• Keine Ergebnisse gefunden

Klangbilder - Kippbilder : zur Soziologie des Hörens und Hören-Lassens

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Klangbilder - Kippbilder : zur Soziologie des Hörens und Hören-Lassens"

Copied!
17
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

Dmitri Zakharine Klangbilder- Kippbilder

Zur Soziologie des Hörensund Hören-Lassens

r. Kippbilder in der soziologischen Theoriebildung

In den kultur- und sozialwissenschaftliehen Methodendiskussionen der 20ooer ist beobachtbar, wie die, Gegenüberstellung von objektivieren- den Ansätzen differenzierungstheoretischer Provenienz und subjektivie- renden phänomenologischen Analysemethoden von unterschiedlichen Vermittlungsversuchen aufgelöst wird. Bei solchen Versuchen geht es darum, die Verschränkungen zwischen kollektiven Wissensordnungen und sozialen Strukturen mithilfe einer multiperspektivischen Reflexion über Gruppenidentitäten analytisch zu erfassen.

Die Wandlung der soziologischen Theorie verläuft hier parallel mit tiefgreifendem GesellschaftswandeL Mit der zunehmenden Auflösung von primordialen Gemeinschaftsf\i)rmen ist das wahrnehmende und wahrnehmen-lassende Individuum ,heute mit Differenzen konfrontiert, die aus dem Kontext einer stabilen Wissensordnung des Standes, der religiösen Gemeinde, der Groß-und der Kernfamilie losgelöst sind. An- gesichts der fortschreitenden Unifizierung von Produktion, Dienstleis- Jung, Währung und Ethik im Zusammenhang der globalen Wirtschaft

akkumuliert die sensorische Wahrnehmung im Alltag ein wachsendes UnterscheidungspotenziaL Dieses Potenzial wird durch die Sublimie- rung von subjektiven Deutungskompetenzen im Bereich des Riechens, Schmeckens und Hörens gesteigert und durch das Interesse für das Er- leben des Anderen symbolisch angezeigt.

Seit Simmels Exkurs über die Soziologie der Sinne (r9o8) hat es kaum Versuche gegeben, die Beziehung zwischen r) Wahrnehmung, 2) Interaktion und 3) Kommunikation systematisch zu erfassen. Bis heute fehlt der Soziologie ein elaboriertes Begriffssystem, das geeignet wäre, Ergebnisse von wahrnehmungspsychologischen Experimenten mit der Analyse von sozialen Situationen zu kombinieren. Wenn es darum geht, Funktionen von Hörreizen, Geruchsreizen oder Geschmacksreizen im sozialen Kontext zu definieren, reagieren soziologische Mainstream- Theorien auffallend zurückhaltend. Mit dem Dilemma >präreflexive oder reflexive Wahrnehmung< konfrontiert, verstecken sich phänome- nologische Ansätze der Kultursoziologie hinter den Schlüssen der kan- tianischen Erkenntnistheorie und der Philosophischen Anthropologie, hinter romantischen Theorien des Ästhetischen und den gut gemeinten Exkursen in Freuds Psychoanalyse.

I I I

Erschienen in: Kippfiguren : Ambivalenz in Bewegung / hrsg. von Kay Junge ... - Weilerswist : Velbrück Wissenschaft, 2013. - S. 111-127. - ISBN 978-3-942393-61-4

Konstanzer Online-Publikations-System (KOPS)

(2)

DMITRI ZAKHARINE

Unter jeweils anderen Prämissen wird die Problematik der Reiz- bildung in den handlungstheoretischen und systemtheoretischen For- schungsansätzen der Soziologie ausgeklammert. Der Grund dafür dürfte in der These liegen, dass sich die funktionale Bedeutung der Wahrnehmung auf eine vorkommunikative Verhaltensabstimmung be- schränke. Die Situation der Wahrnehmung wird in der Systemtheorie,

·'deren Betrachtungshorizont diesen Gegenstand immerhin einschließt,

insofern bagatellisiert, als behauptet wird, dass die Wahrnehmung durch >>geringe Analyseschärfe« und >>Sicherheit der Gemeinsamkeit eines Informationsbesitzes« gekennzeichnet sei (Luhmann 1984: s6r).

Dementsprechend setzt das systemtheoretisch fundierte Interaktions- .modell die Kopräsenz aufmerksamer, auf die Rezeption und Generie- rung von Mitteilungen und Informationen eingestellter Subjekte als Ausgangsbedingung der Kommunikation voraus.

