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Zeit-Fragen. Kann der Frieden wieder Hauptanliegen der Politik werden? Nicht nur zum Genfer Treffen der Präsidenten Wladimir Putin und Joe Biden

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Zeit-Fragen

Zeitung für freie Meinungsbildung, Ethik und Verantwortung

für die Bekräftigung und Einhaltung des Völkerrechts, der Menschenrechte und des Humanitären Völkerrechts

ISSN 1022 – 2448 29. Juni 2021

29. Jahrgang Nr. 15

Genossenschaft Zeit-Fragen Redaktion und Verlag Postfach, CH-8044 Zürich Telefon: +41 44 350 65 50 Telefax: +41 44 350 65 51 redaktion@zeit-fragen.ch;

abo@zeit-fragen.ch; www.zeit-fragen.ch ZKZ 59600 PVSt,

AZA 8044 Zürich

15 POST CH AG

Die Mikrosteuer-Initiative – Gegenmacht gegen

Steuerparadiese, Börsenspekulationen und Krypto-Währungen

von Nicole Duprat, Frankreich*

«Wissen ohne Gewissen ist eine seelische Ruinenlandschaft», so drückte sich Rabelais in seinem «Pantagruel» aus.

Wir schulden Marc Chesney Dank dafür, dass er der Wirtschaftswissenschaft ihren Adelsbrief zurückgegeben hat, indem er seine äusserst klar verfassten Bücher (La crise per- manente und Dépossession) veröffentlicht hat sowie seinen jüngsten grundsätzlichen Artikel in Zeit-Fragen Nr. 11 vom 18. Mai 2021. Auf einfache, integre und loyale Art entwickelt er dabei seine kritische Analyse des Finanzsek- tors und verweist die Wirtschaftswissenschaft auf ihre menschlichen, gerechten und allge- meinverständlichen Grundlagen zurück. Die Wirtschaftswissenschaft wird dabei wieder zu einer Fachdisziplin, die bestrebt ist, ihre wis- senschaftlichen Kapazitäten mit dem zu ver- söhnen, was moralisch akzeptabel ist.

Es ist eine grosse Chance, dass ein Univer- sitätsprofessor mit Spezialgebiet Finanzwelt einfache Begriffe gebraucht, um äusserst komplexe Situationen zu beschreiben, die deshalb so komplex erscheinen, weil sie vom Nebel der beteiligten Institutionen und Ak-

teure durchdrungen sind, vom Nebel der Ban- ken, vom Nebel der Rolle der Steuerparadiese im globalisierten Börsengeschäft, vom Nebel zweifelhafter Spekulationen, des sogenann- ten «shadow bankings» (Finanzgeschäfte im Schatten), des herrschenden ungeniessbaren Fachjargons im Bereich Wirtschaft, des Sie- geszugs der Krypto-Währungen, der faulen Tricks bei internationalen Finanztransaktio- nen, der lügenhaften Fachliteratur, wie sie von der Schule von Chicago verbreitet wird, sowie der allgemeinen Akzeptanz des Profits und der illoyalen Konkurrenz.

«Ein guter Kopf ist besser als ein vollge- stopfter», gab Montaigne zu bedenken, und er hatte recht. Die Studenten der Wirtschafts- wissenschaften, die sich aus ihrem Studiengang heraus dann den verschiedenen Berufen im Be- reich der Wirtschaft widmen, werden es zwei- fellos schätzen, wenn sie auf Hochschulleh- rer stossen, die ihr Denken nicht ganz auf die Logik des gegenwärtigen Finanz-Kasinos und seiner abwegigen Auswirkungen ausrichten, sondern sie zur Reflexion hinführen und zum interdisziplinären Austausch, zum genaueren

Verständnis dessen, wie alles zusammenhängt.

Die Bildungsgänge der jungen Wirtschaftswis- senschafter sind oft geprägt von sehr engem Spezialistentum, welches mehr und mehr die umfassende Perspektive aus den Augen verliert und vor lauter Detailkenntnis das Ganze ver- gisst. Das führt zwingend dazu, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Erst die Überwindung der Fachgrenzen macht den Blick frei auf das Ganze im Wirtschaftswesen.

Es kann nicht erstaunen, dass die «Gilets jaunes» in Frankreich von der Idee und der In- itiative überzeugt waren, dass man die elektro- nischen Finanztransaktionen einer Mikrosteuer unterwerfen solle, um das überalterte und büro- kratische Steuersystem des Landes zu erneuern, das immer mehr Ungerechtigkeiten, um sich greifende Notlagen und Verelendung erzeugt.

Es gibt heute viele Mitbürger, Gemein- schaften und Gruppierungen, die sich darin einig sind, dass bei der Schaffung eines ge- rechteren und menschlicheren Gesellschafts- modells die Kreativität und die Erneuerungs- gabe die treibenden Kräfte sind, wenn es darum geht, aktiv zu werden.

Es ist sicher verdienstvoll, die Machen- schaften der Finanzoligarchie anzuprangern, aber an der Schaffung einer anderen Art der Wirtschaftsregulierung mitzuwirken hat eine viel weitere Dynamik. Die Zukunft lässt sich nicht voraussagen, sie verlangt nach der Suche von Lösungen. Das beste Mittel, in die Zukunft zu schauen, ist, sie mitzugestalten.

Die Zukunft, das sind wir, das, was in uns steckt.

Die Initiative des Komitees ist zu begrüs- sen. Sie bringt das Wirtschaften auf den Weg der Vernunft zurück, auf seine wirklichen Zu- sammenhänge. Und sicher ist so etwas leich- ter in der Schweiz zu realisieren, dank ihrer direkten Demokratie, ihren Mitteln der In- itiative und des Referendums, leichter als in Frankreich, wo die Demokratie oft eine De- mokratie des Schwatzens bleibt.

* Nicole Duprat ist dipl. Politikwissenschafterin in den Bereichen Recht und internationale Beziehungen des Institut d’Etudes Politiques Aix-en-Provence, Lehre- rin und Mitarbeiterin von Horizons et débats.

(Übersetzung Zeit-Fragen)

Kann der Frieden wieder Hauptanliegen der Politik werden?

Nicht nur zum Genfer Treffen der Präsidenten Wladimir Putin und Joe Biden

von Karl-Jürgen Müller Am 18. Juni 2021 hielt der deutsche Bundes-

präsident Frank-Walter Steinmeier eine bemer- kenswerte, eine bewegende Rede. Anlass dafür war die Eröffnung der Ausstellung «Dimen- sionen eines Verbrechens. Sowjetische Kriegs- gefangene im Zweiten Weltkrieg», die nun im Deutsch-Russischen Museum in Berlin Karls- horst zu sehen ist. Das Museum ist das Ge- bäude, in dem die deutsche Wehrmachtsfüh- rung in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 die Kapitulationsurkunde unterzeichnet hatte.

Die Rede des Bundespräsidenten war zugleich die zentrale Gedenkrede zum 80. Jahrestag des Beginns des deutschen Angriffskrieges gegen die Sowjetunion am 22. Juni 1941.

Der Bundespräsident erinnerte nicht nur an das Leiden der sowjetischen Kriegsgefangenen und die Verbrechen gegen die Völker der damaligen Sowjetunion (siehe Kasten auf S. 2). Er sprach auch über die Bedeutung der geschichtlichen Erinnerung für unsere Gegenwart und Zukunft.

Bis heute wirke der Krieg und seine Fol- gen – die Teilung der Welt in verfeindete Blöcke – auf unser Denken und Fühlen: «Der Krieg und sein Erbe haben auch unsere Erin- nerung geteilt. Und diese Teilung ist auch drei Jahrzehnte nach dem Fall des Eisernen Vor- hangs nicht überwunden. Sie bleibt eine Last für die Zukunft. Das zu ändern ist unsere Auf- gabe, eine Aufgabe, für die wir über die Gren- zen hinweg dringend mehr Anstrengung lei- sten müssen – der Vergangenheit wegen, vor allem aber für eine friedliche Zukunft kom- mender Generationen auf diesem Kontinent!»

