Reflexion und einer Beratung unter Kollegen vermieden werden, wodurch das Handeln überdacht

44 vgl. Dörsch/Aliochin 1997, S. 27ff.

45 vgl. Motzkau 2005, S. 149f.

(24)

wird. Im Fokus sollten dabei immer der Schutz und die Abwendung von Gefahr und Traumatisierung zugunsten des Kindes oder der Jugendlichen stehen. Daher sei in je-dem Falle zu überprüfen, ob eine weitere Diagnostik und ein Einschreiten sinnvoll und von Nöten ist, damit zum einen die TäterInnen über den Verdacht weder vorschnell in-formiert werden noch handeln können, um nicht gestellt zu werden und zum anderen um bei einem Nichtvorliegen von sexueller Gewalt keine falschen Anschuldigungen zu tätigen, die Beziehungen zwischen und zu Familienmitgliedern oder zum Kind oder zur Jugendlichen nicht zu beeinträchtigen.

4.2.3. Fachberatung

Ergibt sich aus der kollegialen Beratung, dass tatsächlich sexuelle Gewalt vorliegen könnte bzw. sie nicht auszuschließen ist, empfiehlt es sich, Fachkräfte von spezialisier-ten Beratungsstellen, z.B. des Frauen- und Mädchennotrufs oder einer psychologischen Beratungsstelle hinzuzuziehen.47 Des Weiteren sind mit der Präzisierung des Schutz-auftrages gemäß des §8a SGB VIII in den Diensten und Einrichtungen der Jugendhilfe in Fällen von Kindeswohlgefährdung die sogenannten „insoweit erfahrenen Fachkräfte“ verpflichtend vorgesehen, die ebenfalls mit speziellem Fachwissen und praktischer Er-fahrung zur Verdachtsklärung beitragen können.48

Wenn man somit die Umstände des Fallbeispiels betrachtet, wäre es sehr sinnvoll, wenn sich die Heimleitung oder die Erzieherin selbst an das Jugendamt oder den ASD wenden würden, die sich dann um weitere Schritte bemühen. Dazu zählt, selbst eine kollegiale Beratung durchzuführen um abzuwägen, ob eine Fachberatung erforderlich ist.

In dieser Phase stehen neben der Fachberatung weitere Schritte der Exploration im Vordergrund. Die für den Fall zuständige Fachkraft ist damit angehalten, weitere Infor-mationen über die Lebenssituation und die Familie des Kindes oder der Jugendlichen einzuholen. Sinnvoll ist es immer, wenn die Eltern den Kontakt zum Jugendamt oder ASD aus Gründen des Datenschutzes und der Kooperation selbst herstellen. Wenn die Hinweise allerdings von einer außenstehenden Person kommen oder sich das Kind

47 vgl. Baldus/Utz 2011, S. 252

(25)

oder die Jugendliche selbst an das Jugendamt gewandt hat, ist zusammen mit dieser Person zu entscheiden, wie der Kontakt zur Familie erfolgen soll. Je nach Spezifik des Falls gehören zur Exploration auch die Gespräche mit den Eltern und zum Kind bzw. zur Jugendlichen.49 Dabei sollte ein Umgang mit möglichen Betroffenen immer mit Freundlichkeit und Offenheit gestaltet und keine grenzüberschreitenden Fragen gestellt werden, die das Kind oder die Jugendliche unter Druck setzen. Weiterhin sollten mit Kindern ab dem Vorschulalter und Jugendlichen immer besprochen werden, welche Schritte unternommen werden und welche Perspektiven sich damit öffnen.50 Die Einbe-ziehung der Eltern sollte allerdings nur erfolgen, wenn dadurch der Schutz der Betroffe-nen nicht gefährdet wird.51 Zeigen sich die nicht-„missbrauchenden“ Eltern(teile) koope-rativ, kann man versuchen darauf hinzuwirken, dass sie zum Schutz ihres Kindes tätig werden. Dabei sollte immer eine Abwägung erfolgen, ob sie dazu auch in der Lage sind. Gleichzeitig können fallspezifische Hilfen nach dem SGB VIII angeboten werden. Soll-ten sie allerdings nicht in der Lage oder willens sein, sich am Schutz und der Kooperati-on zu beteiligen, muss das dem Jugendamt gemeldet werden, das über das weitere Vorgehen und die Einschaltung des Familiengerichts entscheidet.52