1 Die kulturwissenschaftliche Kritik kanadisch-amerikanischer (McLuhan 1964: 21), französischer (Bataille 1928: 71; Certeau 1990:

142) und deutscher Provenienz (Mattenklott 1982: 224), die sich seit den 1970er Jahren gegen den Primat des Sehens vor anderen sinnlichen Wahrnehmungen (Okulozentrismus) richtete, bahnte den Weg zur kri- tischen Reflexion über die kommunikative Relevanz der Sinne. Primär ging es den Kritikern darum, das Dilemma der präreflexiven Wahr-1 nehmung vs. reflexiven Wahrnehmung als hochexplosiven Sprengstoff unter die etablierte strukturalistische Konzeption der sozialen Ordnung zu legen. McLuhans heuristische Unterscheidung zwischen kalten Me- dien (Schrift) und heißen Medien (Radio) stand am Anfang der neuen Theoriemontage. Medien, so der S~hluss der frühen Medientheorien, kanalisieren Reize, auf die der Wahrnehmungsapparat des Menschen ganz unterschiedlich reagiert. Durch die kalkulierten Strategien des Hören- oder Riechen-Lassens kann die Wahrnehmung in eine ganz bestimmte Richtung manipuliert werden. So kann man einerseits beim Frühstück gelassen über Katastrophenopfer lesen, doch vergeht einem andererseits schnell der Appetit, wenn man Stimmen von Opfern im Realzeitformat im Radio hört.

War die klassische Episteme der hermeneutischen Fächer seit Aris- toteles hauptsächlich binär organisiert (sie beruhte auf der Unterschei- dung zwischen Form und Inhalt, Ding und Bedeutung), so rückte das Prinzip tertium datur zunehmend ins Rampenlicht der zeitgenössischen Theoriebildung. Die Vorstellungen von Falte, Mitte, Schnitt, Abgrund, Grenze, Abjectum, etc. wurden in den philosophischen Entwürfen von Michel Serres und Gilles Deleuze für die Erfassung der Brüchigkeit der sozialen Wirklichkeit instrumentalisiert und pointiert auf die Entwer- tung des Begriffs System ausgerichtet.

So ähnlich behauptete sich die Hochkonjunktur des Begriffs Me- dium in der kulturwissenschaftlichen Theorie vor dem Hintergrund

112

(3)

KLANGBILDER - KIPPBILDER

einer radikalen Schrumpfung von präzisen Dichotomien auf Kosten einer semantischen Ausdehnung von unterbestimmten und in ihrem Be- deutungsgehalt immer abstrakter werdenden Begriffen, wie Rauschen, Leerstelle, oder die Figur des Dritten (Koschorke 2010: 10) Die episte- mologische Leistung von solchen Begriffen bestand vor allem darin, die Verschränkung von präreflexiven und reflexiven Wahrnehmungsmodi ins Visier zu nehmen um danach die Möglichkeit von sozialen Zwi- schenlagen zu begründen.

Will man diese Möglichkeit nicht nur theoretisch begründen, sondern auch empirisch erfassen, so ist an mit der Frage nach angemessenen Analyseverfahren konfrontiert. Mit welchen Instrumentarien sollen Keime des Unsystemischen innerhalb von variablen sozialen Systemen beobachtet, klassifiziert und typologisiert werden? In seiner wegweisen- den Studie Zwischenlagen stellt Bernhard Giesen diese Frage, für deren Beantwortung das analytische Potential einer »Figur des Dritten<< ver- mutlich nicht ausreichen würde. Konkret geht es Giesen darum, das Än- derungspotential eines unstabilen Systemsaufgrund der vergleichenden Analyse von drei Wahrnehmungsperspektiven, wie die Perspektive von Ego, die Perspektive von Alter und die Perspektive der Gemeinschaft, zu erfassen. Das vierte Element fokussiert auf das Neue, >>das Ereignishafte und Überraschende<< (Giesen 2008: 298), welches das System immer wieder aus dem Gleichgewicht bringt oder zu bringen droht. Das vierte Element ist der Standpunkt, von dem aus es die Prozesshaftigkeit des sozialen Geschehens zu beobachten gilt.

2.

Akustische Kippbilder Wahrnehmungstheoretische Aspekte

Will man das akustische Kippbild als Instrument der soziologischen Analyse fruchtbar machen, so sollte man als Erstes danach fragen, wie die Energie, die das menschliche Ohr als akustisches Signal emp- fängt, über sensomotorische Synapsen in kollektive Klangvorstellungen übersetzt wird, und dann, als Zweites, wie diese Klangvorstellungen in sozial wirksame Symbole umgewandelt werden.

z.I Passibilität des Ohres

Schon in philosophischen und soziologischen Diskursen des 19. Jh.

wird das Hören als Sinn extremer Passibilität ausgelegt (Welsch 1993: 99). Das Unbeschütztsein des Ohres gilt als Erklärung für eine beson- dere Affinität akustischer Medien zur Ausübung der Gewalt. Da der Mensch dem akustischen Andrang nicht entrinnen kann, liege der

II3

(4)

DMITRI ZAKHARINE

Ursprung der repressiven Macht in der unwillentlichen akustischen Aufmerksamkeitslenkung begründet.