«Wir sollten uns erinnern …»

Und weiter: «Wir sollten uns erinnern, nicht, um heutige und künftige Generationen mit einer Schuld zu belasten, die nicht die ihre ist, sondern um unserer selbst willen. Wir soll- ten erinnern, um zu verstehen, wie diese Ver- gangenheit in der Gegenwart fortwirkt. Nur wer die Spuren der Vergangenheit in der Ge- genwart lesen lernt, wird zu einer Zukunft beitragen können, die Kriege vermeidet, Ge- waltherrschaft ablehnt und ein friedliches Zu- sammenleben in Freiheit ermöglicht.»

Dass nach allem, was geschehen ist,

«Deutsche heute von den Menschen in Bela- rus, in der Ukraine oder Russland – gerade an diesen Orten – gastfreundlich empfangen werden, dass sie willkommen sind, dass man

ihnen warmherzig begegnet – das ist nicht weniger als ein Wunder.»

Für Deutschland und die Deutschen be- deute dies: «Machen wir uns an diesem Tag, an dem wir an Abermillionen Tote erinnern,

auch gegenwärtig, wie kostbar die Versöhnung ist, die über den Gräbern gewachsen war.»

Alles tun, um für den Frieden zu wirken Aus dem Geschenk der Versöhnung erwachse für Deutschland eine grosse Verantwortung:

«Wir wollen und wir müssen alles tun, um […]

für den Frieden mit und zwischen den Nach- folgestaaten der ehemaligen Sowjetunion zu arbeiten. […] Wir erinnern nicht mit dem Rük- ken zur Zukunft, sondern mit dem Blick nach vorn, mit dem klaren und lauten Ruf: Nie wie- der ein solcher Krieg! […] Lassen Sie, lassen wir nicht zu, dass wir einander von neuem als Feinde begegnen; dass wir den Menschen im anderen nicht mehr erkennen. Lassen wir nicht zu, dass die das letzte Wort haben, die der na- tionalen Überheblichkeit, der Verachtung, der Feindschaft, der Entfremdung das Wort reden.

Die Erinnerung soll uns einander näherbrin- gen. Sie darf uns nicht von neuem entzweien.

Die Zukunft – eine bessere Zukunft – liegt in unseren Händen.»

An einer Stelle zitiert der Bundespräsi- dent eine Frage des ehemaligen sowjeti- schen Kriegsgefangenen Boris Popov, der das grosse Glück hatte, die deutsche Ge- fangenschaft zu überleben – eine Frage, die Boris Popov viele Jahre nach dem Krieg öf- fentlich stellte: «Es ergibt sich zwingend die Frage: Wäre es nicht für die Menschheit Zeit, Kriege grundsätzlich abzulehnen und im Ver- hältnis gegenseitiger Achtung auch noch so komplizierte Fragen friedlich zu lösen?»

Ein Weg, der von der Logik der Eskalation wegführte Steinmeier selbst antwortet: «Europa war einer Antwort schon einmal näher als heute.

Es gab vor Jahrzehnten, trotz Spannungen und Blockkonfrontation, auch einen anderen Geist, auf beiden Seiten des Eisernen Vor- hangs. Ich meine den Geist von Helsinki. In- mitten der gegenseitigen Drohung mit nukle- arer Vernichtung entstand ein Prozess, der durch Anerkennung gemeinsamer Prinzi-

Fortsetzung auf Seite 2 Der russische Präsident Wladimir Putin, Bundespräsident Guy Parmelin und US-Präsident Joe Biden

vor dem Konferenzgebäude in Genf. (Bild Keystone, Quelle: Tass, Sergei Bobylev)

Gemeinsame Erklärung der Präsidenten der USA und Russ lands zur strategischen Stabilität vom 16. Juni 2021

Wir, der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, Joseph R. Biden, und der Prä- sident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, stellen fest, dass die Vereinigten Staa- ten und Russland bewiesen haben, dass sie auch in Zeiten der Spannung in der Lage sind, Fortschritte bei unseren gemeinsamen Zielen zu erzielen, nämlich Planungssicher- heit im strategischen Bereich zu gewährlei- sten sowie die Gefahr eines bewaffneten Konfliktes und die Bedrohung durch einen Atomkrieg zu reduzieren.

Die jüngste Verlängerung des New-START- Vertrags ist ein Beispiel für unser Engage- ment für nukleare Rüstungskontrolle. Heute

bekräftigen wir den Grundsatz, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf.

Im Einklang mit diesen Zielen werden die Vereinigten Staaten und Russland in naher Zukunft gemeinsam einen integrierten bi- lateralen Dialog über strategische Stabilität aufnehmen, der wohlüberlegt und solide sein wird. Durch diesen Dialog wollen wir die Grundlage für künftige Rüstungskon- troll- und Risikominderungsmass nahmen schaffen.

Quelle: http://en.kremlin.ru/supplement/5658 (Übersetzung Zeit-Fragen)

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pien und durch Zusammenarbeit einen neuen Krieg vermeiden half. Dieser Weg, der bis zur Schlussakte von Helsinki führte, liegt jetzt fast ein halbes Jahrhundert zurück. Er war weder einfach noch gradlinig. Aber er war ein Weg, der wegführte von der Logik der Eskalation und der Gefahr wechselseiti- ger Vernichtung.»

Biden und Putin haben sich in Genf getroffen Zwei Tage vor der Rede des deutschen Bun- despräsidenten haben sich in Genf – dank der Guten Dienste der Schweizerischen Eid- genossenschaft – der US-amerikanische Prä- sident Joe Biden und der Präsident der Rus- sischen Föderation Wladimir Putin zu einem rund dreistündigen Gespräch getroffen. Zum Inhalt des Gesprächs und zu dessen Atmo- sphäre nahmen beide Präsidenten am späten Nachmittag und frühen Abend in getrennt ab- gehaltenen Pressekonferenzen Stellung; beide sind öffentlich zugänglich in Bild, Ton und Text.1

Das Treffen der beiden Präsidenten fand zu einem Zeitpunkt grosser Entfremdung zwischen den Regierungen der beiden Staa- ten und in einem Umfeld massivster Feind- bilder statt. Feindbilder, die vor allem von seiten der USA und ihrer westlichen Verbün- deten nun schon seit Jahren erzeugt und ver- tieft worden waren. Nahezu gleichlautend hatten die westlichen Mainstream-Medien das Feindbild Russland nicht nur transpor- tiert, sondern heftig weiteres Öl ins Feuer gegossen. Eine sachlich orientierte Russ- landberichterstattung gab es praktisch nicht mehr. Wie dies auf russischer Seite aussah, ist aus hiesiger Sicht nur schwer zu beurtei- len. Ich lese immer mal wieder deutschspra- chige russische Medien und habe dabei bei weitem nicht die Feindbildpropaganda be- obachten können wie umgekehrt in westli- chen Medien.

Keiner sollte mehr Sieger sein wollen Wie dem auch sei: Aus dieser Sackgasse wieder herauszufinden ist nicht einfach.

Dies merkte man vielen westlichen Medien- kommentaren nach dem Treffen der beiden Präsidenten an, auch in der Schweiz. Hier nur ein kleines, eher harmloses, aber be- zeichnendes Beispiel von vielen. Eine grosse Schweizer Tageszeitung titelte am 18. Juni:

«Russland sieht sich als Sieger». Belege dafür finden sich im folgenden Text nicht.

Könnte es nicht sein, dass sich im Titel vor allem Denkschablonen der Zeitungs- macher wiederfinden? Nämlich dass es bei

dem Treffen der beiden Präsidenten um die Frage gegangen wäre, wer der Sieger sei – und damit natürlich auch, wer der Verlierer.

Ein solches Denken ist weit verbreitet, steht aber dem Bemühen um Frieden fundamen- tal entgegen. Dass beide Präsidenten in ihren Pressekonferenzen nicht darauf aus waren, als «Sieger» dazustehen, sondern als ernst- haft Suchende nach einer friedlichen Lö- sung schwerwiegender Probleme und Kon- flikte, ist ein gutes Zeichen. Dass selbst ein so kritischer Denker wie Willy Wimmer in einem Interview mit der deutschen Ausgabe von Russia Today (RT) vom 18. Juni2 eine positive Einschätzung über das Genfer Gip- feltreffen abgegeben hat, lässt aufhorchen.

