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Das Sokratische Gespräch - eine philosophische Standortbestimmung

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Academic year: 2022

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Dieter Birnbacher

Das Sokratische Gespräch - eine philosophische Standortbestimmung

1. Von der Sokratischen Methode zum Sokratischen Gespräch

1.1 Die sokratische Methode

Die Sokratische oder mäeutische Methode ist ein altbekannter und vielfach bewährter Teil der didaktischen Methodologie. In der Didaktik der Mathematik und der Philosophie hat sie eine lange Tradition, markiert durch die Namen Karl Weierstraß (1903) und Leonard Nelson (1922) (vgl. Loska 1995). Die Grundkonzeption der sokratischen Methode besteht darin, den Lernenden dazu zu bringen, an einem philosophischen oder mathematischen Problem weitgehend selbständig zu arbeiten, mittels eigener Ressourcen an Verständnis und Einsicht, mit Unterstützung des Lehrers, aber ohne dass der Lehrer das zu Lernende vermittelt, und in der Regel ohne textliche Grundlage.

Von einer „sokratischen Methode“ zu sprechen, bedeutet nicht, dass der Sokrates, wie wir ihn in den platonischen Dialogen finden, bedingungslos und ohne alle Einschränkungen als Vorbild des sokratischen Lehrers gelten kann. Aber dennoch finden wir die sokratische Methode in denjenigen Zügen des platonischen Sokrates, die gemeinhin dem historischen Sokrates zugeschrieben werden am deutlichsten ausgeprägt - dem Sokrates, dessen primäres Interesse nicht auf philosophische Lehrgebäude, Theoreme oder Begriffsanalysen um ihrer selbst willen zielt, sondern auf eine mit begrifflich-analytischen Mitteln vollzogene Selbstklärung und Selbstprüfung bei sich und anderen im Namen der „Tugend“.

Nimmt man Sokrates‘ „philosophisches Credo“ aus der Apologie (37d) beim Wort.

nach dem für ihn „ein Leben ohne Selbsterforschung nicht lebenswert sei“, so ist für

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ihn das Ziel der Philosophie letztlich kein eigentlich theoretisches, sondern ein ethisches und therapeutisches: Philosophische Rationalität steht im Dienste einer Selbsterkenntnis, ohne die ein wahrhaft menschliches Leben nicht denkbar ist. Nicht Wahrheit an sich ist das Ziel, sondern ein durch Wahrheit und Wahrhaftigkeit gekennzeichnetes gutes Leben. In der Tat sieht sich Sokrates primär nicht als Lehrmeister, der eine Botschaft oder Lehre zu verkünden hat, sondern als Erzieher, und das nicht nur als ironische Pose, sondern als authentisches Element seines Selbstverständnisses.

Es passt zu dem therapeutisch-praktischen Zug von Sokrates‘ Philosophieren, dass sich in dem, was man Sokrates‘ theoretische Leistung nennen könnte, überhaupt nur wenig ausgesprochen positive und konstruktive Momente finden Es überwiegt das negative und destruktive - wie Nietzsche es später genannt hat –„nihilistische“

Prinzip: die Kritik am falschen Schein, die Bloßstellung von Unverstand, Scheinwissen und intellektueller Überheblichkeit. Philosophische Erkenntnis ist danach weniger Wissenszuwachs als die Aufdeckung von Nicht-Wissen, die aufklärerisch-sophistische Entlarvung vermeintlicher Gewissheiten als interessengeleiteter Vorurteile. Nicht von ungefähr terminieren die meisten spezifisch sokratischen Dialoge Platons in einer - wenn nicht unauflöslichen, so doch unaufgelösten - Aporie.

Welche Rolle kommt bei diesem Entlarvungsgeschäft dem Dialog zu? Offenbar sind die sachlichen Ergebnisse des sokratischen Philosophierens nicht von der Dialogform abhängig. Im Prinzip ließen sich die - zumeist negativen - begrifflichen Einsichten Sokrates‘ auch monologisch. durch die Denkanstrengung eines einsamen Sprachanalytikers gewinnen. Dialogisch wird das sokratische Philosophieren allerdings durch seine Zielbestimmung: Dieses Philosophieren ist von Anfang an erzieherisch, therapeutisch, auf Prozesse des Bewusstseinswandels hin angelegt.

Es zielt auf die Selbstläuterung des „Vordenkers“ Sokrates und gleichzeitig auf die der „Mitdenkenden“, die der sokratische Dialog in einen Prozess der Bewusstseinsbildung verstrickt. Kommunikation und Hinwendung zum anderen sind nicht nur Form- und Darstellungsmomente, sondern wesentliche Zwecke dieser Philosophie. Statt das Denken der Dialogpartner zu instrumentalisieren - sei es als

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Resonanzkörper und Korrekturinstanz für das eigene Denken, sei es als Objekt interessierter Persuasion -‚ geht es diesem Philosophieren zentral um das Denken des anderen und um diesen anderen selbst. Das Denken des anderen soll durch sokratisches Befragen geläutert werden, um letztlich die Person des anderen zu läutern.

Zweifellos ist das Denken des Sokrates nicht immer und überall so radikal

„sokratisch“, wie es dieses Bild nahelegt. Unübersehbar finden sich bei Sokrates Spuren eines - teils eingestandenen, teils impliziten – „unsokratischen“ Dogma- tismus, und gerade von diesen „unsokratischen“ Momenten ging historisch eine weitreichende Wirkung aus. Ich meine einerseits die für Sokrates charakteristische Figur eines inneren wahrsprechenden Orakels, des daimonion, andererseits Sokrates‘ Neigung zum Essentialismus, der Annahme eines dem Begriff entsprechenden einheitlichen Wesens.