4.2.4. Hilfekonferenz

Um gemeinschaftlich einen verbindlichen Hilfeplan bzw. ein Handlungskonzept zu er-stellen, kann jede an dem Fall beteiligte Fachkraft eine Hilfekonferenz einberufen, an der alle relevanten Kräfte teilnehmen sollen.53 Dazu gehören die fallverantwortliche Fachkraft, weitere Fachkräfte aus der öffentlichen und freien Jugendhilfe, die direkt in den Fall involviert sind, Fachkräfte aus den Bereichen Justiz, Medizin und Psychologie, die einer beratenden Aufgabe nachgehen, eine HilfeprozessmanagerIn und je nach Fallspezifik auch die Eltern.54 Haben sich diese Parteien zusammengefunden, gilt es eine geregelte Struktur für den Ablauf des Beratungsgesprächs herzustellen. Dies be-deutet, jemanden zur Gesprächsleitung zu ernennen, die Dokumentation sicherzustel-len und eine abschließende Evaluation durchzuführen. Dabei muss beachtet werden, 49 vgl. Motzkau 2005, S. 150 50 vgl. Nowotny 2010, S. 17 51 vgl. Buchholz 2011, S. 97 52 vgl. Weber 2004, S. 195 53 vgl. Sichau 2011, S. 216 54 vgl. Hartwig/Hensen 2008, S. 157

(26)

dass die datenschutzrechtlichen Grundsätze beachtet werden, sprich vertrauliche Daten für hinzugezogene beratende Fachkräfte zu anonymisieren bzw. pseudonymisieren.55 Um diese Prozesse zu regeln, ist es möglich eine HilfeprozessmanagerIn hinzuzuzie-hen, die mithilfe der Methode des Case-Managements Klarheit in den Rollen und Ar-beitsaufträgen der zuständigen Fachkräfte sowie eine Verbindlichkeit zur Hilfestrategie schafft und damit eine prozesssteuernde und koordinierende Rolle einnimmt.56 Darüber hinaus ist es ihre Aufgabe, die Kommunikation zwischen den Fachkräften aufrechtzuer-halten, Absprachen und die Einhaltung von (Teil-)Zielen zu kontrollieren und die Hilfe-konferenzen vorzubereiten, zu moderieren und zu dokumentieren.57

Die Durchführung von Hilfekonferenzen dient weiterhin dazu eine detektivistische Er-mittlungsarbeit durch Fachkräfte auf eigene Faust zu verhindern, da diese oftmals ge-gen den Datenschutz und die Privatsphäre verstößt und somit vor Gericht eher Scha-den anrichten als Nutzen bringen würde.58 Des Weiteren berichtet Sichau, dass in der Vergangenheit von den Fachkräften oft nur eine einseitige Ermittlungsarbeit stattgefun-den hätte, sprich dass nur in die Richtung der sexuellen Gewalt beraten wurde. Deshalb habe man stets zwei Theorien zu prüfen und zu bewerten: die Nullhypothese, die davon ausgehe, dass sexuelle Gewalt nicht stattgefunden hätte und die Alternativhypothese, nach welcher sexuelle Gewalt erfolgte.59

Richtet man mit diesem Wissen den Blick auf das Fallbeispiel von Max und Tim wird deutlich, dass der Schritt der Anzeigenerstattung von der Erzieherin weit vorweg ge-nommen wurde. In diesem Fall hätte diese Maßnahme zunächst in der Hilfekonferenz, an der die Erzieherin, die Einrichtungsleitung, die zuständigen Fachkräfte des ASD und medizinische, psychologische oder rechtliche BeraterInnen teilnehmen könnten, be-sprochen werden müssen.60