Frieden ist der sehnlichste Wunsch Sichere Aussagen über die Zukunft zu ma- chen, ist immer gewagt. Ein einziges Treffen schafft noch keinen Frieden. Es gilt abzuwar- ten, was die einzusetzenden Arbeitsgruppen vorlegen werden. Der Wille der politischen

Führungen, sich zu einigen, wird entschei- dend sein. Dass auch unausgesprochene geo- politische Kalküle (zum Beispiel im Dreieck USA-Russland-China), also Machtfragen, eine Rolle spielen, wird allen Beteiligten klar sein. Trotzdem gilt: Wenn das Treffen in Genf ein Schritt hin zu mehr Frieden sein wird, war es ein grosser Erfolg. Das erste zu Papier gebrachte Resultat des Treffens der beiden Präsidenten, eine «Gemeinsame Er- klärung zur Strategischen Stabilität» (siehe Kasten auf S. 1) ist sicher schon jetzt zu be- grüssen. Beide Präsidenten erinnern daran, dass es beiden Staaten, selbst in Zeiten der Spannung, gelungen sei, Fortschritte dabei zu erzielen, «die Gefahr eines bewaffneten Kon- fliktes und die Bedrohung durch einen Atom- krieg zu reduzieren». Mehr noch: Sie bekräf- tigen den «Grundsatz, dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf».

Die Menschen und Völker in jedem Land der Welt haben einen sehnlichsten Wunsch:

in Frieden leben zu können. Dieser Friede war bis zum 16. Juni sehr gefährdet. Nicht zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg.

Schon seit Jahren gibt es Regionen der Welt, in der die neue Konfrontation – wie schon im Kalten Krieg – auch mit Waffen ausge- tragen wird. In der Blockkonfrontation hat man 1962 nach der Kuba-Krise einen rich- tigen Schluss gezogen: ein immer weiter ge- hendes Drehen an der Eskalationsspirale ist eine Sackgasse und bringt die Welt an den Rand der Vernichtung. Eine Zuspitzung des Konfliktes zwischen den USA und Russland ist heute nicht weniger eine Sackgasse, in der es nur Verlierer geben kann.

In einem Beitrag für die deutsche Wo- chenzeitung Die Zeit zum 80. Jahrestag des deutschen Angriffskrieges auf die Sowjet- union3 hat der russische Präsident Wladimir Putin erneut darum geworben, Trennlinien auf dem eurasischen Kontinent gemeinsam und gleichberechtigt zu überwinden; denn

«wir können es uns einfach nicht leisten, die Last früherer Missverständnisse, Kränkun- gen, Konflikte mit uns herumzuschleppen.

Eine Last, die uns an der Lösung aktueller Probleme hindert».

Wie schwer es den Verantwortlichen in den Nato- und EU-Staaten trotz allem fällt, die einmal beschrittene Sackgasse wie- der zu verlassen, zeigte der EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs am 24. und 25. Juni. Statt sich, wie vom französischen Präsidenten und der deutschen Bundes- kanzlerin vorgeschlagen, nach sieben Jah- ren wieder auf einen Dialog mit der rus- sischen Regierung einzulassen, «einigte»

man sich auf schärfere Sanktionsdrohun- gen gegen Russland. Wahrlich kein Schritt der Entspannung.

So soll die Frage des sowjetischen Kriegs- gefangenen Boris Popov noch einmal am Schluss stehen: «Es ergibt sich zwingend die Frage: Wäre es nicht für die Menschheit Zeit, Kriege grundsätzlich abzulehnen und im Ver- hältnis gegenseitiger Achtung auch noch so komplizierte Fragen friedlich zu lösen?»

1 als Video mit deutscher Übersetzung: https://www.

youtube.com/watch?v=jdubWvLsCow (Pressekon- ferenz von Wladimir Putin), https://www.youtube.

com/watch?v=xZlbcywRpHs (Pressekonferenz von Joe Biden); als Texte in englischer Sprache:

https://www.whitehouse.gov/briefing-room/spee- ches-remarks/2021/06/16/remarks-by-president- biden-in-press-conference-4/ (Pressekonferenz von Joe Biden), http://en.kremlin.ru/events/president/

news/65870 (Pressekonferenz von Wladimir Putin)

2 https://de.rt.com/international/119263-willy- wimmer-gipfel-von-putin/ vom 18.6.2021

3 https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-06/ue- berfall-auf-die-sowjetunion-1941-europa- russland-geschichte-wladimir-putin/komplettan- sicht vom 22.6.2021

80 Jahre nach Beginn

des Angriffskrieges auf die Sowjetunion

Auszug aus der zentralen Gedenkrede

des deutschen Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier

«Was am 22. Juni 1941 begann, war die Entfesselung von Hass und Gewalt, die Ra- dikalisierung eines Krieges hin zum Wahn totaler Vernichtung. Vom ersten Tage an war der deutsche Feldzug getrieben von Hass: von Antisemitismus und Antibolsche- wismus, von Rassenwahn gegen die slawi- schen und asiatischen Völker der Sowjet- union.

Die diesen Krieg führten, töteten auf jede erdenkliche Weise, mit einer nie dagewese- nen Brutalität und Grausamkeit. Die ihn zu verantworten hatten, die sich in ihrem na- tionalistischen Wahn gar noch auf deutsche Kultur und Zivilisation beriefen, auf Goethe und Schiller, Bach und Beethoven, sie schän- deten alle Zivilisation, alle Grundsätze der Humanität und des Rechts. Der deutsche Krieg gegen die Sowjetunion war eine mör- derische Barbarei.

So schwer es uns fallen mag: Daran müs- sen wir erinnern! Die Erinnerung an dieses Inferno, an absolute Feindschaft und die Ent- menschlichung des anderen – diese Erinne- rung bleibt uns Deutschen eine Verpflich- tung und der Welt ein Mahnmal.

Hunderttausende sowjetische Soldaten sind schon in den ersten Monaten des Krie- ges, im Sommer 1941, gefallen, verhungert, erschossen worden.

Unmittelbar mit dem Vormarsch der deut- schen Truppen begann auch die Ermordung jüdischer Männer, Frauen und Kinder durch Erschiessungskommandos des SD und der SS und ihrer Hilfstruppen.

Hundertausende Zivilisten in der Ukraine, in Belarus, in den baltischen Staaten und in Russland wurden Opfer von Bombenangrif- fen, wurden als Partisanen unerbittlich ge- jagt und ermordet. Städte wurden zerstört, Dörfer niedergebrannt. Auf alten Fotogra- fien ragen nur noch verkohlte steinerne Ka- mine aus einer verwüsteten Landschaft.

Es werden am Ende 27 Millionen Tote sein, die die Sowjetunion zu beklagen hat. 27 Mil- lionen Menschen hat das nationalsozialisti- sche Deutschland getötet, ermordet, erschla- gen, verhungern lassen, durch Zwangsarbeit zu Tode gebracht. 14 Millionen von ihnen waren Zivilisten.

Niemand hatte in diesem Krieg mehr Opfer zu beklagen als die Völker der damaligen So- wjetunion. Und doch sind diese Millionen nicht so tief in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt, wie ihr Leid, und unsere Verant- wortung, es fordern.

Dieser Krieg war ein Verbrechen – ein monströser, verbrecherischer Angriffs- und Vernichtungskrieg. Wer heute an seine Schauplätze reist, wer Menschen begegnet ist, die von diesem Krieg heimgesucht wur- den, der wird an den 22. Juni 1941 erinnert – auch ohne Gedenktag und Mahnmal. Spuren dieses Tages finden sich in alten Menschen, die ihn als Kinder erlebten, und in den jünge- ren, in ihren Enkeln und Urenkeln.»

Quelle: https://www.bundespraesident.de/

SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Steinmeier/

Reden/2021/06/210618-D-Russ-Museum-Karls- horst.html vom 18.6.2021

22. Juni 2021 – Lasst uns Frieden stiften

Ein Aufruf, 80 Jahre nach dem 22. Juni 1941

zf. Das Deutsch-Russische Forum und das International Peace Bureau (IPB) veröffent- lichten zum 80. Jahrestag des deutschen An- griffskrieges auf die Sowjetunion den Aufruf

«Lasst uns Frieden stiften». Initiiert wurde der Appell von Antje Vollmer, Vizepräsiden- tin des Deutschen Bundestages a. D., Adel- heid Bahr, Erziehungswissenschaftlerin, Da- niela Dahn, Schriftstellerin, Peter Brandt, Historiker, Reiner Braun, Geschäftsfüh- rer des International Peace Bureau, Martin Hoffmann, Geschäftsführendes Vorstands- mitglied des Deutsch-Russischen Forums, Michael Müller, Staatssekretär a. D. und Vorsitzender der Naturfreunde, sowie Matt- hias Platzeck, Ministerpräsident a. D. und Vorsitzender des Vorstandes des Deutsch- Russischen Forums.