1. Auch wenn die innere Stimme von Sokrates‘ daimonion in den platonischen Dialogen stets nur negativ-warnend in Erscheinung tritt (es rät ihm z. B. davon ab, sich den Staatsgeschäften zu widmen (Apologie (3 1 d)), muss man in ihm doch einen dogmatischen, nicht-diskursiven Restbestand sehen, der zum dialogischen Prinzip von Sokrates‘ Philosophieren in einem mehrfachen Spannungsverhältnis steht. Weder werden die Sprüche des daimonion in irgendeiner Weise begründet oder erklärt, noch werden sie ihrerseits einer kritischen Prüfung unterzogen. Und als strikt persönliche Weisungen ohne verallgemeinerungsfähigen Gehalt, wollen sie nicht recht zu der öffentlich-politischen Rolle passen, zu der sich Sokrates als Denker des Marktplatzes bekennt.

2. Sokrates‘ Neigung zum Essentialismus zeigt sich darin, dass er in der Zurückweisung der Antworten, die seine Gesprächspartner auf seine insistierenden

„Was ist .. . ?“Fragen geben, durchweg von zwei Voraussetzungen ausgeht:

1. dass eine zufriedenstellende Begriffsklärung nur durch eine vollständige Definition zu erreichen ist, und

2. dass als vollständige Definitionen ausschließlich Definitionen eines bestimmten

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Typs, nämlich Definitionen per genus proximum et differentia specifica in Frage kommen, also Definitionen durch die Konjunktion von zwei einzeln notwendigen und zusammen hinreichenden semantischen Bedingungen. Die Definition muss das Eine und Gemeinsame in der vielfältigen unter ein und denselben Begriff fallenden Dinge erkennen lassen. Zumindest aus einer Nach-Wittgensteinschen Sicht - bzw. aus der Sicht seiner bedeutungstheoretischen Vorgänger im 19. Jahrhundert - erscheinen auch diese Voraussetzungen dogmatisch. Nicht in dem Sinne dogmatisch, dass Sokrates ein ausdrückliches essentialistisches Dogma aufstellt. Beide Voraussetzungen werden von Sokrates vorwiegend negativ ausgedrückt - durch das Ungenügen an vorgeschlagenen Teildefinitionen. Dogmatisch sind diese Voraussetzungen insofern, als sie von Sokrates als mehr oder weniger selbstverständlich gesetzt werden, während es keineswegs klar ist, ob sie überhaupt erfüllbar sind. Es ist alles andere als selbstverständlich, ob es ein einheitliches

„Wesen“ etwa der Gerechtigkeit gibt, das für sämtliche Teilbegriffe bzw. für sämtliche rechtmäßig unter diesen Begriff subsumierte Gestalten von Gerechtigkeit kennzeichnend ist.

3. Ein weiteres Stück Dogmatismus in Sokrates‘ Philosophieren, das mit einer dialogisch-diskursiven Philosophieauffassung nur schwer zu vereinbar scheint, fällt erst auf den zweiten Blick ins Auge: Sokrates‘ mangelnde Unterscheidung zwischen dem durch begriffliche Analyse gewährten Explikationswissen und der weitergehenden Interpretation dieses Wissens als eines unabhängig von semantischen Übereinkünften gültigen Begründungswissens. Auch wenn man die Ideenlehre, die platonische Verselbständigung der Begriffe zu Ideen sowie die Identifikation der Inhalte dieser Ideen mit den Idealformen der jeweiligen Gegenstände nicht dem historischen Sokrates, sondern dem spezifisch platonischen Sokrates-Bild zuschreibt, ist doch unverkennbar, dass auch der vorplatonische Sokrates in den angestrebten Resultaten seiner Begriffsanalysen mehr sieht als die Bewusstmachung der Strukturen und Inhalte bestimmter sprachlicher Konventionen.

Insbesondere ethische Begriffsklärungen scheinen für Sokrates einen über die semantische Selbstvergewisserung hinausgehenden substantiell ethischen Erkenntnisgehalt zu besitzen. Die semantische Frage danach, was „Tugend“

bedeutet, wird nicht klar getrennt von der ethischen Frage danach, was Tugend ist.

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Wer die Bedeutung des Worts „Tugend“ erfasst hat, soll damit auch schon das Wesen der Tugend und insofern die wahre Tugend kennen. In dieser Annahme steckt jedoch nicht weniger als ein Kategorienfehler: Zu wissen, was die sprachlichen Ausdrücke „gut“, „Pflicht“ oder „Recht“ in moralischen Aussagen bedeuten, ist etwas anderes als zu wissen, was im moralischen Sinne gut, pflichtgemäß oder berechtigt ist. Sokratisch-dialogische Begriffsklärungen führen zunächst nur auf ein semantisches Explikationswissen darüber, wie bestimmte Begriffe gebraucht werden, nicht aber bereits auf ein Wissen darüber, ob dieser Gebrauch in normativer Hinsicht berechtigt oder unberechtigt ist. Einen in der Alltags- oder bestimmten Fachsprachen verbreiteten Begriff etwa von „Gerechtigkeit“

zu explizieren, bedeutet nicht, ihn dadurch auch schon ethisch zu legitimieren.

Analyse ist allenfalls eine notwendige, nicht aber eine hinreichende Bedingung ethischer Erkenntnis. Gerade aber der Gebrauch, den Sokrates von seiner Methode in ethischen Kontexten macht, weckt Zweifel daran, ob er sich der Differenz zwischen analytischem Explikationswissen und fundierendem Begründungswissen hinlänglich bewusst war.