Allerdings sei an dieser Stelle gesagt, dass viele Verdachtsfälle diffus und offen bleiben und nicht zur Zufriedenheit der fallbeteiligten Fachkräfte abgeschlossen werden kön-nen. Das bedeutet, dass die Hinweise für ein Eingreifen nicht ausreichend sind, jedoch zu klar, um über sie hinwegzusehen. Daher bleiben viele Fälle während der kollegialen 55 vgl. Sichau 2011, S. 216f. 56 vgl. Hartwig/Hensen 2008, S. 143 57 vgl. Weber 2004, S. 200 58 vgl. Hartwig/Hensen 2008, S. 97 59 vgl. Sichau 2011, S. 217 60 vgl. ebd. S. 216

(27)

Beratung oder in der Hilfekonferenz stecken. Für die Fachkräfte bedeutet dies, die Situ-ation trotz der Ungewissheit aushalten zu müssen. Hofmeister legt für diese SituSitu-ation nahe, dass trotz keines erkennbaren Handlungsbedarfs weiterhin explorierend vorge-gangen werden sollte.61 Des Weiteren scheint es in diesem Fall sinnvoll zu prüfen, ob das Kind oder die Jugendliche mit anderen gewalttätigen Beziehungskonflikten inner-halb der Familie konfrontiert ist und daher Hilfen bedarf.62

4.2.5. Maßnahmen zum Schutz

Wenn die Bewertung der Situation mithilfe der beiden vorgestellten Hypothesen ergibt, dass von sexueller Gewalt ausgegangen werden muss, ist es von äußerster Wichtigkeit die Dringlichkeit des Kinderschutzes und ihre Form abzuklären.63 Dabei sollte in der Regel eine Trennung zwischen dem Kind bzw. der Jugendlichen und der vermuteten TäterIn erfolgen. Dies kann umgesetzt werden, indem der vermuteten TäterIn ein Platz-verweis erteilt wird, sie also die Wohnung verlassen muss und sich der Betroffenen nicht mehr nähern darf oder indem das Mädchen oder der Junge vorläufig in einer Pfle-gestelle oder einem Heim untergebracht wird. Ist für diese Maßnahme keine Zustim-mung der Sorgeberechtigten gegeben, muss das Familiengericht eingeschaltet werden, das einen Eingriff in die Elternautonomie durchsetzen kann. Ist die Gefahr jedoch so unmittelbar, dass eine Antwort des Familiengerichts nicht abgewartet werden kann, darf die Inobhutnahme auch ohne die Zustimmung erfolgen. Jedoch sei gesagt, dass beide Optionen der räumlichen Trennung ihre Nachteile haben. Bei einer Unterbringung des Kindes oder der Jugendlichen erfüllt sich oftmals eine Drohung der TäterIn, nachdem die Betroffene ins Heim müsse, sobald sie etwas preisgebe. Andersherum besteht beim Platzverweis der TäterIn die Gefahr, dass diese sich der Betroffenen trotz der Anord-nung nähert und die sexuelle Gewalt oder eine Bedrohung des Schutzes weiter an-hält.64 61 vgl. Hofmeister 2011, S. 65ff. 62 vgl. Nowotny 2010, S. 17 63 vgl. Motzkau 2005, S. 150 64 vgl. Sichau 2011, S. 217

(28)

4.2.6. Konfrontationsgespräch

Sobald der Schutz des Mädchens oder des Jungen gewährleistet ist, kann die vermutli-che TäterIn von Fachkräften des Jugendamtes bzw. ASDs einer Konfrontation unterzo-gen werden. Dieses Gespräch soll dazu dienen, die TäterIn für ihr Handeln verantwort-lich zu machen, drohende Konsequenzen aufzuzeigen und gegebenenfalls therapeuti-sche Behandlungsmöglichkeiten in Aussicht zu stellen.65