Die mehr als 1300 Unterzeichner erin- nern an die Opfer der deutschen Greuel- taten im Osten und fordern die Politiker Europas auf, die Denkmuster des Kalten Krieges zu überwinden und aufeinander zuzugehen.

Der Aufruf, der am 22. Juni 2021 in der

«Berliner Zeitung» und in der russischen Zei- tung «Kommersant» abgedruckt wurde, setzt vor dem Hintergrund der schweren Spannun- gen im deutsch-russischen Verhältnis ein Zei- chen des Gedenkens und der Versöhnung.

In Deutschland wird dieser Aufruf bislang nahezu totgeschwiegen.

Am 22. Juni 2021 jährt sich zum 80. Mal der Überfall Nazideutschlands auf Russ- land und die Völker der Sowjetunion. Für uns, die Unterzeichner, ist dieser Tag ein Tag der Trauer, der Scham und des Nach- denkens über eigene historische Schuld.

Von deutschem Boden ging ein beispiel- loser Vernichtungskrieg aus, geboren aus politischer Hybris und Rassismus gegen die Völker der Sowjetunion, besonders gegen die Juden und andere Minderheiten.

Er brachte unendliches Leid über die Men- schen und forderte allein in der Sowjet- union mehr als 27 Millionen Opfer, vor allem in Russland, der Ukraine und Bela- rus.

Es ist Teil der Verantwortung unserer Ge- neration, dass niemand diese Greueltaten je vergessen oder relativieren darf. Denn zur Geschichte Europas gehört auch, dass die Sowjetunion unter grossen Opfern den Fa- schismus besiegt und Deutschland von die- ser Ideologie befreit hat. Zur Geschichte des deutsch-russischen Verhältnisses ge- hört ebenso, dass die Sowjetunion und ihr Rechtsnachfolger Russland massgeblich die Wiedervereinigung Deutschlands und ein Ende des Kalten Krieges ermöglicht haben.

Wir wissen: Frieden in Europa gelingt nur gemeinsam mit Russland und nicht gegen Russland.

Deshalb rufen wir die Politiker Europas in Ost und West auf: Bewegt Euch! Ver- lasst endlich die Sphäre und die Logik des Kalten Krieges! Nicht die Panzertruppen oder Rüstungszahlen müssen wachsen, sondern die Bereitschaft, aufeinander zu- zugehen. Macht es, wie es die Menschen in Russland, Deutschland und Europa in der konkreten Arbeit in Städtepartner- schaften, im Jugendaustausch, in Wirt- schafts- und Wissenschaftskooperationen tun. Verlasst die mentalen Gefängnisse der Feindbilder, Ressentiments und Äng- ste! Lasst uns endlich Frieden stiften! Die Menschen in Europa warten schon lange darauf.

Dies ist die Lehre des 22. Juni. Und dafür stehen wir.

Erstunterzeichner:

Abendroth, Elisabeth; Bahr, Adelheid (Erziehungs- wissenschaftlerin); Hanne, Magret (Friedensfor- scherin); Brandt, Peter (Historiker); Braun, Rei- ner (International Peace Bureau); Bruch, Thomas (Gesellschafter GLOBUS GmbH); Claußen, An- gelika (Vorsitzende IPPNW); Dagdelen, Sevim (Mitglied des Deutschen Bundestages); Dahn, Daniela (Schriftstellerin); Dehm, Diether (Mit- glied des Deutschen Bundestages); Enkelmann, Dagmar (Vorsitzende der Rosa Luxemburg Stif- tung); Erdmann, Torsten (Deutsch-Russisches Forum e.V.); Ernst, Klaus (Mitglied des Deutschen Bundestages); Falk, Thomas (Deutsch-Russisches Forum e. V.); Frantz, Justus (Dirigent); Gornig,

Hans-Joachim (Deutsch-Russisches Forum e. V.);

Hänsel, Heike (Mitglied des Deutschen Bundesta- ges); Hahn, André (Mitglied des Deutschen Bun- destages); Hermes, Oliver (Vorsitzender Ost-Aus- schuss der Deutschen Wirtschaft); Hoffmann, Christine (Pax Christi); Hoffmann, Jelena (Vorsit- zende Stiftung West-Östliche Begegnungen); Hoff- mann, Martin (Deutsch-Russisches Forum e. V.);

Hunko, Andrej (Mitglied des Deutschen Bundes- tages); Joas, Hans (Sozialphilosoph); Kaiser, Ker- stin (Rosa Luxemburg Stiftung Moskau); Krone- Schmalz, Gabriele (Publizistin); Kumm, Uwe (Deutsch-Russisches Forum e. V.); Müller, Mi- chael (Staatssekretär a. D., Vorsitzender der Na- turfreunde); Nastic, Zaklin (Mitglied des Deut- schen Bundestages); Neu, Alexander (Mitglied des Deutschen Bundestages); Platzeck, Matthias (Vorsitzender,Deutsch-Russisches Forum e. V.);

Rahr, Alexander (Osteuropaexperte);

Raiser, Konrad (Generalsekretär a. D. des Rates der Ökumenischen Kirche); Rösch-Metzler, Wil- trud (Kooperation für den Frieden); Schröder, Ger- hard (Bundeskanzler a. D.); Silly (Band); Som- mer, Jörg (Vorsitzender Deutsche Umwelthilfe);

Teltschik, Horst (Aussenpolitischer Berater a. D.

von Bundeskanzler Helmut Kohl); Thierse, Wolf- gang (Parlamentspräsident a. D.); van Ooyen, Willi (Bundesausschuss Friedensratschlag); Vassiliadis, Michael (Vorsitzender Gewerkschaft, Bergbau, Chemie, Energie); Vogler, Kathrin (Mitglied des Deutschen Bundestages); Vollmer, Antje (Vizeprä- sidentin des Deutschen Bundestages a. D.);

von Knoop, Andrea (Ehrenpräsidentin Deutsch- Russische Auslandshandelskammer); von Weiz- säcker, Ernst-Ulrich; Wahl, Peter (Wissen- schaftlicher Beirat Attac); Werneke, Frank (Vor- sitzender ver.di); Wiese, Heino (Mitglied des Bundestages a. D.); Wohlfahrt, Harald (Geschäfts- führer Käthe Wohlfahrt KG).

«Kann der Frieden wieder …?»

Fortsetzung von Seite 1

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Nukleare Rüstung – Abbau tut not

von Gerd Brenner, Oberst i G Neue Akteure, neue Technologien und verän-

derte geopolitische Verhältnisse machen in Zu- kunft neue Verträge über nukleare Waffensy- steme und deren Träger notwendig. Darüber hinaus müssen im Lichte der Erkenntnisse über einen nuklearen Winter die Obergrenzen der Anzahl Waffen endlich drastisch gesenkt werden. Diese Erkenntnisse sind keineswegs neu, würden heute aber gebührende Beachtung verdienen. Generell ist wohl eine umfassende Neubeurteilung der Arsenale notwendig, denn einfach dort anzuknüpfen, wo man vor zehn Jahren stand, macht keinen Sinn.