Grundsätzlich erhebt sich bei jedem normalitätsabweichenden Hö- rereignis die Frage, ob es den Individuen und der Gemeinschaft zuge- mutet werden kann. In Gesetzbüchern und Rechtsanweisungen finden sjch abstrakte Begriffe, wie Zumutbarkeitsgrenze, zurnutbares Maß, erhebliche Belästigung, Gesundheitsgefährdung, die Normabweichun- gen im Bereich des Hörens in Bezug auf eine vermeintliche (nie ganz klar umrissene) Normalität definieren (Guski 1987= 45). Die Deutun- gen internationaler Immissionsschutzgesetze laufen seit der Zeit ihrer Verabschiedung Mitte der 197oer Jahre darauf hinaus, Belästigung des Gehörs als eine Beeinträchtigung des Wohlbefindens zu werten. Es stellt sich jedoch heraus, dass Gesundheitsrisiken sowohl außerhalb, als auch innerhalb von rechtlich geschützten Zumutbarkeitsgrenzen bestehen (Baer 2005: 122). • Wie kein anderes Recht etabliert sich das Immissi- onsrecht als Ergebnis kultureller Zuschreibungen. Zwar können em- pirische Experimente und die darauf beruhenden Gutachten erklären, unter welchen Bedingungen hörende Menschen Schmerz empfinden, doch geben sie keine Antwort auf die Frage, wann, wo und inwiefern das Hörereignis als Belästigung erlebt wird (Schick 1979: 17 5 ).

Aus der kultursoziologischen Perspektive erscheint es sinnvoll, zwi- schen (a) physikalischen, (b) psychologischen und (c) sozialen Faktoren zu unterscheiden, die kollektive Reflexionen über Hörereignisse prägen.

(a) Physikalische Faktoren bestimmen, welche wahr- und nichtwahr- nehmbaren Schalleigenschaften vorliegen, wenn jemand eine Hörer- schütterung erlebt. (b) Dagegen besümmen psychologische Faktoren, welche Erlebnisse vorliegen, wenn jemand über eine Hörerschütterung berichtet. Als Illustrationsfolie für die Wirkung psychologischer Fak- toren gilt die Wahrnehmung von Hörereignissen, deren Quelle der Mensch selbst ist. Man reagiert auf menscheneigene Geräusche in der Regel sensibler, und zwar auch dann, wenn deren Intensität gering ist.

Während beim Geräusch >Übergeben< nur zwei leise Laute genug seien, um eine Person aus dem Schlaf in den Wachzustand zu bringen, sind es laut Strauch sieben anderthalbmal stärkere Geräusche des Düsenjägers, die für das Aufwecken des Menschen erforderlich sind (Schneider-Dü- ker 1974: 29). (c) Soziale Faktoren bestimmen, welche Narrative zur Sprache kommen, wenn von Individuen und Gruppen über kollektive Hörerschütterungen berichtet wird. Soziale Faktoren umfassen kollek- tive Einstellungen zu lautlichen Immissionsquellen, Immissionszeiten und Immissionsräumen, deren Geltungsbereich in hohem Maß situati- onsbedingt ist. Während bestimmte sexuell und aggressiv konnotierte Geräusche (lustvolles Stöhnen) aus den öffentlichen Räumen verbannt werden, machen sie gerade den Sinn der akustischen Kommunikation in intimen Räumlichkeiten aus. Reaktionen auf anstandswidrige Geräu-

114

(5)

KLANGBILDER - KIPPBILDER

sehe, wie Darmwinde, Rülpsen, Gähnen, Schmatzen oder Hochziehen der Nase werden nachdrücklicher ausfallen als Reaktionen auf Ge- räusche, die im Umfeld von Krankheit oder Schmerz (weinen, gequält jauchzen, niesen, husten, schnarchen) auftreten.