1.2 Das Sokratische Gespräch bei Nelson und Heckmann

Im Gegensatz zum streng dyadischen sokratischen Dialog, wie wir ihn bei Platon finden, ist das Sokratische Gespräch kein Dialog zwischen Lehrer und Lehrendem mehr, sondern ein „Polylog“, bei dem jeder der Teilnehmer an einer Gesprächsgruppe als „Hebamme“ für die philosophischen Entdeckungen der anderen fungiert, mit dem Ziel, eine gemeinsame, von der Gruppe als ganzer getragene philosophische Erkenntnis ans Licht zu bringen. Durch diesen Wechsel von der Dyade zur Gruppe wird die Rolle des Leiters sowohl eingeschränkt als auch ausgeweitet. Eingeschränkt wird sie insofern, als ein Teil seiner

„Hebammenaufgaben“ nunmehr von der Gruppe übernommen wird. Ausgeweitet wird sie insofern, als die Aufrechterhaltung der Gesprächsdisziplin und die Steuerung des Gruppenprozesses aufgrund der größeren Komplexität und Reichhaltigkeit des Gesprächs und der vermehrten Möglichkeiten eines Entgleisens ihn vor weitaus höhere Aufgaben stellen.

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Bei Nelson ist die sokratische Methode verknüpft mit einer transzen- dentalphilosophischen Deutung der mittels dieser Methode aufgefundenen Wahrheiten. Nelson bettet die sokratische Methode ein in einen neukantianischen Apriorismus: Philosophische Wahrheit lässt sich entdecken. indem man nach den Voraussetzungen fragt, die in unseren alltäglichen Denkprozessen enthalten sind.

Nelsons - von Fries übernommene - Methode der Regression ist die Suche nach den unserer Sichtweise der Welt und unserer selbst zugrunde liegenden „ultimate presuppositions“ (wie sie Collingwood, wenn auch in anderem Kontext, genannt hat).

Diese sind identisch mit transzendentalen Wahrheiten in einem objektiven und allgemeingültigen Sinn. Was Fries und Nelson „Selbstvertrauen der Vernunft“

nennen, ist ein Vertrauen in die Fähigkeit der menschlichen Vernunft, objektive Wahrheiten dieser Art in der Tat aufzuweisen.

Der Beitrag Gustav Heckmanns zur Entwicklung der sokratischen Methode liegt u. a.

darin, sie von diesen spezifisch neukantianischen Hintergrundannahmen emanzipiert zu haben. Bei Heckmann wird das Sokratische Gespräch autonom. Es löst sich vom Transzendentalismus Nelsons und wandelt sich in ein offene, nicht mehr auf einen strikten Objektivismus verpflichtete didaktische Methode.

Das ist aber nicht der einzige Beitrag Heckmanns. Während Nelson die sokratische Methode als „die Kunst. Philosophieren zu lehren“ (1970b, S. 271), also als eine Form des philosophischen Unterrichts versteht, wird sie bei Heckmann zum Medium der Philosophie schlechthin (vgl. Heckmann 1981, S. 7). Der Dialog bzw. das Gruppengespräch ist damit wie bei Sokrates nicht mehr nur Methode oder Vermittlungsform, sondern die Praxis der Philosophie selbst, nicht mehr nur Weg, sondern eigenständiges Ziel. Das sokratische Gespräch dient weder primär der Vermittlung unabhängig gewonnener philosophischer Erkenntnisse, noch ist sie eine bloße Übung zur Aneignung einer philosophischen Technik, auf die nach erlangter Beherrschung verzichtet werden kann. Sie ist vielmehr die Praxis der Philosophie selbst. In ihr fallen Wahrheitsfindung und Vermittlung nicht länger auseinander - ohne dass dabei allerdings die Rolle des Gesprächs überschätzt und ihm (wie in der Diskurstheorie Habermas‘) - zugleich eine wahrheitskonstitutive Funktion

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zugeschrieben würde.

2. Vom Sokratischen Gespräch zum “sokratischen Paradigma“ der Philosophie

Das sokratische Gespräch ist eine von mehreren möglichen Realisationsformen eines „Sokratischen Paradigmas“ von Philosophie. Ich möchte dieses Paradigma durch eine Liste von sechs Merkmalen charakterisieren:

1. Philosophie ist kein geschlossenes Lehrgebäude, sondern eine Praxis des Fragens und Suchens.

Philosophieren ist nach dem sokratischen Paradigma eine Tätigkeit, keine Doktrin.

Was heißt das?

Philosophie ist eher Kunst als Wissenschaft. Nelson charakterisierte die sokratische Methode als die Kunst, nicht Philosophie, sondern philosophieren zu lehren, sie sei

„nicht die Kunst, über Philosophien zu unterrichten, sondern Schüler zu Philosophen zu machen“. Ethik zu lehren, bedeutet danach nicht, ethisches Wissen zu vermitteln, sondern die Fähigkeit zu entwickeln, sich ethische Einsichten durch eigene Anstrengungen der Problemidentifikation, der Problemlösung und der reflexiven Selbstklärung anzueignen. Das Ziel der Philosophie ist primär nicht die Weitergabe von Wissen, sondern die Entfaltung von Kompetenzen.

Zweitens ist Philosophie wesentlich eine bestimmte Form kommunikativen Handelns - im Gegensatz zu anderen, nur scheinbar kommunikativen Modellen von Philosophie. Viele Philosophiekonzeptionen vermitteln bloß den Anschein, dialogisch und kommunikativ angelegt zu sein. Die meistdiskutierte Sozialphilosophie der letzten Jahrzehnte, die Gerechtigkeitskonzeption von Rawls, macht sich eine Konstruktion zu eigen, die an die Tradition der Vertragstheorien anknüpft, diese aber in einem entscheidenden Punkt abwandelt: Mehrere Vertragsparteien beraten sich hinter einem sogenannten „Schleier des Nichtwissens“ darüber, welche

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Gerechtigkeitsgrundsätze sie für ihre Gesellschaft gelten lassen wollen, ohne ihre eigene Position in dieser Gesellschaft zu kennen. Diese Konzeption vermittelt lediglich den Anschein, diskursiv angelegt zu sein. Im Grunde ist die Beratung hinter dem „Schleier des Nichtwissens“ ein bloße Illustration, die Beratenden bloße Fiktionen. Das Gedankenspiel des hypothetischen Vertrags lässt sich ebensogut von einem einzigen isolierten Beurteiler vornehmen. Schon deshalb kommt es nicht darauf an, dass es mehrere sind, die die Beratung im Rawlsschen „Urzustand“

führen, da sich alle in derselben Ausgangslage vollständiger Unwissenheit befinden.