Eine Aufdeckung von sexueller Gewalt durch ein Konfrontationsgespräch sollte immer gut vorbereitet und geplant werden. Hierzu ist es unerlässlich sich die Fakten und Aus-sagen noch einmal vor Augen zu führen um ein möglichst detailreiches Wissen über den Vorfall bzw. die Vorfälle zu erlangen und sich über den Ablauf und Inhalt des Ge-sprächs mit beteiligten Fachkräften im Vorherein abzusprechen.66

Dadurch wird es möglich, einen Überraschungseffekt zu erzielen und damit ein (Teil-) Geständnis zu erhalten. Sollte dies nicht gelingen, gibt man der TäterIn damit einen Handlungsspielraum zum gezielten Verleugnen der Tat. Somit ist eine räumliche Tren-nung in erhärteten Verdachtsfällen von Vorteil, da die TäterIn das Kind oder die Jugend-liche nicht mehr unter Druck setzen und damit erreichen kann, dass diese ihre Aussage zurückzieht.67

Eine Konfrontation sollte allerdings nicht ohne eine Information des Mädchens oder Jungen stattfinden. Ihr soll die Möglichkeit gegeben werden, über Wünsche und Ängste bezüglich des Gesprächs sprechen zu können, welche während der Konfrontation mög-lichst berücksichtigt werden. In Einzelfällen ist es auch möglich, dass die Betroffene die TäterIn mit den Vorwürfen konfrontiert, selbstverständlich in Anwesenheit von Fachkräf-ten, die hier als emotionale und fachliche Stütze dienen können. Diese Option sollte jedoch sorgfältig abgewogen und mögliche Konsequenzen und Verläufe des Gesprächs beredet werden.68

Weiterhin müssen die Fachkräfte, die die TäterIn konfrontieren, ihr während des Ge-sprächs vermitteln, dass es nicht die Betroffene ist, die sie anschuldigt, sondern die Fachkräfte selbst, um das Machtgefälle zwischen TäterIn und Betroffenen abzubauen

65 vgl. Sichau 2011, S. 218

66 vgl. Dörsch/Aliochin 1997, S. 68f. 67 vgl. ebd. S. 68f.

(29)

und sie damit zu verunsichern. Daher ist ein überzeugtes und selbstbewusstes Auftre-ten der Konfrontierenden unerlässlich. Grundlage hierfür ist eine parteiliche Haltung zur Betroffenen.69

In manchen Fällen kann es vorkommen, dass die Beschuldigten nur Teile der sexuellen Gewalt gestehen und sich somit einer weiteren Konfrontation entziehen wollen. Daher ist geboten, dass sich die Fachkräfte nicht nur mit Teilaussagen zufrieden geben, son-dern darauf abzielen, dass das gesamte Ausmaß dargestellt wird, um der Betroffenen gerecht zu werden. Hierfür kann auch das Drohen mit einer Strafanzeige eingesetzt werden.70

4.2.7. Therapeutische Angebote

Bereits in der Hilfekonferenz sollten mögliche Therapieangebote besprochen und ge-eignete Maßnahmen ausgesucht und vermittelt werden. Den Betroffenen muss die Möglichkeit gegeben werden, die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten, stabilisiert zu werden und die verhinderten Entwicklungsprozesse nachzuholen. Ebenso können Familienangehörige von betroffenen Mädchen und Jungen therapeutische Angebote in Anspruch nehmen.71 Konnten die Fachkräfte durch die Konfrontation ein Geständnis erreichen, wirkt sich dies oft zum Vorteil der Betroffenen bezüglich der Verarbeitung aus, denn häufig kommt es vor, dass ihre Aussagen angezweifelt und die Taten ver-leugnet werden. Daher müssen die HelferInnen nicht nur im Nachhinein, sondern wäh-rend des gesamten Prozesses die Mädchen und Jungen von Schuldgefühlen und dem Geheimhaltungsdruck entlasten, die Verantwortlichkeiten klar benennen, die Persön-lichkeit stärken und ihnen verlässliche Beziehungen anbieten.72