Gemäß den Ergebnissen von psycheakustischen Tests beziehen sich ungefähr 8o% der Klagen auf die technischen Lautquellen, wie Stra- ßenverkehr (Personalkraftwagen, Motorräder), Luftverkehr (Flugzeu- ge), Gewerbe (Gaststätten), Baustellen (Presslufthammer). Zirka ro%

der lästigen und erschütternden Hörereignisse umfassen Immissionen von nichtmenschlichen Lebewesen (Hundebellen, Hahnkrähen). Die Zahl der Klagen wegen eines stö ·enden Kindergeschreis aus der Nach- barschaft liegt bei ca. r %, wobei die eigenen Kinder von ganz wenigen Versuchspersonen als störend empfunden werden (Guski 1987: 72).

2.2 Geringe Identifikationsleistung des Gehörs

Als Zweites lässt sich beobachten, dass Lautobjekte im Unterschied zu visuellen Objekten schwer erkennbar und identifizierbar sind (McA- dams 1993: 179). Nur knapp 200 Klänge können Menschen einem bestimmten Material wie Metall oder Glas zuordnen, wenn sie die Geräuschquelle nicht sehen. Nur vvenige Menschen mit absolutem Gehör sind fähig, harmonische Tötw miteinander zu vergleichen. Die entsprechenden Deutungskompetenzen stehen nicht jedermann, son- dern hauptsächlich professionell gebildeten Interpreten, wie Priestern, KJ>mponisten oder Tonregisseuren zu.

Der Begriff Hörkompetenz umfasst das Wissen, das die Wiederer- kennung und Interpretation von Hörereignissen ermöglicht. Laute, die außerhalb des Bereichs der klanglandschaftlichen Kompetenz liegen, haben kaum Chancen als Handlungsorientierung zu dienen. Akustische Experimente, bei denen Versuchspersonen einander allein anband eines Handklatschgeräuschs wiedererkennen sollten, demonstrierten, dass die Identifizierungsfähigkeit des menschlichen Ohres für die Erfüllung solcher Aufgaben nicht ausreicht (Repp 1987: rroo). Ergebnisse von weiteren Experimenten, in denen Geburtsblinde und Sehende Szenen des Alltags, wie Restaurant, Straßenbahn, Supermarkt, Küche, Kirche oder Bibliothek anhand von Tonbandaufnahmen identifizieren sollten, ließen schlussfolgern, dass das Wissen über den Charakter von Laut- quellen zur richtigen Einordnung und Wiedererkennung von Alltags- geräuschen ganz entscheidend beiträgt (Klapuri etal. 20or: 4). Zwar können geburtsblinde Menschen bestimmte unsichtbare Geräuschquel- len genauer lokalisieren als Sehende, doch vollzieht sich diese Identifi- zierung ähnlich wie bei den Sehendenaufgrund der Kategorisierung von Lautquellen. Fehlt jede Information über die Lautquelle, so stößt die Identifizierungsarbeit auf Hürden.

II5

(6)

DMITRI ZAKHARINE

Wenn die Lautquelle nicht sichtbar ist, bleibt die Zuordnung des Hörereignisses zur Lautquelle erschwert, und zwar egal, ob es sich um eine direkte akustische Kommunikation (zwischen zwei Sprechern in getrennten Zimmern) oder um eine technisch vermittelte Kommunika- tion, so z. B. eine Telefonkommunikation handelt. Als Illustrationsfolie für eine Lautwahrnehmung mit unsichtbarer Lautquelle kann das

>akusmatische< Hören hinter einem Vorhang dienen: Einer Legende nach versteckten sich die mithörenden (griech. akusmatikoi) Schüler von Pythagoras hinter einer Säule, um ungestört von visuellen Erlebnis- sen der Stimme des Lehrers zuhören zu können (Schaeffer 1966: 712).

Die häufig vorkommenden Korrekturen und Vorwegnahmen von Zu- schreibungsfehlern, die für das akusmatische Hören typisch sind, spre- chen für sich: >>Warte mal, singen da echte Vögel bei Dir im Zimmer oder hast Du gerade den Fernseher an?<<.

2.3 Lange Lernprozesse bei der Aneignung der Hörkompetenz

Die dritte Beobachtung betrifft den Ablauf von kollektiven Lernprozes- sen. In der Regel dauert der Prozess der Wahrnehmungsschulung im Fall des Hörens länger als im Fall des Sehens. Interkulturelle Unterschiede in der zeitlichen Aneignung spezifischer Hörmedienkompetenzen spre- I!

chen dabei für sich. So erheben Nordamerikaner nach der Beobachtung des Komponisten Raymond Murray Schafer ihre Stimme lediglich bei transkontinentalen Telefongesprächen. Ganz anders schreien viele Aus- wanderer aus asiatischen Ländern ins Telefon auch dann, wenn sie mit jemandem verbunden sind, der ledigli~h eine Straße weiter wohnt. Die menschliche Stimme bildet ein elementares zweikanaliges Identifizie- rungssystem, das die Herstellung einer Beziehung zwischen Produktion und Rezeption von Lauten ermöglicht.