Im Endergebnis ist Rawls‘ Konstruktion ebenso monologisch wie Kants Kategorischer Imperativ mit seiner Forderung, die moralische Zulässigkeit einer individuellen Maxime daran zu prüfen, ob man die hypothetische Verallgemeinerung dieser Maxime wollen kann, oder Hares Prinzip der hypothetischen Identifikation mit den Interessenstandpunkten aller von einem individuellen Handlungsprinzip Betroffenen.

2. Philosophische Einsichten sind jedermann zugänglich, der über hinreichende Denkfähigkeit und guten Willen verfügt

Die Philosophie ist ein durch und durch demokratisches Unternehmen. Privilegien aufgrund „höheren“ Wissens werden nicht anerkannt. Vielmehr gilt jeder als prinzipiell gleichwertiger Gesprächspartner - was nicht heißt, dass man auch die Meinungen eines jeden anderen gleicherweise anerkennen muss.

Ein Prinzip demokratischer Privilegienlosigkeit ist eher für Heckmanns als für Nelsons Auffassung von Philosophie charakteristisch. Nelson war nicht nur in der politischen Philosophie skeptisch gegenüber die Demokratie. Zwar hat Nelson die Tendenz des Sokrates, Explikations- und Begründungswissen gleichzusetzen, als problematisch durchschaut. Es ist ihm jedoch nicht gelungen, die erkannte Kluft zwischen dem durch die Regressionsmethode gewonnenen Explikationswissen und einem unabhängig fundierten Begründungswissen anders als durch eine Intuition zu überbrücken: Während das Explikationswissen durch sokratische Induktion und Abstraktion gewonnen werden soll, postuliert er für das Begründungswissen eine nicht weiter nachprüfbare und sich Dialog und Diskurs systematisch entziehende

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intuitive Evidenz.

Klar formuliert findet sich die Differenz zwischen regressiv gewonnenem Explikationswissen und einem unabhängig fundierten Begründungswissen in einem Text von 1918. „Die Kunst, zu philosophieren“:

Wenn gleich das erörterte Abstraktionsverfahren zur Auffassung der philosophischen Grundsätze hinreicht, so ist damit doch nicht auch schon ihre Begründung gegeben. Denn sie werden dadurch nur als die tatsächlichen Voraussetzungen der zergliederten Urteile und also als deren allgemeinste Gründe aufgewiesen; sie können folglich nicht umgekehrt hinsichtlich ihrer Rechtmäßigkeit auf jene gegründet werden. Sollen sie daher nicht überhaupt ohne Begründung bleiben, so bedürfen wir eines eigenen Verfahrens, durch das sich der Grund ihrer Gültigkeit ermitteln lässt. (Nelson 1970a. S. 242f)

Aber das von Nelson im folgenden angegebene Verfahren, „durch das sich der Grund ihrer Gültigkeit ermitteln lässt“, ist im Grunde keins. Es reduziert sich auf die schlichte Kenntnisnahme eines „Faktums der Vernunft“, einer Faktizität, die mit der Vernunft selbst als „Vermögen der unmittelbaren Erkenntnis“ (1970a, S. 244) gegeben sein soll. Die Gewissheit dieser intuitiven Erkenntnis soll jede Frage nach einer weiteren Begründung entbehrlich machen: „Sie liegt in uns, allem Zweifel des Verstandes unüberwindlich, kraft der Tatsache des Selbstvertrauens der Vernunft.“

(1918, S. 243)

In diesem Zug von Nelsons Philosophie zeigt sich ein „dogmatischer Rest“. Der Intuitionismus Nelsons passt nur wenig zu dem skeptischen und eher misstrauenden als vertrauenden Geist der sokratischen Methode. Er ist aber vor allem auch argumentativ denkbar unbefriedigend. Wie soll die Tatsache - wenn es eine Tatsache ist -, dass die Vernunft sich selbst vertraut, dieses Vertrauen begründen können? Solange Nelsons Redeweise vom „Selbstvertrauen der Vernunft“ nicht mehr besagt als die psychologische Tatsache, nämlich dass sich „die Vernunft“

vertraut, d. h. dazu neigt, ihren Erkenntnisansprüchen eine hohe Glaubwürdigkeit beizumessen, mag sie empirisch zutreffen, trägt aber erkenntnistheoretisch nichts

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aus. Soll mit der Redeweise vom „Selbstvertrauen der Vernunft“ dagegen gemeint sein, das die von der Vernunft für evident gehaltenen Grundsätze nicht nur vermeintlich, sondern tatsächlich wahr sind und insofern eine echte Erkenntnis darstellen, trägt sie ebenfalls nichts aus, da damit ein notwendiger Zusammenhang zwischen subjektiver Evidenz und objektiver Wahrheit zwar behauptet, aber nicht begründet wird.

3. Philosophie ist partnerschaftlicher Dialog - unter Respektierung der Würde und Autonomie des Dialogpartners.

Das Paradigma des Sokratischen Gesprächs ist eher eine Idealisierung von Sokrates‘ Gesprächsmethode als die, die wir in den platonischen Dialogen tatsächlich vorgeführt bekommen. Diese ist weitgehend nur dem Namen nach mäeutisch.

1. Der Sokrates der platonischen Dialoge schreckt zur Erreichung seiner Ziele auch vor manipulativen Mitteln - einschließlich der offenen Verhöhnung seiner Gesprächspartner - nicht zurück.