Da jedoch eine Konfrontation nicht selten ohne ein Geständnis endet, sind jene benann-ten Maßnahmen im Umgang mit den Kindern und Jugendlichen umso wichtiger, da na-he- oder außenstehende Personen weiterhin an ihnen zweifeln können und sie nach wie vor einem Druck ausgesetzt sind, vor allem wenn es zu einem gerichtlichen Pro-zess kommt. 69 vgl. Dörsch/Aliochin 1997, S. 69f. 70 vgl. ebd. S. 70 71 vgl. Sichau 2011, S. 218 72 vgl. Weber 2004, S. 199

(30)

4.2.8. Strafanzeige

Da sich die Jugendhilfe dem Schutz und Wohl von Betroffenen sexueller Gewalt ver-pflichtet hat, ist es nicht ihr vorrangiges Ziel, eine TäterIn hinter Gitter zu bringen. Da-raus schließt sich, dass es in diesen Fällen keine Verpflichtung zur Erstattung einer An-zeige gibt.73 Soweit möglich, sollte dieser Schritt daher bereits ausführlich in der Hilfe-konferenz abgewogen werden.

Der Vorteil der eine Anzeige mit sich bringt ist der, dass eine Verurteilung der TäterIn das Kind oder die Jugendliche effektiv vor weiteren Angriffen schützt. Ebenso kann da-durch ein Stück Gerechtigkeit hergestellt werden, was einer Betroffenen dabei helfen kann, ihren Frieden zu finden und damit ihrem Wohl dient. Sie erlebt, dass die TäterIn die alleinige Verantwortung für die Geschehnisse trägt und sie keine Schuld trifft. Je-doch bedeutet eine Anzeige nicht immer eine Verurteilung.

Sichau wendet ein, dass ein Strafverfahren immer eine erneute Traumatisierung der Betroffenen mit sich bringen könne, da das Machtgefälle hier nicht automatisch aufge-hoben sei. Weiterhin seien diese Verfahren oft sehr langwierig und die Beweisbarkeit eher weniger vorhanden, da es meistens keine Zeugen gäbe und somit Aussage gegen Aussage stünde.74 Des Weiteren ist das Mädchen oder der Junge Befragungen ausge-setzt, deren Ziel es ist, die Tat(en) möglichst genau zu rekonstruieren, welche sie alle Ereignisse noch einmal durchleben lassen. Dazu kommt, dass die Glaubwürdigkeit der Betroffenen von Richtern und Staatsanwälten angezweifelt werden kann, vor allem wenn das Beweismaterial nicht ausreichend ist. Dies kann den eventuellen bisherigen Fortschritt der Verarbeitung zunichtemachen, da es sie erneut an ihrer Wahrnehmung und ihrer Unschuld zweifeln lässt.

Lässt sich eine Tat vor Gericht nicht beweisen und kommt es zu einem Freispruch, kann das weitreichende Konsequenzen für die Betroffenen haben. Nicht nur, dass sie dadurch wieder einer Traumatisierung ausgesetzt sind, so zeigt auch das Fallbeispiel, in der die Erzieherin vorschnell eine Anzeige erstattet hat, dass ein Strafverfahren nicht in jedem Fall und schon gar nicht ohne Vorbereitung sinnvoll ist. Es endete damit, dass Max und Tim ihre Aussage zurückgenommen haben, da sie ihre Mutter nicht belasten,

73 vgl. Hartwig/Hensen 2008, S. 96

(31)

sondern zu ihr zurück wollten. Die Anzeige wurde fallen gelassen und ihre Mutter hat sie daraufhin nicht mehr zu sich zurück genommen.75