Nach Osgood und Chomsky schlussfolgerte auch Kotterba, der seine Versuchspersonen um die Wiedergabe von diversen akustischen Hörereignissen mit lautmalerischen Sprachmitteln bat, dass sich die Sprache am Kommunizieren von akustischen Signalen beteiligt und ein'e merkmalsanalytische Vorarbeit leistet (Osgood etal. 1975: 34;

Kotterba 1983: 12). Dementsprechend kann die Semantik von >laut- leise< im Sprachgedächtnis an die Semantik von >liberal-konservativ<,

>christenfeindlich-christlich< gekoppelt sein. Von dieser Erkenntnis ist es nicht sehr weit zur Begründung eines sozial verbindlichen akustischen Bedeutungsclusters. Je stärker der elementare Bedeutungsunterschied mit Differenzen nationaler oder ethnischer Art angereichert ist, desto nachdrücklicher wird die Konstruktion der Grenze zwischen akusti- schen Gemeinschaften ausfallen. Der Zusammenstoß von verschie- denen Hörkompetenzen in der Kommunikation lässt Wissenslücken offenbar werden.

rr6

(7)

KLANGBILDER - KIPPBILDER

In der Projektion der leiblichen Selbstwahrnehmung auf die Umwelt liegt der Kanalpurismus von vielen religiösen Systemen begründet. Bis heute bleibt die Unterscheidung zwischen Körpermedien und Klang- maschinen konstitutiv für die Konfessionen Islam und Ostchristentum.

So ist beispielsweise der Gebrauch von Musikinstrumenten in den russischen Kirchen nicht gestattet, und zwar mit der Begründung, Instrumente könnten nicht beten. Ein ähnliches Dilemma kennt auch der Protestantismus, der die bezeichnete Differenz allerdings weniger streng einhält.

2.4 Latente Semantik von kollektiven Hörbildern

Erst nach langer Wahrnehmungsschulung finden Hörereignisse Ein- gang in die soziale Kommunikation. In den 196oer Jahren kam die britisch-amerikanische Kognitionspsychologin Anne Treisman zum Schluss, dass eingehende akustische Botschaften nicht nur nach ihren physikalischen Eigenschaften analysiert, sondern auch nach latenten vorgespeicherten Farm-Sinngefügen wie Silben-und Wortbedeutungen, Stöhnen, Weinen, Lallen abgetastet, vorabgeprüft und mit Gedächt- nisspuren im Langzeitspeicher verglichen werden (Treisman 1964:

12). Treismans Abschwächungsth~orie postulierte, dass eine auditive Aufmerksamkeit im Schlaf bzw. zum Zeitpunkt des Anwachsens von akustischen Inputreizen (Lärm) nicht ausgeschaltet, sondern nur ab- geschwächt wird. So ist es möglich, dass eine schlafende Mutter, die , uf den lauten Straßenverkehr oder ihren schnarchenden Mann nicht reagiert, gleich aufwacht, wenn ihr Kind zu weinen beginnt. Dank der automatischen Aufmerksamkeitslenkung im Bereich des Hörens erweist sich der Mensch als fähig, aus einem Stimmenwirrwarr eine einzige Stimme herauszufiltern. Der Effekt, der von Colin Cherry als >>Cocktail- Party-Problem<< beschrieben wird, legt nahe, dass das Gehirn fähig ist, eine partielle Bedeutungsanalyse schon auf der Ebene der unbewussten Lautwahrnehmung durchzuführen (Wolff 1995: 120).

Mit Daten von empirischen Experimenten vermochte vor allem eine kulturvergleichend orientierte Akustikforschung zu belegen, dass Ver- treter von nichteuropäischen Kulturen aufgrund ihrer Hörkompetenz bestimmte Klangereignisse heute anders als die Europäer wahrnehmen und werten. Während die Deutschen mit dem Glockengeläute eine Kirche assoziieren, wird der Glockenklang von den Japanern eher als unangenehmes Warnzeichen für Bahnübergänge oder als Feueralarm wahrgenommen (Kuwano etal. 1995: 125).