Dagegen soll die sokratische Methode, wie es Nelson in seiner programmatischen Rede zur „Sokratischen Methode“ entwirft, auf einer Haltung wechselseitiger Achtung fußen, die eine persönliche Bloßstellung und Beschämung kategorisch ausschließt.

2. Während der platonische Sokrates über weite Strecken das Gespräch dominiert und seine Gesprächspartner auf die Rolle jasagender Statisten reduziert, denen keine Zeit gelassen wird, seine Denkbewegungen selbständig nachzuvollziehen, soll sich der Gesprächsleiter bei Nelson in Geduld und Zurückhaltung üben, nicht dozieren und keine Suggestivfragen stellen, sondern den Gesprächsteilnehmern bei der Artikulation ihrer eigenen Gedanken Zeit lassen - die Zeit, die sie brauchen, wenn sie die Unzulänglichkeiten ihrer Gedanken aus eigener Kraft erkennen und korrigieren können sollen.

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3. Während der platonische Sokrates - gleich einem „Zitterrochen“, wie er seine Attacken ironisch beschreibt - eine Gesprächspartner irritiert und benommen macht, soll der Gesprächsleiter nach Nelson seine Gesprächspartner nur im guten Sinne elektrisieren, nämlich zu eigenem Denken stimulieren. Während Sokrates die Mitdenker ihrer besten Kräfte beraubt, besteht die Aufgabe des sokratischen Gesprächsleiters nach Nelson u. a. darin, bei den Gesprächsteilnehmern die bestmöglichen Voraussetzungen für eine selbständige Wahrheitsfindung zu schaffen - getreu seiner Maxime. dass alles von der Kunst abhängt, „die Schüler

von Anfang an auf sich zu stellen, sie das Selbstgehen zu lehren, ohne dass sie darum allein gehen.“ (Nelson 1970b, S. 293)

4. Ausgangspunkt der Philosophie ist das einzelne Subjekt und sein kon- kretes Erleben und Handeln.

Sie soll beim Einzelfall ansetzen und von da aus induktiv zum Allgemcincn weitergehen

- bei Begriffen abstraktiv von der Merkmalsanalyse einzelner Instanzen oder Instanzengruppen zur Definition,

- bei erkenntnistheoretischen Problemen von der Klärung der Erkenntnismodi beim singulären Urteil zum allgemeinen Prinzip,

- bei ethischen Problemen von der Kasuistik des Einzelfalls zur allgemeinen Regel.

Jede andere als diese „regressive“ Methode des Fortschreitens vom Einzelnen zum Allgemeinen würde nach Nelson das Dunkel nicht aufhellen können, das gerade die grundlegendsten Begriffe und Prinzipien umgibt. Wie für Nietzsche (Fröhliche Wissenschaft § 355) und Wittgenstein (PU § 129) ist auch für Nelson das Allgemeinste und Vertrauteste das am wenigsten Durchschaute:

Die Philosophie beruht in ihren Grundsätzen nicht auf einleuchtenden Wahrheiten. Die Grundsätze sind in ihr viel mehr das Dunkelste, Unsicherste

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und Umstrittenste. Einigkeit herrscht nur da, wo es sich um

die konkrete Anwendung dieser Sätze handelt. (Nelson 1970b, S. 279)

Nur das Einzelne ist durchsichtig und unstrittig genug, um als Ausgangspunkt für die angestrebte Erkenntnis des Allgemeinen in Frage zu kommen. Das philosophische Denken soll deshalb bei den Problemen ansetzen, auf die für Lernende in seiner konkreten äußeren und inneren Wirklichkeit stößt und nicht von akademischen Lehrbuch-Problemen. Von da aus soll es sich auf höhere Ebenen der Abstraktion und Verallgemeinerung zubewegen.

In diesem Zug liegt eine offenkundige Entsprechung zur Methode des Unterrichts in

“Praktische Philosophie“. Auch dieser soll an die konkreten Erfahrungen der Schüler und an die sich daraus ergebenden Fragen, Konflikte und Unsicherheiten anknüpfen. Erfahrungen mit sich selbst - emotionale Befindlichkeiten und Einstellungen, Selbstverständnis, Unsicherheiten im Denken und Handeln, Orientierungsprobleme, Irritationen - kommen dabei ebenso in Frage wie Erfahrungen mit anderen - abweichende Emotionen, Einstellungen, Werthaltungen, Lebenspläne, Weltanschauungen -‚ sei es in der Familie, in der Schule, im Freundeskreises oder im weiteren sozialen Umfeld. Das Kerncurriculum Praktische Philosophie formuliert:

Ausgangspunkt für das, was im Unterricht thematisiert und aufgearbeitet wird, sind die Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler. ihre Deutungsmuster und Sichtweisen, mit denen sie ihre Lebenswelt, ihren Alltag wahrnehmen und erklären. Aus diesen lebensweltlichen Erfahrungen kommen die Fragen und Problemstellungen, die Orientierungsbedarf signalisieren. Dorthin zurück sollen die Ergebnisse der gemeinsamen Aufarbeitung ihre Wirkung entfalten.

Insofern kommt den Sichtweisen, Fragen und Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler für die inhaltliche Planung und Durchführung des Unterrichts konstitutive Bedeutung zu.

Dabei erschließt die aktive Mitwirkung der Schüler beträchtliche Motivationspotentiale. Die Schüler haben das Gefühl. dass es um sie selbst geht, um

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ihre eigenste Lebenswirklichkeit. Gleichzeitig werden dem einzelnen Bedeutung.