Dieses Kapitel soll veranschaulichen, wie eine Prozessgestaltung im Idealfall aussehen könnte. Besonderes Augenmerk wird hierbei auf die Kooperation zwischen verschiede-nen Fachkräften der Sozialen Arbeit und anderen Berufsgruppen gelegt. Wie bereits erwähnt, durchlaufen viele Fälle nicht den gesamten Prozess, sondern bleiben stecken, weil sich der Verdacht nicht bewahrheiten kann und Hinweise nicht ausreichend sind. Die Gründe dafür können zum einen darin liegen, dass keine sexuelle Gewalt, mögli-cherweise aber andere Gefährdungen vorliegen, die fehlinterpretiert wurden oder wenn tatsächlich sexuelle Gewalt stattfindet, sie durch die HelferInnen nicht wahrgenommen oder verleugnet werden oder die Bemühungen trotz der entwickelten Arbeitshilfen und Standards nicht ausreichen, um genügend Hinweise zu sammeln, die ein Eingreifen möglich machen.

Hartwig und Hensen weisen zudem darauf hin, dass die klassische familienorientierte Ausrichtung der Sozialdienste in Fällen sexueller Gewalt eher schädlich sei und die Pri-orität in der Stärkung und im Schutz der Kinder und Jugendlichen liegen müsse. Sie begründen ihre Aussage damit, dass eine Fortsetzung der Gefährdung nicht ausge-schlossen werden könne und die Intervention daher immer auf die Trennung von der TäterIn abzielen müsse. Daher sei eine Einzeltherapie sowohl für Betroffene als auch für die TäterIn bei innerfamiliärer sexueller Gewalt auch einer Familientherapie vorzu-ziehen.76

Weiterhin stellt Weber heraus, dass Betroffene trotz des gestiegenen Problembewusst-seins nicht in allen Fällen eine angemessene Unterstützung durch die Soziale Arbeit erführen. Nach wie vor seien die Hilfen eher am Familienerhalt und geschlechtsspezifi-schen Rollenerwartungen orientiert. Zu oft würden Anzeichen, Hinweise und Aussagen übersehen, verharmlost und verleugnet, Mitschuld unterstellt und die Symptome, sprich die Verhaltensweisen aufgrund der Traumatisierung durch sexuelle Gewalt, als proble-matischer angesehen.77 Sie verdeutlicht damit, dass die erläuterten Leitlinien des Mannheimer Konzepts ein musterhaftes Beispiel entgegen mancher sozialpädagogi-schen und institutionellen Realitäten darstellt.

75 vgl. Sichau 2011, S. 219

76 vgl. Hartwig/Hensen 2008, S. 59f.

(32)

5. (Sozialpädagogische) Grundlagen der Verdachtsabklärung

Nachdem im vorigen Kapitel der Prozess der Verdachtsabklärung behandelt wurde, soll sich dieses den Blick auf die Grundlagen der Verdachtsabklärung richten. Dies bedeu-tet, dass zunächst herausgestellt werden muss, wie sich Hinweise auf sexuelle Gewalt darstellen, in welcher Form sie erscheinen und welche Rolle sie in dem Prozess ein-nehmen. Weiterhin sollen die sozialpädagogischen Grundsätze für Gespräche mit be-troffenen Kindern und Jugendlichen dargelegt werden.

5.1. Hinweise auf sexuelle Gewalt

Kinder und Jugendliche, die von sexueller Gewalt betroffen sind, schweigen oft aus Scham und Angst, dass ihnen kein Glauben geschenkt wird. So gibt es Menschen, die ihre Gewalterfahrungen auch als Erwachsener nicht offenbaren. Doch geben sie in den meisten Fällen immer wieder versteckte Hinweise und doppeldeutige, vorsichtige Be-merkungen von sich, um die Reaktionen der Mitmenschen zu testen. Nur wenn diese Reaktionen positiv und verständnisvoll ausfallen, erhöht sich die Chance, dass die Be-troffene mehr Details preisgibt und die sexuelle Gewalt gestoppt werden kann.78