II7

(8)

DMITRI ZAKHARINE

3. Akustische Kippbilder und der soziale Wandel

Im Licht von Giesens Konzeption von Zwischenlagen, in der das Au- ßerordentliche als Grund der sozialen Wirklichkeit aufgefasst wird, ist die Klanglandschaft als Inbegriff der Ambivalenz des sozialen Gesche- hens zu interpretieren. Von besonderem Interesse sind dabei die beob- achtbaren Umdeutungs- und Umwertungsprozesse, bei denen soziale, ideologische, religiöse, politische Zugehörigkeiten über entsprechende Klang-und Geräuschsymbole (Kirchenglocken, Turmuhren, Fabriksire- nen etc.) indiziert und gedeutet werden. Latente Erwartungen sozialer Akteure wurden seit eh und je in das Gehörte hineinprojiziert und von dort als missionarische Verkündungen zurückgeholt. Die Beziehung zwischen Hörwahrnehmung und Glaubensgemeinschaft ist, wie die folgende Analyse zeigt, über Jahrhunderte hinweg reziprok geblieben.

J.I Das Kippbild >Kirchenglocke<

Während die religiösen Gemeinschaften der Vormoderne ihre Gren- zen mithilfe von akustischen Signalen absicherten, bemächtigten sich akustische Gemeinschaften einer religiösen Interpretation von sozial re- levanten Hörereignissen. An der Reichweite von säkularen Glockensig- nalen, die Brand und Überschwemmung ankündigten, waren die Gren- zen frühmoderner Piarrbezirke orientiert. Und umgekehrt bestimmten konfessionelle Einteilungen die Grenzen des Hörbaren im säkularen Bereich. Kirchenglocken läuteten nicht nur zum werk-oder sonntägli- chen Kirchgang, sondern auch zu sonstigen Rechtsakten (Ratssitzung, Gericht, Ende des Markttages etc.) (Hense 1998: 34).

Im west-und insbesondere im ostchristlichen Kulturkontext standen kollektive akustische Appellsignale über Jahrhunderte hinweg in Refe- renzbeziehung zur menschlichen Stimme. Dementsprechend wurden sie animistisch (als Lebewesen) behandelt. Noch 173 7 ließ ein Intendant im Bourbonnais (laut dem Bericht von Lucien Febvre) die Glocken seiner Stadt abhängen und nach mittelalterlicher Sitte vom Henker auspeit- schen, weil diese Glocken gegen die königlichen Garden geläutet hatten.

Für ketzerische Botschaften wurden Kirchenglocken in Russland auf die Erde geworfen, danach ausgepeitscht und nach Sibirien verschleppt, nachdem man ihnen zuvor die Öse (russ. Ohr) abgehauen und den Klöppel (russ. Zunge) herausgerissen hatte (Bondarenko 1998: 499).

Seit ca. 1900 wurde der Gebrauch von Glocken Gegenstand allge- meiner Kritik und gerichtlicher Auseinandersetzungen. Der Umgang mit den ehemals sakralen Klangobjekten war zunehmend mit Unsi- cherheiten behaftet. Sich widersprechende soziale Bewertungskriterien wie Sozialadäquanz, Herkömmlichkeit oder Nützlichkeit prägen im

u8

(9)

- - - -- - - - -

KLANGBILDER - KIPPBILDER

20. Jh. Entscheidungen über die Zulässigkeit des Glockengeläuts. Im calvinistischen Bereich fallen heute öffentliche Polemiken über die Zumutbarkeit des Glockengeläuts erwartungsgemäß nachdrücklicher als im katholischen Bereich aus. Zirka 10% der Schweizer (mehr als 7ooooo Menschen) fühlen sich durch Kirchenglockenläuten gestört (Hense 1998: 26). Gleichzeitig deutet Einiges darauf hin, dass animisti-

sche D utungsmuster, die eine Analogieziehung zwischen Stimmen und

öffentlichen Klangmedien anheimstellten, im Prozess der Entzauberung von Kirchenglocken auf andere Objekte übertragen wurden.

Im Zuge der Realisierung einer staatlich verordneten Kampagne der Glockendemontage in der Sowjetunion um 1929 wurden Glocken von der sowjetischen Miliz (ähnlich wie im Mittelalter) auf die Erde gestürzt, nachdem ihnen zuvor der Klöppel entfernt wurde. Auf die Schändung von Glocken reagierten Gläubige, laut den Augenzeugenberichten, mit rituellem TrauergeheuL Im enervierenden Klang der Fabriksirene hat man jedoch einen Ersatz für das metallische Läuten der Kirchenglocke gefunden. Von Fabriksirenen als »kommunistischen Glocken<< sprach zuerst 1923 der professionelle Musiker Michail Gnesin, ein Absolvent des Petersburger Konservatoriums in der Klasse für Komposition (1914). Ein anderer Vertreter der jüdischen Musikavantgarde, Arsenij Avraamov, komponierte 1923 eine ganze Symphonie mit Fabriksirenen.