Funktion und Folgen seiner Werthaltungen, Grundsätze, Lebensentwürfe und Weltanschauungen bewusst gemacht und verdeutlicht. Bedeutung heißt, dass der einzelne sich fragt, was bestimmte Werte, Grundsätze und Normen in bestimmten Lebenskontexten bedeuten, wie sie sich konkretisieren und anwenden lassen:

Funktion heißt, dass sich der einzelne fragt, was er davon hat, dass er sich an diesen und keinen anderen Prinzipien orientiert und welche Chancen und Risiken sich daraus ergeben; Folgen heißt, dass er sich fragt, welche Belastungen und welche Konflikte daraus zu erwarten sind und welche neuen Erfahrungsdimensionen ihm dadurch möglicherweise erschlossen werden.

Auf diese Weise konkretisiert sich das, was das Kenncurriculum personale Perspektive nennt und der gesellschaftlichen und der ideengeschichtlichen Perspektive gegenübersteht. in der Tat geht die personale Perspektive quasi von selbst in die gesellschaftliche Perspektive über, denn von den Folgen individueller Einstellungen und Lebensentwürfe sind auch andere betroffen. Dabei können dieselben Fragen nach Bedeutung, Funktion und Folgen von Werthaltungen und Normen, die innerhalb der personalen Perspektive für das Individuum gestellt werden, innerhalb der gesellschaftlichen Perspektive mit Bezug auf die Gesellschaft gestellt werden. Zusätzlich lassen sich aber auch Zusammenhänge zwischen individuellen Werthaltungen und Sinnüberzeugungen und gesellschaftlichen Entwicklungen verdeutlichen: Individuelle Werthaltungen und Sinnüberzeugungen sind gesellschaftlich bedingt (Sozialisation), übernehmen gesellschaftliche Funktionen (Integration, Vertrauen) und wirken sich entscheidend auf das gesellschaftliche Zusammenleben aus (Gruppenbildung, Konflikte, Verfahren der Konfliktbewältigung). Darüber hinaus kann gefragt werden, welche Wertvorstellungen miteinander vereinbar, welche miteinander unvereinbar sind, und wieviel Konflikt wünschenswert oder erträglich und wieviel unerwünscht oder unerträglich ist. Gibt es Normen, die für alle verbindlich sein müssen, um ein friedliches und gedeihliches Zusammenleben zu ermöglichen? Wie weit reicht das Recht des einzelnen auf Selbstverwirklichung nach eigenen Vorstellungen? Wie weit ist der einzelne zur Anpassung an gesellschaftliche Normen auch gegen seine eigenen Überzeugungen, Vorlieben und Ideale verpflichtet?

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5. Verstehen und Nachvollziehen gehen der kritischer Prüfling voraus

Konkret vollzieht sich das sokratische Philosophieren in drei Schritten: Verstehen, Analyse und kritische Reflexion. Der erste Schritt dient dem Kennenlernen und Verstehen von Lebensorientierungen, Werthaltungen,

Weltanschauungen, religiösen Bindungen usw., der zweite der Klärung ihrer deskriptiven und normativen Voraussetzungen, ihrer Funktionen, Auswirkungen und konkreten Anwendungsbedingungen, der dritte der kritischen Prüfung dieser Voraussetzungen sowie der Erwägung und Diskussion von Alternativen. Durch jeden dieser drei Schritte werden wichtige Fähigkeiten eingeübt und Bereitschaften entwickelt:

- die Fähigkeit und Bereitschaft, eigene und fremde Vorstellungen vorurteilsfrei zu erkennen und zu verstehen (Empathie, Verständnisbereitschaft, Toleranz),

- die Fähigkeit und Bereitschaft. eigene Vorstellungen zu artikulieren und moralisch Stellung zu nehmen (Selbsterkenntnis, Kommunikationsfähigkeit.

Problembewusstsein, Selbstbewusstsein),

sowie

- die Fähigkeit und Bereitschaft, eigene und fremde Vorstellungen auf ihre deskriptiven und normativen Grundlagen hin zu befragen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen (Urteilsfähigkeit, Kritikfähigkeit).

Wesentlich für das Sokratische Gespräch ist die Verfahrensregel der optimalen Ermöglichung wechselseitigem Verstehens durch den Gesprächsleiter. Diese Regel verpflichtet den Gesprächsleiter, dafür zu sorgen, dass alle Äußerungen von allen anderen verstanden werden und dass jeder eine Chance hat, wenn notwendig, weitere Erklärungen zu verlangen. Klarheit ist eine der obersten Maximen des Sokratischen Gesprächs. Das heißt nicht, dass nicht auch undurchsichtige oder schwer artikulierbare Gefühle und Einstellungen ausgedrückt werden dürfen.

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Vielfach gehört es zum Wesen von Gefühlen, nicht vollständig durchsichtig zu sein.

Aber Nachfragen nach weiterer Klärung werden vom Leiter stets unterstützt.

Außerdem wird er selber weitere Klärungen verlangen. wann immer er dies für sinnvoll und fruchtbar hält.

Zum Verstehen des anderen gehört wesentlich auch einfühlendes Nachvollziehen durch Empathie. Die meisten unserer Überzeugungen haben nicht nur eine gefühlsmäßige Komponente, sondern sind auch in Gefühlen und emotionalen Bedürfnissen verankert, etwa dem Wunsch nach Sicherheit. Geborgenheit, Anerkennung sowie in emotionalen Einstellungen wie Furcht, Neid, Mitleid, Scham.

Liebe. Wichtig scheint vor allem, dass die Gruppenarbeit dazu beiträgt, Sinn- und Wertvorstellungen anderer mit einer gewissen Gelassenheit und Objektivität wahrzunehmen, d. h. ohne Vorurteile und ohne sie von vornherein zu bewerten.

Dabei müssen allerdings auch die Grenzen des Verständnisses respektiert werden.

Verstehen ist ein Ideal, das meist nur in Näherungen erreichbar ist. Fremde Sichtweisen, Normen und Praktiken können zu wenig einfühlbar oder akzeptabel sein, um zum Verständnis einzuladen - auch wenn es oft gerade die

„fundamentalistischsten“, am wenigsten rationalen und deshalb für andere am wenigsten nachvollziehbaren Überzeugungen sind, von denen die stärksten Bindungskräfte ausgehen.