Das Kind oder die Jugendliche wählt dabei bewusst oder unbewusst einen Weg um Signale zu setzen, die von der Lebenssituation, der Art der sexuellen Gewalt, der Nähe zur TäterIn und von der Persönlichkeit abhängt. Diese Signale werden zu Verhaltens-strategien, die in Fleisch und Blut übergehen und das Überleben der Gewalt sichern. Sie können daher auch in späteren Lebensjahren und nach Beendigung der sexuellen Gewalt nur schwer abgeschüttelt werden. Das Fatale daran ist, dass die abwehrenden Verhaltensweisen oft krank machen, isolieren und die Lebensfreude rauben.79

Daher sind Signale und auftretende Symptome immer als Hilferuf zu verstehen, die je-doch von Erwachsenen in den meisten Fällen nicht als solche aufgenommen werden.

78 vgl. Jones 1996, S. 2ff.

(33)

Dennoch muss dabei beachtet werden, dass selbst das Auftreten von mehreren Symp-tomen kein eindeutiger Indikator für die Anwendung von sexueller Gewalt darstellt.80 Untersuchungen zufolge zeigen ein Fünftel bis ein Drittel der Mädchen und Jungen mit sexuellen Gewalterfahrungen keine Symptome. Mögliche Erklärungen hierfür sind, dass die Messinstrumente für die jeweiligen Untersuchungen ungeeignet waren, sich die Symptome erst später manifestieren, die Betroffenen weniger schwere Gewalt über ei-nen kurzen Zeitraum erfahren und viel Unterstützung von außen erhalten haben sowie über mehr eigene Ressourcen verfügen. Weiterhin sind eine Symptomausprägung und das Auftreten von schwerwiegenden Folgen von unterschiedlichen Faktoren abhängig: die Schwere, Häufigkeit und der Zeitraum der sexuellen Übergriffe, die Anwendung von Zwang und Gewalt, die Beziehung zur TäterIn und das Erleben von mehreren Gewalt-formen.81

Auch Engfer bestätigt dies und behauptet, dass sich die Betroffenen in 21-49% der Fäl-le völlig symptomfrei zeigten. Sie ergänzt, dass sich die psychischen Belastungen erst mit kognitiver Reife oder ersten Partnerschaftserfahrungen entwickelten. Weiterhin fügt die Autorin hinzu, dass nicht jede sexuelle Handlung zu Belastungen führe. Sie erklärt dies damit, dass in vielen Fällen die sexuelle Gewalt nur geringfügig ausgeprägt gewe-sen wäre, also ein Exhibitionismus oder eine einmalige Berührung stattgefunden hätte und auch die häufig auftretenden Ängste mit zunehmender zeitlicher Distanz schwinden würden.82

Das Schwierige an einer Aufdeckung von sexueller Gewalt besteht darin, dass es keine typischen Anzeichen oder ein Syndrom gibt, welche eindeutig darauf hinweisen könn-ten. Auch geben diagnostische Hilfsmittel nicht eindeutig Aufschluss. Als zuverlässigste Quelle gelten deshalb spontane Berichte von Seiten der Kinder oder Jugendlichen.83 Des Weiteren betont Engfer, dass Kinder und Jugendliche in gestörten Familienverhält-nissen besonders gefährdet seien schwerwiegende Folgen davonzutragen, da die Bedingungen in der Familie einflussreich wären für eine Symptomverstärkung bzw. -bewältigung. Sie stellt heraus, dass sexuelle Gewalt mit anderen Merkmalen belasteter Familienbeziehungen verknüpft sei und deshalb einige Störungsbilder, die man als

80 vgl. Gründer/Kleiner/Nagel 1997, S. 21f.