An zwei groß angelegten Plein-Air-Aktionen, in Baku (Aserbaidschan) und in Moskau, waren Rohre aller Stadtfabriken, die Nebelhörner der gesamten Kaspischen Flotte und zwei Artilleriedivisionen beteiligt.

i) Vor dem Hintergrund der Entzauberung von christlichen Klangme- dien haben elektroakustische Medien, insbesondere das Radio und der frühe Tonfilm, zunehmend eine sinnstiftende und quasi religiöse Bedeu- tung gewonnen. Es verwundert nicht, dass die Verabschiedung des so- wjetischen Dekrets über Kirchenverbände (1929), die Verfassung einer geheimen Resolution ,, Über die Regulierung des Glockenläutens<< vom 6. Dezember 1929 und die ersten sowjetischen Versuche im Bereich des Tonfilms (1929) zeitlich zusammenfielen. Beschlüsse der Werktätigen über das Verbot des Glockenläutens wurden nicht selten direkt in den Kinohäusern im Anschluss an die Demonstration antireligiöser Propa- gandafilme gefasst.

3.2 Das Kippbild >Hammerklavier<

Es liegt die Annahme nahe, dass Image-Variablen, die den sozialen Status der Geräuschquelle betreffen, im Verlauf der kollektiven Lern- prozesse mutierten. Während der industriellen Revolution sei der Pro- duktion das Recht zuerkannt worden, mit Hilfe der Dampfmaschine und des Hochofens Lärm zu machen, >>genauso wie vorher die Mönche dazu ermächtigt waren, Lärm mit der Kirchenglocke zu veranstalten<<.

119

(10)

DMITRI ZAKHARINE

Die Industrie setzte akustische Marken, die Macht, Kraft und Potenz ausstrahlten. In Termini des klanglichen Kippbildes erklärt R. M. Scha- fer die rätselhafte Tatsache, dass Proteste gegen die immense Lärmbe- lastung in den Fabriken vor der zweiten Hälfte des 19. Jh. fast nicht bekannt sind (Schafer 1977: 77).

Der Grund für die Vernachlässigung der Lärmforschung in der Zeit Cler Industrialisierung liegt in der Art, wie Klanglandschaften und ins- besondere industrialisierte Klanglandschaften ästhetisch reflektiert und sozial konstruiert wurden. Ins Visier rückt in diesem Zusammenhang insbesondere die bildungsbürgerliche Kultur der Symphonieorchester.

Gemäß einer Beobachtung von Max Weber, entwickelte es sich weg vom Handwerkerunternehmen hin zu einer Fabrik, in der eine fabrikty- pische Arbeitsteilung üblich geworden ist. Mitte des 19. Jh. haben sich die Söhne derjenigen, die am Anfang des 19. Jh. als selbst mitarbeiten-

d~ und erprobende Kunsthandwerker praktiziert hatten, ihren Weg zu Großindustriellen im Klavierherstellungsbereich eingeschlagen. Zuerst in England (Broadwood), dann aber in Amerika (wo der Sohn des Or- gelspielers und Klavierbauers aus Harz, Heinrich Engelhard Steinweg, die Klavierfabrik Steinway gegründet hat) bemächtigte sich die maschi- nelle Großproduktion des Klavierbaus (Weber 1972: 76).

Vor dem Hintergrund der Industrialisierung des Musikgewerbes stieg der summarische Schallpegel von Musikveranstaltungen. Während ein Orchester des r8. Jh. in der Regel mit 20 Teilnehmern auftrat, wurde die Musikeranzahl im Orchester des 19. Jh. auf ungefähr 8 5 Musiker erhöht. Das Wachstum der Besetz4ng ermöglichte die Aufführung monumentaler Messen von Berlioz und der Opern von Wagner, die in puncto Schallintensität und Dauer keine Analoga in der bisherigen Musikkunst kannten. Für seine Grande Messe des Morts (r837), die im Auftrag des französischen Staates in Andenken der Opfer der Julirevo- lution (r83o) geschrieben wurde, hat Hector Berlioz r8o Instrumente vorgesehen, hinzu kam ein Chor mit So Sopran-und Altstimmen, 6o Tenören und 70 Bässen- alles in allem mehr als 400 Musiker und Sän- ge.r. Geht man davon aus, dass der mittlere Schallpegel bei den Strei- chern nach heutigen Messungen um 90 dB, bei den Holzbläsern um 93 dB, bei den Blechbläsern um ro2 dB liegt und dass der Schalldruck- pegel eines mittelgroßen symphonischen Drehesters im Forte r ro dB, im Fortissimo hingegen r2o dB erreicht (Holstein 20o8: 43), so kann man sich vorstellen, dass die Lautstärke, mit der Berlioz das Publikum seiner Zeit sinnlich überwältigen wollte, an mehreren Stellen weit über der Schmerzgrenze lag und den in den zeitgenössischen Discotheken erlaubten Schallpegel weitgehend übertraf.