Im Jahr 1987 unterzeichneten der damalige US-Präsident Ronald Reagan und der sowje- tische Staats- und Parteichef Michail Gor- batschow den Vertrag über nukleare Mit- telstreckenwaffen INF (Intermediate-Range Nuclear Forces). Dieser wird oft als dop- pelte Nullösung bezeichnet, denn er beinhal- tete die Zerstörung vorhandener und den Ver- zicht auf den Bau neuer Atomwaffen kürzerer und mittlerer Reichweite, das heisst solcher mit einer Reichweite zwischen 500 und 5500 km. In der Folge vernichteten die USA ihre Bestände an nuklearen Mittelstreckenraketen des Typs «Pershing II» und die Sowjetunion bzw. Russland ihre RSD-10, die im Westen unter der Bezeichnung SS-20 bekannt gewor- den war. Vom INF-Vertrag unberührt blieben allerdings luft- und seegestützte Waffen mitt- lerer Reichweite. Nach langjährigen Vorwür- fen seitens Russlands, die USA hätten gegen den INF-Vertrag verstossen, kündigte die Ad- ministration Trump am 1. Februar 2019 den Vertrag. Daraufhin zog sich auch Russland vom INF-Vertrag zurück, der seit dem 2. Au- gust 2019 offiziell nicht mehr in Kraft ist.1

Im Jahr 2010 unterschrieben der damalige russische Präsident Dmitri Medwedew und US-Präsident Barack Obama auf dem Gip- feltreffen in Prag den Vertrag über die Re- duktion strategischer Atomwaffen (Strategic Arms Reduction Treaty), auch New-START- Vertrag genannt.2 Russland und die USA ei- nigten sich auf eine Reduktion der Anzahl der Sprengköpfe von 2200 auf je 1550 und die Anzahl der Trägersysteme von 1600 auf 800.

In Kraft getreten im Februar 2011, sollte er bis Februar 2021 gültig bleiben. Die Admi-

nistration Trump unternahm nichts, um die Vertragsdauer zu verlängern, wahrscheinlich, weil Donald Trump einmal mehr glaubte, einen besseren Deal herausholen zu können.

Kurz nach seiner Amtsübernahme verlängerte der neue US-Präsident Joe Biden die Gültig- keitsdauer des Vertrags. So weit, so gut, aber alte, bisher ungenügend umgesetzt gebliebene wissenschaftliche Erkenntnisse, neue geopoli- tische Gegebenheiten, neue Akteure und neue Technologien zwingen dazu, Anstrengungen im Bereich der nuklearen Rüstungskontrolle fortzusetzen und auszuweiten.

Wissenschaftliche Erkenntnisse, bis jetzt unbeachtet Grundsätzlich gilt, dass die Sprengkraft einer beliebigen Sprengladung, sei diese konven- tionell oder nuklear, sich im dreidimensiona- len Raum verteilt und dass damit der Radius, in welchem eine Detonation eine bestimmte Form von Zerstörung anrichtet, nicht propor- tional zur Sprengkraft wächst, sondern nur in der Kubikwurzel. Eine achtfach stärkere

Sprengladung vergrössert den Zerstörungs- Radius theoretisch nur um das doppelte. Das Ausmass der Zerstörung, welche Sprengla- dungen anrichten – und das umfasst auch nu- kleare – lässt sich theoretisch somit recht gut beschränken. Dazu kommt, dass die Topogra- phie die Wirkung von Druck, umherfliegen- den Trümmern, Hitzestrahlung und radioak- tiver Strahlung abschwächt. Das gilt aber nur für die unmittelbaren Auswirkungen einer Kernexplosion. Der von einer Explosion auf- gewirbelte Staub, kombiniert mit Radioakti- vität, führt dazu, dass die mittelbaren Folgen einer Atomexplosion in Raum und Zeit kaum zu begrenzen sind. Das ist wohl der Grund, weshalb die Atommächte seit 1945 vor dem Einsatz von Kernwaffen zurückschreckten.

Nach den ersten Einsätzen von Atomwaf- fen im Jahr 1945 bemühten sich die ame- rikanischen Militärs, deren radiologische Auswirkungen zu verheimlichen und zu ver- harmlosen, aber spätestens in der Phase prak- tisch ungehemmter atomarer Experimentier- freudigkeit während des Kalten Kriegs traten

diese offen zutage.3 Nach diversen Reaktorun- fällen in Nordamerika, Europa und Asien sind die globalen Folgen der Freisetzung von Ra- dioaktivität heutzutage wohl jedermann klar.

Ungewollte und langfristige Folgen der Füh- rung von Kampfhandlungen mit Kernwaffen sind somit unvermeidlich. Eine solche unge- wollte politische Folge wäre ein nuklearer Winter.

Nuklearer «Todesfrost»

Ab der Mitte der siebziger Jahre kamen Wis- senschaftler zur Erkenntnis, dass der Einsatz von Kernwaffen Auswirkungen hätte, die weit über den Einsatzort der Waffe hinausge- hen. Die Verbesserung der Rechenkapazität von Computern, kombiniert mit Fortschrit- ten in der Klimaforschung, erlaubten die Aus- sage, dass der massenhafte Einsatz nuklearer Sprengkörper unwiderrufliche Schäden an der natürlichen Umwelt weltweit und damit an der Lebensgrundlage der Menschheit ver- ursachen würde.

So skizzierte der US-amerikanische Wis- senschaftler John Hampson im Jahr 1974 die Veränderungen im photochemischen Regime der Atmosphäre, die durch nukleare Explo- sionen hervorgerufen werden können. Das klingt harmlos, aber es läuft auf eine Ver- dunkelung der Atmosphäre hinaus, die mas- siv weniger Sonnenlicht zur Erdoberfläche durchkommen lässt. Vergeblich schlug er vor, dass diese Effekte in zukünftigen Ge- sprächen über Rüstungsbegrenzung berück- sichtigt werden müssten.4

Eine Gruppe weiterer amerikanischer Wis- senschaftler kam im Jahr 1983 zu ähnlichen Schlüssen:

«[…] die Schwelle für grössere optische und klimatische Folgen kann sehr niedrig sein: nur etwa 100 Megatonnen, die über grossen städtischen Zentren detonieren, kön- nen […] selbst im Sommer monatelang Tem- peraturen unter dem Gefrierpunkt erzeu- gen».5

Die katastrophalen Auswirkungen eines Kriegs mit Kernwaffen wurden auch in der Sowjetunion erkannt. Auf der Basis compu- tergestützter Berechnungen prognostizierten

«Diktatursozialisierte» Mitbürger – das neue Unwort des Jahres?

Eine Stellungnahme zum Stil öffentlicher Debatten in «fortgeschrittenen» Demokratien

von Peter Küpfer Karl-Jürgen Müller hat in seinem Artikel

«Feindbilder nach aussen … und auch im In- nern des Landes. Deutschland vor den Bun- destagswahlen» (Zeit-Fragen Nr. 14 vom 15. Juni 2021) einmal mehr Veränderungen in der Sache und im Auseinandersetzungsstil, mit Schwerpunkt Deutschland analysiert. Die in seinen Artikeln an vielen Beispielen aufge- wiesene zunehmende Aggressivität und Un- sachlichkeit öffentlicher Debatten ist aber nicht nur dort am Werk. Sein oben genann- ter Beitrag ist ein weiteres Beispiel dafür, wie die moderne Demokratie heute gerade auch von innen bedroht wird. Dabei sind es nicht nur die vertretenen Inhalte, die in einer funk- tionierenden Demokratie, wenn sie Anspruch auf Billigung haben, verfassungsgemäss sein müssen, es ist auch die Sprache, mit der sie vertreten werden.

Im genannten Artikel geht es um das von vielen an die Wand gemalte Gespenst der AfD, der in linker, auch neoliberaler Optik heute schnell einmal das Etikett «rechtsradi- kal» angehängt wird, wie das auch im Vor- feld der Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt der Fall war. Sie fanden besonderes Echo, weil sie von vielen als «Barometer» für die Parlamentswahlen im September genommen wurden.

Das zentrale Zitat, es war Anlass für diese Zeilen, wird dort wie folgt eingeleitet: «Das Gespenst der rechtsextremen Gefahr hat eine lange Geschichte in Deutschland, es hat nach 1990 von offizieller Seite das Gespenst der linksextremen Gefahr […] als Hauptgefahr abgelöst. Vor allem im Westen des Landes glauben viele, dieses Gespenst vor allem im Osten des Landes leibhaftig erkennen zu kön- nen. Jüngstes Beispiel dafür sind die Äusse-

rungen des CDU-Politikers und Ostbeauf- tragten der deutschen Bundesregierung für die neuen Bundesländer, Marco Wander- witz, im FAZ-Podcast für Deutschland vom 28. Mai, wonach in Ostdeutschland eine stär- kere Neigung zur Wahl rechtsradikaler Par- teien als im Westen bestehen soll.» Und dann folgt als Zitat die folgende, völlig inakzep- table Äusserung des Beauftragten der Bun- desregierung für ihre Beziehungen mit dem östlichen Landesteil. Wanderwitz sagt: «Wir haben es mit Menschen zu tun, die teilweise in einer Form diktatursozialisiert sind, dass sie auch nach dreissig Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind.» Ein Teil der ostdeutschen Bevölkerung habe, so fährt der hohe Beamte über das Internet-Fenster der

«Frankfurter Allgemeinen Zeitung» fort, «ge- festigte nichtdemokratische Ansichten» [Her- vorhebungen PK]. Damit will er offenbar

«begründen», warum im Bundesland Sach- sen-Anhalt (ehemals Staatsgebiet der DDR) die Bürger zu einem grösseren Teil AfD ge- wählt haben als CDU.