Die Fähigkeit, eigene Sinn- und Wertvorstellungen zu artikulieren, ist nicht weniger bedeutsam. Oft sind nicht nur die Lösungen, sondern auch bereits die Fragen alles andere als klar, und es bedarf fremder Hilfe, um eine Frage, eine Irritation, eine Erfahrung für den einzelnen artikulierbar zu machen. Möglicherweise reichen die sprachlich-begrifflichen Mittel nicht aus, um das vorsprachlich Gefühlte oder Gefragte adäquat auszudrücken, oder die Frage oder Erfahrung ist selbst noch zu diffus. Lehrer und Lerngruppe können dann Entscheidendes dazu beizutragen, Inhalt und Ausdruck des Gemeinten zu klären. Das Ideal am Horizont ist dabei die Fähigkeit zu einer autonomen, selbstbestimmten Wertung und die Entwicklung einer eigenen Lebensperspektive. Dies Ideal ist aber lediglich ein Fernziel. Solange es nicht erreicht ist, sollte niemand zu einer eigenen Meinung gezwungen werden, sondern vielmehr bestehende Unsicherheiten toleriert werden - wie denn überhaupt

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die charakteristisch sokratische Philosophentugend nicht in der Sicherheit, sondern im Ertragen von Unsicherheit besteht.

Mit der Artikulation eigener Erfahrungen, Beurteilungen und Werte ist der Bann der Unmittelbarkeit gebrochen. Eine distanzierte, kritische, offene Einstellung zu sich selbst und den eigenen Handlungen und Erfahrungen wird möglich, die ihrerseits Bedingung ist für den dritten Schritt: die Reflexion auf die Grundlagen und Voraussetzungen eigener und fremder Einstellungen und Werte. Bei diesem dritten Schritt geht es darum, Stellungnahmen nicht nur zu vertreten, sondern auch zu begründen. Gleichzeitig wird auf dieser Ebene eine kritische Auseinandersetzung mit den Positionen anderer möglich sowie mit den vielfältig auf den Schüler einwirkenden Sinnangeboten (z. B. Kirchen und Sekten), Weltanschauungen (z. B.

Esoterik) und Moralvorstellungen (Eltern, Medien).

6. Philosophie vollzieht sich im Medium der Vernunft. Sie prüft Geltungs- ansprüche und befragt Konventionen. Traditionen und Autoritäten auf ihre Glaubwürdigkeit und Tragfähigkeit

Ein zentrales Merkmal des sokratischen Paradigmas ist die unverzichtbare Vernunftorientierung. Philosophie vollzieht sich im Medium der Vernunft als dem Medium, in dem eine intersubjektive Verständigung immer noch am ehesten erreichbar ist. Während Gefühle nur zum Teil intersubjektiv nachvollziehbar sind, ist Vernunft wesentlich auf lntersubjektivität angelegt. Vernunft heißt zunächst:

Orientierung an Gründen, die im Prinzip für jeden verständigen Gesprächspartner einsichtig sind. Zumindest ihrem Anspruch (wenn auch nicht immer dem tatsächlichen Erfolg) nach zielt Vernunft auf die Gemeinsamkeit eines diskursiv erreichten Konsenses und damit auf eine gewisse Absicherung des eigenen Urteils.

Auf der anderen Seite ist das Sich-Einlassen auf Vernunft aber auch ein Wagnis.

Denn Vernunft heißt auch, dass über den „Zwang des guten Arguments“ hinaus keine Autorität zugelassen ist und dass weder die Auffassung des Lehrers noch die der Mehrheit oder des Zeitgeists schlechthin maßgeblich sein kann. Autoritäten, Konventionen und Traditionen sind vielmehr allererst auf ihre Glaubwürdigkeit und

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Tragfähigkeit zu prüfen.

3. Eigene Erfahrungen mit Sokratischen Gesprächen

Die Erfahrung mit der Sokratischen Gruppenarbeit hat verschiedentlich gezeigt, dass die von Heckmann formulierten Regeln in ihrer „kanonischen“ Form zu rigide sind, um den spezifischen Anforderungen unterschiedlicher Anwendungskontexte zu entsprechen.

Erstens entsprechen die tatsächlichen Bedingungen, unter denen Sokratische Gespräche stattfinden, nicht immer dem von den Regeln vorausgesetztem Ideal. Bei manchen Themen fällt es schwer, die Teilnehmer zu persönlichen Erfahrungsberichten zu motivieren. Es ist dann sinnvoll, auch andere als selbsterlebte Beispiele zuzulassen. z. B. Beispiele von Hörensagen oder fiktive Fälle aus Literatur und Film, auch wenn dies mit einem Verlust an persönlichem Engagement erkauft wird.

Auch das Metagespräch, das nach kanonischer Vorstellung eine volle Sitzung einnehmen soll, sollte flexibler gehandhabt werden. Ich persönlich finde es angebracht, das Sachgespräch unmittelbar oder nach Abschluss eines inhaltlichen Punkts zu unterbrechen sobald ein Teilnehmer um ein Metagespräch bittet, anstatt mit dem unbehaglichen Gefühl weiterzumachen, dass irgendetwas danebengegangen ist (zumindest in den Augen einiger Teilnehmer), was aber bis zum Nachmittag warten muss.

Eine substantiellere Modifikation des ursprünglichen Kanons ist die von einer Reihe von Praktikern vorgeschlagene Lockerung der Regel der strengen Zurückhaltung des Gesprächsleiters. Es hat sich herausgestellt, dass sachhaltige Beiträge des Leiters gelegentlich außerordentlich hilfreich sein könne, z. B. um das Gespräch aus einer Sackgasse zu manövrieren. Weiterhin kommt es des öfteren zu Situationen, in denen der Leiter wichtige Hintergrundinformationen, über die die Teilnehmer nicht verfügen, beisteuern kann. Falls alle Teilnehmer außer dem Leiter jünger sind, sollte

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es ihm nicht verwehrt sein, das Spektrum der Beispielfälle aus seiner Lebenserfahrung heraus zu bereichern oder die eine oder andere sachdienliche psychologische Erklärung einzubringen.