81 vgl. Herzig 2010, S. 5 82 vgl. Engfer 2005, S. 17 83 vgl. ebd. S. 16

(34)

Auswirkungen von sexueller Gewalt interpretieren kann, Folgen von belasteten Fami-lienverhältnissen darstellen.84

5.1.1. Verhaltens- und psychische Auffälligkeiten

Die markantesten Hinweise auf sexuelle Gewalt liefern Verhaltens- und psychische Merkmale, insofern das Kind oder die Jugendliche schweigt. Oft sind sie der einzige Anhaltspunkt, um überhaupt an dieses oder ein anderes Gewaltdelikt zu denken. Häufig erregen sie bei Mitmenschen, vor allem Eltern, Erziehern, Lehrern und sonstigen Päda-gogen Besorgnis und Hilflosigkeit.

Im Folgenden sollen Merkmale dargestellt werden, die auf sexuelle Gewalt hinweisen, sich aber gleichzeitig auch als Symptome anderer Gewaltformen oder Unstimmigkeiten und unerfüllter Bedürfnisse im Leben der Kinder und Jugendlichen widerspiegeln kön-nen. Sie können als Folgen der Ereignisse, aber auch als Bewältigungsversuche ver-standen werden.

Im Säuglings-, Kleinkind- und Vorschulalter (0-6 Jahre) sind es vor allem Ängste, die sich psychosomatisch in Form von Bauchschmerzen, Übelkeit, Einkoten und Einnässen (im fortgeschrittenen Alter) und Albträumen widerspiegeln können. Darüber hinaus ist bei Kindern in diesem Alter überdurchschnittlich häufig ein aggressives und/oder sexua-lisiertes Verhalten zu verzeichnen. Auch treten oft Regressionen, also die Wiederauf-nahme von kleinkindlichen Verhaltensmustern, als mögliche Folge von sexueller Gewalt auf. Dies ist damit begründet, dass sie versuchen sich möglicherweise in die Zeit zu-rückzuversetzen, in der sie den sexuellen Handlungen noch nicht ausgesetzt waren.85 Weiterhin lässt sich auch durch zwanghaftes Masturbieren, altersunadäquates sexuel-les Wissen und die sogenannte „Frozen Watchfulness“ (eingefrorene Wachsamkeit) auf Erfahrungen von sexueller Gewalt schließen.86

Während des Grundschulalters und in der Zeit während der Umschulung zu einer wei-terführenden Schule (7-12 Jahre) bleiben viele der oben genannten Symptome wie Ängste, psychosomatische Beschwerden und aggressives und/oder sexualisiertes

84 vgl. Engfer 2005, S. 17f.

85 vgl. Jungjohann 1996, S. 116/Engfer 2005, S. 17

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Weinheim, Basel 1994 Benz, Ute: Jugend, Gewalt und Fernsehen.. Der Umgang mit

„Mit dem Gesundheitstag haben wir auch die Mitarbeiter in den Betrieben noch mehr für das Thema sensibilisiert, sodass sie mögliche Warnsignale ihres Körpers besser erkennen und

„Mit dem Gesundheitstag haben wir auch die Mitarbeiter in den Betrieben noch mehr für das Thema sensibilisiert, sodass sie mögliche Warnsignale ihres Körpers besser erkennen und

Im Anhang werden der Deputation für Soziales, Jugend und Integration Eckpunkte für eine auf- suchend konzipierte Fachberatungsstelle, vorgelegt, das in den kommenden Monaten in

Täter von Gewalt- und Tötungsdelinquenz (Tatverdächtige rund 87 %) wie auch von sexuellem Missbrauch (Tatverdächtige rund 96 %) sind weit überwiegend männlichen Geschlechts..

1) Dimension sexueller Gewalt gegen Kinder und Jugendliche.. 2) Schutzkonzepte: Schutz und Zugang zu Hilfe in

• Lobby – Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche in Konfl iktsituationen, Caritasverband Paderborn e.V.. • MUT.ich – Jungenberatungsstelle Paderborn, Caritasverband

Möglichkeiten der digitalen Bildung und Beratung für Kinder, Jugendliche.. und Familien