Das ist ein starkes Stück, einmal in der Sache und dann auch im Stil: deutlich jen- seits der roten Linie dessen, was auch in hit- zigen Debatten noch geht. Ein in Staatsdien- sten stehender hoher Funktionär sollte bei seinen öffentlichen Äusserungen über ein Wahlergebnis nicht so offenkundig Schwie- rigkeiten bekunden, seine persönliche Mei- nung von dem zu unterscheiden, was ihm sein Amt auferlegt: Mässigung in der Form und Verzicht auf wertende, parteiliche Stel- lungnahmen.

Die Äusserung ist neben ihrer verbalen Ar- roganz auch in der Sache energisch zurück- zuweisen. Einem Teil der Einwohnerschaft

eines Bundeslandes, das früher zur DDR gehörte, zu unterstellen, sie seien zu gros- sen Teilen «diktatursozialisiert» und ihr des- halb «gefestigte nichtdemokratische Ansich- ten» zu attestieren, geht nun gar nicht. Will der Beauftragte für die Beziehungen der Bun- desregierung zu den Ländern des ehemali- gen Ostdeutschland diese Beziehungen nur dann anständig und sachlich führen, wenn die Menschen dort mehrheitlich seine eigene Partei wählen?

Seiner «Logik» entsprechend hätten ja alle die recht gehabt, die damals glaubten, das ganze deutsche Volk müsse (mit entspre- chenden Massnahmen!) «entnazifiziert» wer- den, denn sie waren in dieser unzulässig ver- allgemeinernden Argumentation ja alle, in dieser Logik, mehr oder minder «diktaturso- zialisiert». Schon damals hatten die Alliier- ten die höchst anzweifelbare Überzeugung, sie seien dazu besonders legitimiert. Es ist diese heute im Westen wieder häufiger spür- bare Arroganz, welche das Klima vergiftet, national und international. Die Gründergene- ration der Bundesrepublik war sich von links bis rechts einig darüber, dass von Deutsch- land kein Angriffskrieg mehr ausgehen dürfe, auch keine Beihilfe zu solchen Kriegen. Auch wenn höchstrichterliche Instanzen die Dinge in eine andere, höchst fragwürdige Richtung gedreht haben, eines ist jedem der Sache ver- pflichteten Zeitgenossen der Nachkriegsge- neration klar: Das deutsche Grundgesetz ist in seiner prinzipiellen Ausrichtung auf die Ächtung jeder Form des Angriffskrieges lu- penrein. Es bekräftigt diese Ächtung mit sei- ner wörtlichen Verpflichtung auf geltendes internationales Recht (z. B. die Uno-Charta).

Die dieser prinzipiellen Grundausrichtung

offen widersprechende aktive Mitbeteiligung und Mitverantwortung der Bundesrepublik Deutschland am völkerrechtlich illegalen An- griffskrieg der Nato auf die Bundesrepublik Jugoslawien ging nicht von der deutschen Bevölkerung aus (sie wurde nicht gefragt), schon gar nicht von derjenigen der ehema- ligen DDR, sondern ganz markant vom Alt- 68er und zum Grünen gewordenen Joschka Fischer, damals Aussenminister der Regie- rung Schröder.

Die aktuell geforderte starke Anbindung der Bundeswehr an die «neue» Nato, die ihren ur- sprünglichen reinen Verteidigungszweck ver- raten hat, ist nicht nur Wunsch der kriegstrei- benden Kreise in den USA, sondern offenbar auch derjenige der Kanzlerkandidatin der deutschen Grünen. Solche beunruhigenden Fakten kann kein noch so unbedachtes Wort aus der Welt schaffen. Im Fall von Frau Baer- bock ist ihr offen vertretener Positionsbezug der Anlehnung der Bundeswehr an eine welt- weit aggressiv agierende Nato sicher nicht aus einer «diktatursozialisierten» Werthaltung her- aus entstanden (die in Westdeutschland aufge- wachsene und «sozialisierte» Kanzlerkandida- tin ist Jahrgang 1980), er stammt vermutlich aus einer ganz anderen Denkfabrik.

Wenn wir schon von «Demokratiedefizi- ten» sprechen, dann liegen sie vor allem hier.

Nicht bei Stimmbürgern, die sich anders ver- halten, als es eine bestimmte politische Welt- deutung erwartet. Der erste Grundsatz jeder Demokratie ist der Respekt vor dem Willen des Souveräns. Das ist in wirklichen Demo- kratien das Volk, es sind nicht selbsternannte Experten, die seinen Willen selbstgerecht kommentieren oder mit unwissenschaftlichen Schlagwörtern als inkompetent umdeuten.

Fortsetzung auf Seite 4 Am 8. Dezember 1987 unterzeichneten der Generalsekretär des ZK der KPdSU Michail Gorbatschow

und US-Präsident Ronald Reagan im Weissen Haus in Washington den INF-Vertrag. Dieser Vertrag sah die vollkommene Abrüstung aller landgestützten sowjetischen und US-amerikanischen atomaren Mittelstreckenwaffen vor. Mit der Vertragsunterzeichnung verband sich überall in der Welt die Hoff-

nung auf die Abrüstung aller Atom- und auch nichtatomarer Waffen. (Bild Wikipedia)

(4)

zwei sowjetische Wissenschaftler, dass ein Krieg mit Kernwaffen «einen starken Tem- peraturabfall über der Oberfläche der Kon- tinente der nördlichen Hemisphäre, die Er- wärmung grosser Gebirge, entscheidende Veränderungen des Wasserkreislaufs und des Mechanismus der globalen Zirkulation der Atmosphäre» verursachen würde.6

Und heute wissen wir, dass die Gefahr nicht nur vom US-amerikanischen und vom russischen Arsenal an Kernwaffen ausgeht:

«Die Vereinigten Staaten und Russland sind nicht die einzigen Länder, die in der Lage sind, das weltweite Klima zu zerstö- ren. Alle Nuklearstaaten – ausser Nordkorea mit seinem relativ kleinen Arsenal – haben im Falle eines Atomkrieges die nötige Zer- störungskraft, um die globale Umwelt zu ver- ändern.»7

Es macht im Hinblick auf die Praxis kei- nen Sinn, die Erkenntnisse der Wissenschaft- ler weiter zu diskutieren, denn eines ist klar:

Ein grossmassstäblicher nuklearer Schlag- abtausch im Umfang von 100 MT, mögli- cherweise erheblich weniger, unterzieht die Erdatmosphäre einem physikalischen Experi- ment, dessen Auswirkungen auf die Erdober- fläche, die Ozeane und letztlich das Leben auf der Erde insgesamt kaum vorhersagbar sind. Diese Auswirkungen aber könnten die Auslöschung der Menschheit und des Gros des Lebens auf der Erde überhaupt umfas- sen. Die Strategie der garantierten gegensei- tigen Zerstörung (Mutual Assured Destruc- tion MAD) aus den frühen Stadien des Kalten Kriegs würde sich in eine garantierte globale Zerstörung verwandeln, die innerhalb von Tagen bis Wochen auch den Anwender von Kernwaffen trifft.8

Aber es genügen wohl schon erheblich we- niger dramatische ökologische Folgen, um das politische und wirtschaftliche Gleichge- wicht ganzer Weltregionen aus den Fugen zu werfen. Man stelle sich einmal vor, was ge- schieht, wenn dicht besiedelte Regionen der Nordhemisphäre plötzlich unbewohnbar wer- den, die gesamten dort befindlichen Produkti- onsmittel für die Güter des täglichen Bedarfs sowie die ganze Infrastruktur verlorengehen und Abermillionen Menschen nach Süden fliehen, wo auch so schon Armut herrscht.