Schließlich muss das Sokratische Gespräch stärker als zu Nelsons Zeiten der Tatsache Rechnung tragen, dass auch in relativ homogenen Gruppen der für unsere hochdifferenzierte Gesellschaft charakteristische Wertepluralismus zutage tritt und ein Konsens vielfach nicht zu erreichen ist. Das methodische Ziel des Konsensorientierung und die regulative Funktion der Wahrheitsidee wird dadurch nicht relativiert. Aber man sollte sich über die Realisierbarkeit dieser Ziele keine Illusionen machen. Falls ein Konsens nicht herstellbar ist, verschiebt sich der inhaltliche Schwerpunkt des Gesprächs auf die Klärung von Verzweigungspunkten und der ethische Schwerpunkt auf die Bereitschaft zu Verständnis und Toleranz, aber auch auf die Fähigkeit zum Aushandeln von praktischen Kompromissen.

Meine eigene Erfahrung mit dem Sokratischen Gespräch - allerdings weitgehend nur in der akademischen Philosophie -‚ aber auch die Rückmeldungen von Teilnehmern bestätigen, dass dieses Verfahren sowohl in kognitiver als auch nonkognitiver Hinsicht ausgesprochen erfolgreich ist. In kognitiver Hinsicht ist die enge Interaktion einer Reihe von Köpfen, die konzentriert über ein wohldefiniertes Problem nachdenken, außerordentlich ergiebiger als das individuelle Nachdenken. In affektiver Hinsicht ist die Teilnahme an einer sokratischen Gesprächsgruppe in der Regel eine als sehr befriedigend empfundene Erfahrung eines Gleichgewichts von Rationalität und Sachlichkeit auf der einen und Wärme, Angenommensein und Offenheit auf der anderen Seite. Auf der kognitiven Seite ist es eine Übung in rationaler Problemlösung im Rahmen einer strengen Gesprächsdisziplin. Auf der affektiven Seite erlaubt es, innerhalb des stützenden Rahmens der Gruppe eigne Konflikte zu erkennen, zu verstehen, seine eigene Selbstwahrnehmung an der Rückmeldung durch andere zu überprüfen und sich mit dem Denken und Fühlen anderen empathisch zu identifizieren.

Wie zu erwarten, führt die Dichte der Interaktion gelegentlich auch dazu, dass sich psychologische Probleme mit dem einen oder anderen Teilnehmer verschärfen.

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Falls zu deren Bearbeitung das Metagespräch nicht geeignet scheint, müssen diese Probleme außerhalb des Gruppengesprächs in individuellen Gesprächen geklärt werden. Die Erfahrung zeigt, dass Homogenität von intellektuellem Hintergrund, Erwartungen, Motivation und Kommunikationsstil für eine erfolgreiche und harmonische Interaktion günstig sind, während es gelegentlich Probleme mit der Integration von Teilnehmern mit prononciert unterschiedlichem Hintergrund gibt, oder mit solchen, die nur die Methode kennenlernen wollen und an der Sache, um die es geht, weniger interessiert sind

Zitierte Literatur

Heckmann. G: 1981, Das sokratische Gespräch. Erfahrungen in philosophischen Hochschulseminaren. Hannover.

Loska, R.: 1995, Lehren ohne Belehrung. Leonard Nelsons neosokratische Methode der Gesprächsführung, Bad Heilbrunn.

Nelson. L.: 1970a, Von der Kunst. zu philosophieren (1918). In: L. Nelson: Die Schule der kritischen Philosophie und ihre Methode. Hamburg (Gesammelte Schriften, 1), 219-246.

Nelson. L.: 1970b, Die sokratische Methode ( 1922) In: L. Nelson, Die Schule der kritischen Philosophie und ihre Methode. Hamburg (Gesammelte Schriften, 1), 269- 316.

Weierstraß, K.: 1967, Über die sokratische Lehrmethode und deren Anwendbarkeit beim Schulunterrichte (1903). In: K. Weierstraß, Mathematische Werke. Bd. 3.

Reprint. Hildesheim 315-329.

Ergänzende Literatur

Birnbacher. D.: Rezension zu Heckmann. Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 4

(20)

(1982), 43-45.

Birnbacher. D.: Nelsons Philosophie - Eine Evaluation. In: Krohn, D./ Neißer.

B./Walter. H. (Hrsg.): Zwischen Kant und Hare. Eine Evaluation der Ethik Leonard Nelsons. Frankfurt 1998, 13-36.

Horster, D / Krohn. D. (Hrsg.): Vernunft, Ethik, Politik. Gustav Heckmann zum 85.

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Kleinknecht, R.: Wissenschaftliche Philosophie, philosophisches Wissen und Philosophieunterricht. Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 11(1989), 18-31.

Krohn, D. u. a. (Hrsg.): Das Sokratische Gespräch. Ein Symposion. Hamburg 1989.

Raupach-Strey, G.: Werkstatt-Reflexionen aus Leiterin-Perspektive. Zu einem unvollendeten Sokratischen Gespräch Zeitschrift für Didaktik der Philosophie 11 (1989), 32-41.

Prof. Dr. Dieter Birnbacher, geb 1946 ist Professor für Philosophie an der Universität Düsseldorf. Im Rahmen des Schulversuches Praktische Philosophie ist Prof. Dr. Birnbacher Mitglied des Wissenschaftlichen Begleitung (mit Prof. Dr.

Martens und Prof. Dr. Nenninger).

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