Die Zahl von 100 MT ist wohl immer noch zu grosszügig bemessen. Angesichts der Un- sicherheit, wie viele Kernexplosionen einen

«nuklearen Winter» herbeiführen würden, können wir auch heute noch nicht mit Be- stimmtheit sagen, ob wir immer noch in einem Zeitalter der garantierten gegenseiti- gen Zerstörung leben, das wir eigentlich hin- ter uns glaubten. Damit würden wir wieder einer Doktrin folgen, die Selbstverteidigung durch Selbstmord ersetzt.

Neue Technologien, neue Möglichkeiten Grundsätzlich müssen Einsatzreichweite, Prä- zision und Sprengkraft einer bestimmten Mu- nitionssorte, konventioneller wie nuklearer, zusammenpassen. Bei ballistisch fliegenden Munitionssorten wie Freifallbomben, Artil- leriegranaten oder Raketen besteht ein enger Zusammenhang zwischen Schussweite und Präzision. Je grösser die Schussweite, desto grösser ist die zu erwartende Abweichung des Einschlags vom Ziel. Geringe Präzision ma- chen Waffen-Konstrukteure aber mit grösse- rer Wirkung wett. Je grösser die zu erwartende Abweichung vom Ziel, desto stärker muss der Sprengkopf sein. So ist es zu erklären, dass im Kalten Krieg Kernwaffen von der Stärke der Hiroshima-Bombe eingeplant wurden, um Einzelobjekte zu vernichten. Dazu kommt die Anwendung von Statistik bei der Erhöhung der Treffer- oder Vernichtungswahrschein- lichkeit: Wenn eine Bombe das Ziel nicht mit der gewünschten Wahrscheinlichkeit vernich- tet, dann wirft man eben eine zweite oder eine dritte. So kamen im Kalten Krieg die unge- heuren Zahlen an nuklearen Sprengköpfen zu- sammen, welche die Supermächte in ihren Ar- senalen anhäuften.

Die heutige Technologie gelenkter Flug- körper mit grosser Präzision erlaubt den Einsatz kleinerer Sprengköpfe bis zu einem Mass, dass hochwirksame konventionelle Sprengköpfe die Aufgaben unpräziser Kern- waffen übernehmen können. Darüber hinaus senkt verbesserte Präzision den zahlenmäs- sigen Bedarf an Waffen. Auf diese Weise ist

sche Abschreckung denkbar, die auf der Fä- higkeit beruht, Ziele nationaler oder militär- strategischer Bedeutung des Gegners durch präzise nichtnukleare Waffen zu zerstören.

Flugkörper mit Trägheits- oder Satelliten- navigationssystemen, ausgerüstet mit einem thermobaren oder Aerosol-Sprengkopf, kön- nen ein Ziel zerstören, für welches vorher eine oder gar mehrere nukleare Gefechts- köpfe notwendig gewesen wären.

Diese Form der Abschreckung wird in rus- sischen Generalstabskreisen seit Jahren dis- kutiert.9 Vorerst tut sich der Westen schwer damit und argumentiert gerne, dass einem anfliegenden Flugkörper nicht anzusehen sei, ob er einen konventionellen oder einen nuklearen Sprengkopf trage, und dass die neuen russischen Waffen theoretisch mit sol- chen ausgerüstet werden könnten. In der Tat könnte ein vergleichsweise kleiner und leich- ter nuklearer Sprengkopf anstelle eines gros- sen und schweren konventionellen die Reich- weite des ihn tragenden Flugkörpers erhöhen.

Eine operativ-taktische Rakete mit einer Reichweite von unter 500 km und einem kon- ventionellen Sprengkopf von mehreren hun- dert Kilogramm Gewicht würde mit einem 100 kg schweren nuklearen Sprengkopf wahrscheinlich weiter als die vertraglich ver- einbarten 500 km fliegen. Aber das ist und bleibt vorerst Theorie. Es ginge hier zu weit, die Kontroversen zwischen Russ land und den USA bzw. der Nato abzuhandeln. Vielleicht ist es aber an der Zeit, sich über Rüstungs- kontroll-Massnahmen im konventionellen Bereich Gedanken zu machen.

Hyperschallwaffen und ähnliche Schlag- wörter sind derzeit in aller Munde. In der Tat arbeiten die Techniker in Russland und in den USA an einer neuen Generation von Inter- kontinentalraketen. Naturgemäss sind die ge- nauen technisch-taktischen Kennzahlen die- ser Neuentwicklungen der Geheimhaltung unterworfen, was es schwierig macht, die konkreten Auswirkungen abzuschätzen. Auf der einen Seite dürfte die neue Generation russischer ballistischer Raketen dank präzi- ser bordeigener Navigationssysteme in der Lage sein, in der Freiflugphase Ausweich- manöver durchzuführen, damit Abfang-Rake- ten an ihrem Ziel vorbeifliegen. Damit wird die Abwehr anfliegender Gefechtsköpfe erst in der Endphase des Fluges möglich, wofür nur wenig Zeit in der Grössenordnung von zwei bis drei Minuten zur Verfügung steht.

Der Abschuss anfliegender Gefechtsköpfe ist aber nur kleinräumig möglich, durch Ra- ketenabwehrsysteme, die selbst in der Nähe des Ziels stehen. Der flächendeckende Schutz ganzer Länder würde einen unmöglich zu er- bringenden Aufwand erfordern.

Die zweite, derzeit in Diskussion befind- liche Technologie ist jene der suborbitalen Stratosphären-Gleitflugkörper, welche in den dreissiger Jahren vom österreichischen Ingenieur Eugen Sänger erdacht wurde.

Über den russischen «Awangard» Flugkör- per ist noch wenig bekannt. Klar ist, dass er nach Erreichen einer geeigneten Flughöhe quasi auf der Erdatmosphäre «gleitet» bzw.

sich mehrmals von der Erdatmosphäre ab- prallen lässt, um dann im richtigen Moment in diese einzutreten und auf sein Ziel zu fal- len. Mit dieser Technologie lassen sich hohe Reichweiten erzielen, so dass auch denkbar wäre, dass solche Flugkörper die USA nicht auf dem kürzesten Weg über den Nordpol anfliegen, sondern über den Südpol, und damit die Kette US-amerikanischer Radar- Stationen im hohen Norden quasi umfliegen.

Dadurch vergrössert sich zwar die Flugdi- stanz auf bis zu 30 000 km und die Flugzeit auf bis zu eine Stunde. Da suborbitale Stra- tosphären-Gleitflugkörper aber auf ihrer, im Vergleich zu ballistischen Raketen niedrigen Flughöhe durch bodengestützte Radarstatio- nen erst spät erkennbar sind, könnte sich die Zeit zwischen Entdeckung und Aufschlag auf wenige Minuten verringern; möglicher- weise auf nur gerade fünf bis sechs Minu- ten. Das ist das Niveau von Mittelstrecken- raketen.10

Durch diese Neuentwicklungen wird die Abwehr einer grossen Zahl anfliegen- der Atomraketen für beide Seiten ein uner- reichbares Ziel, und die Logik der strategi- schen Abschreckung bleibt uns erhalten. Der Streit zwischen Russland und den USA um die Raketenabwehr könnte allerdings an Be- deutung verlieren. Bemühungen um nukle-

tig wie eh und je.

Neue geopolitische Gegebenheiten Der INF-Vertrag bezieht sich ausschliesslich auf landgestützte Systeme mit einer Reich- weite von 500 km bis 5500 km. Im Kalten Krieg stationierte die Sowjetunion ihre RSD- 10/SS-20 Raketen grundsätzlich auf eigenem Gebiet, so dass diese aus Belarus oder der Ukraine bis knapp an die Ostküste der USA gelangen konnten. In Sibirien und in Fernost stationierte Systeme reichten gerade an die Westküste der USA. Für Ziele in ganz Eu- ropa und im Nahen Osten genügte die Reich- weite der RSD-10 aber allemal. Das war wohl der Grund für die Besorgnis seitens der Eu- ropäer, die beiden Supermächte könnten nach der nuklearen Verwüstung Europas einen Atomkrieg abbrechen, um sich nicht gegen- seitig auch noch zu verheeren. Wenn man um die Möglichkeit eines nuklearen Winters weiss, wird klar, dass solche Überlegungen eher theoretischer Natur sind.11

Heute liegen mögliche Stationierungsorte für Atomraketen in Russland mehrere hun- dert Kilometer weiter östlich als zu Zeiten des Kalten Krieges. Wie damals die sowje- tische, so fordert heute die russische Dok- trin, dass nach Abwehr einer Aggression die Kampfhandlungen so lange fortzuführen seien, bis dem Gegner Fähigkeit oder Mo- tivation zur Fortsetzung des Kriegs abhan- dengekommen sind. Sollte es Russland zur Umsetzung dieser Doktrin wirklich darum gehen, Waffen zu entwickeln, welche vom eigenen Territorium aus die wirtschaftlichen und politischen Zentren Westeuropas, die bekannten Stationierungsorte von Kernwaf- fen und die wichtigsten Häfen an Atlantik-, Kanal- und Nordseeküste zerstören können, dann würden Reichweiten um die 2000 km genügen.12 Umgekehrt liegen die wichtigsten Zentren Russlands wie Moskau und St. Pe- tersburg sowie die Wirtschaftszentren ent- lang der Wolga in einer Distanz von maximal 1500 km vom Territorium der europäischen Nato-Staaten. Allenfalls müsste in neuen Rüstungskontrollverhandlungen mit neuen Distanzen gerechnet werden.

Mit seinen weit in den Kontinent einsprin- genden Nebenmeeren des Atlantischen Ozeans ist Europa ein Kontinent, für welchen seege- stützte Waffen von grosser Bedeutung sind. Da aber nicht alle diese Gewässer von ihrer Hy- drographie her für den Einsatz von U-Booten mit ballistischen Raketen geeignet sind, wären in zukünftigen Rüstungskontrollverhandlungen auch Überwassereinheiten zu berücksichtigen, die Mittelstreckenraketen tragen können. Dazu gehören die US-amerikanischen Kreuzer der Ticonderoga-, die Fregatten der Arleigh-Burke- Klasse, die britischen Fregatten der City-Klasse sowie die russischen Mehrzweckkampfschiffe der Admiral Grigorowitsch- und der Admiral- Gorschkow-Klasse.

Folgerungen für die nukleare Rüstungskontrolle Mit der Verlängerung der Gültigkeitsdauer des New-START-Vertrags hat die Admini- stration Biden erst einmal klargemacht, dass sie an einer Fortsetzung der unter Donald Trump unterbrochenen Bemühungen um Rü- stungskontrolle interessiert ist. Aber damit ist es nicht getan. Es müssen auch Verhandlun- gen mit weiteren Akteuren geführt werden.

Neue Technologien machen neue Verträge über Träger- und Waffensysteme notwen- dig. Und schliesslich müssen im Lichte der Erkenntnisse über einen nuklearen Winter die Obergrenzen der Anzahl Waffen dra- stisch gesenkt werden. Grundsätzlich darf weder den offiziellen, noch den inoffiziellen Atommächten das Recht eingeräumt werden, mit ihrem Arsenal die am dichtest bewohn- ten Räume der Erdnordhalbkugel unbewohn- bar zu machen. Eine drastische Reduktion der Kernwaffen-Arsenale aller Atommächte muss eine zentrale Forderung nuklearer Rü- stungskontrolle der Zukunft werden.

1. siehe Informationen und Vertragstext engl. unter https://2009-2017.state.gov/t/avc/trty/102360.

htm#text und http://www.peterhall.de/treaties/inf/

inf1.html. Zu den gegenseitigen Vorwürfen siehe https://slub.qucosa.de/api/qucosa%3A71608/at- tachment/ATT-0/

2. siehe https://2009-2017.state.gov/t/avc/newstart/

index.htm. Der New-START-Vertrag folgte auf den START I, der von 1994 bis 2009 gültig war und den START II Vertrag, der nie in Kraft trat.

krieg/article144994003/Niemand-kennt-die-wirk- liche-Zahl-der-Opfer.html; der erste Journalist, der trotz Widerstands der US-Militärs über die Folgen der Kernwaffenexplosion in Hiroshima berichtete, war der Amerikaner John Hersey; siehe https://www.

perlentaucher.de/buch/john-hersey/hiroshima.html;

vgl. auch den Bericht des Mitarbeiters des IKRK Be- noît Junod unter https://www.swissinfo.ch/ger/der- schweizer-samariter-von-hiroshima/4654838

4. siehe Hampson J. Photochemical war on the at- mosphere, in: Nature. 250, Nr. 5463, 1974, S. 189–91, online unter https://www.nature.com/

articles/250189a0

5. R. P. Turco, O. B. Toon, T. P. Ackerman, J. B. Pol- lack, C. Sagan. Nuclear Winter: Global Conse- quences of Multiple Nuclear Explosions. In: Sci- ence. 222, Nr. 4630, 23. Dezember 1983, S. 1283–92, online unter https://pubmed.ncbi.nlm.

nih.gov/17773320/. Dies bestätigte sich in Untersu- chungen im Jahr 1990: «Should substantial urban areas or fuel stocks be exposed to nuclear ignition, severe environmental anomalies – possibly lea- ding to more human casualties globally than the di- rect effects of nuclear war would be not just a re- mote possibility, but a likely outcome.» Siehe R. P.

Turco, O. B. Toon, T. P. Ackerman, J. B. Pollack, C. Sagan. Climate and Smoke: An Appraisal of Nu- clear Winter, 1990, online unter https://atmos.was- hington.edu/~ackerman/Articles/Turco_Nuclear_

Winter_90.pdf

6. Alexandrov, V. V., G. I. Stenchikov. On the mode- ling of the climatic consequences of the nuclear war, the Proceeding of Appl. Mathematics, The Computing Center of the Academy of science of the USSR, Moscow, 1983, online unter http://climate.

envsci.rutgers.edu/pdf/AleksandrovStenchikov.pdf

7. Alan Robock, Owen Brian. Self-assured destruc- tion: The climate impacts of nuclear war. In: Bul- letin of the Atomic Scientists, November 4, 2016, online unter https://journals.sagepub.com/doi/

full/10.1177/0096340212459127

8. Um nur eine von zahllosen Darstellungen zu die- sem Thema zu erwähnen: https://www.britannica.

com/topic/mutual-assured-destruction.

9. Der Autor ist selbst Absolvent der Generalstabs- akademie der russischen Armee.

10. Technische Analyse bei Jill Hruby: Russia’s New Nuclear Weapon Delivery Systems – An Open- Source Technical Review. In: nti.org. NTI – The Nuclear Threat Initiative, 1. November 2019, on- line unter https://media.nti.org/documents/NTI- Hruby_FINAL.PDF, und Hypersonic Weapons:

Background and Issues for Congress. In: fas.

org. Congressional Research Service, 10. Septem- ber 201, online unter https://fas.org/sgp/crs/wea- pons/R45811.pdf zu den politisch-militärischen Auswirkungen. Siehe auch Pawel Podwig, Rus- sia shows Avangard system «to maintain viability»

of New START, online unter http://russianforces.

org/blog/2019/11/russia_shows_avangard_

system_t.shtml. Zu Eugen Sänger und seinem «An- tipodenbomber» siehe https://www.deutsche-bio- graphie.de/sfz109535.html

11. vgl. ATOMWAFFEN: Nuklearer Winter. In: Der Spiegel. Nr. 33, 1984, online unter https://www.

spiegel.de/spiegel/print/d-13508607.html; ange- sichts der damals in Europa vorhandenen Bestände an Kernwaffen folgerte der Spiegel: «Schon ein eu- rostrategischer Schlagabtausch würde mithin im Todesfrost enden.»

12. Zeitweise gingen in der Tat Spekulationen umher, russische «Iskander» könnten Reichweiten von über 2000 km aufweisen: https://www.dw.com/de/ein- nicht-so-geheimes-geheimnis-die-russische-rakete- 9m729/a-46603054 und https://www.bazonline.

ch/ausland/europa/russland-hat-mehr-marsch- flugkoerper-als-bisher-bekannt/story/25086690 Und die «Kalibr» ebenso; siehe https://www.arms- controlwonk.com/archive/207816/russian-cruise- missiles-revisited/

Zeit-Fragen

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