Die Produktionsverfahren der wichtigsten Instrumente des Sympho- nieorchesters wurden geändert, was die summarische Lautstärke der Konzertaufführungen drastisch in die Höhe trieb. Bei den Streichern

I20

(11)

KLANGBILDER - KIPPBILDER

wurden Saiten aus Schafs- und Rinderdarm zunehmend durch Me- tallsaiten ersetzt. Bei den Bläsern sorgten Ventil- und Klappensysteme für die Erhöhung des Klangvolumens. Die revolutionären Änderungen betrafen vor allem den Flügelbereich, in dem das Hammerklavier, de- ren Saiten angeschlagen wurden, das Zupfinstrument Cembalo nach und nach verdrängte (Batel 1987: 209). Mit den neuen Regeln des Instrumentenbaus etablierte sich eine neue akustische Kultur, die alle modischen >>Schwingungsexperimente eines Helmholtz<< zu nutzen wusste und bei der Entfaltung von eigenen Verkaufs- und Werbungs- strategien voll auf das Fortissimo setzte (Hildebrandt 1988: 288). Das Hammerklavier erfüllte die F~nktion eines Scharniers, indem es die Laute der Industrie ästhetisch aufarbeitete. Mithin wurde der Triumph der industriellen Klangproduktion unaufdringlich ins Bewusstsein der hörenden Öffentlichkeit gehoben. Die Fabrik und das Orchester unter- lagen einem Organisationsprinzip, das die Figurationsprinzipien von Industriewarendesigns und Sounddesigns ebenfalls prägte.

3·3 Das Kippbild >Jazzband<

Spätestens mit dem Aufkommen des Jazz in den 192oer Jahren verlegte sich der Bedeutungsakzent auf .M_usik, in der die Bläser mit Absicht Töne leicht verstimmt spielten. Bei dieser Art von musikalischen Ge- genrepräsentationen war es erlaubt, Töne im gutturalen Glissandi zu- sammenzuschmieren, in die Klarinette zu spucken oder zu knurren und

; inen Toilettenpümpel vor seine Posaune zu halten. Man setzte dabei nicht auf die Interaktion, wie sie bei vormodernen Vaganten zum Aus- druck kam, und auch nicht auf die Organisation, wie sie in der Orches- terfabrik des späten 19. Jh. manifest wurde. Vielmehr ging es darum, die beiden Kommunikationsebenen gegeneinander auszuspielen. Die Anziehungskraft des Jazz bestand einerseits in ostentativer Demonst- ration von heterogenen, individualistisch anmutenden Spieltechniken und andererseits in der feinen Indifferenz dem gepflegten Scharm einer bürgerlich-adeligen musikalischen Etikette gegenüber. Was dabei zur akustischen Schau gestellt wurde, war die Gesellschaft des Sounds, die sich aus einzelnen melodisch getrennten Teilen zusammenfügte bzw.

nur auf der Ebene des pulsierenden Swing-Rhythmus den Eindruck der Einheitlichkeit und Integration nach außen produzierte.

Die Improvisation, der Kontrapunkt und insbesondere der Swing- Rhythmus bildeten eine akustische Grundlage des Projekts Jazzband, das auf die Inszenierung sozialer Mehrstimmigkeit abzielte. Die Impro- visation schuf Unordnung in der Ordnung und demonstrierte die Kunst, mit Gesetzmäßigkeiteil der Melodie und Harmonie kreativ umzugehen.

Die Synkope, welche die Bindung eines unbetonten an den folgenden betonten Zeitwert eines Taktes bewirkte, implizierte Störungen in der

121

(12)

DMITRI ZAKHARINE

zeitlich-linearen Programmierung der etablierten kulturellen Matrix, die spätestens seit der Frühen Neuzeit durch die Unterscheidung zwischen Vorher und Nachher, zwischen Vergangenheit und Zukunft zustande kam (Simmel 1918: 8). Die Vorstellung von Gegenwart als reguläre Mitte, als Umschlagspunkt von Vergangenheit in die Zukunft, wurde im synkopierten Rhythmus einer Dekonstruktion unterzogen. Im Jazz manifestierte sich eine Gesellschaftsstruktur, die nicht in Teile zerfiel, obwohl jeder Akteur auf der Bühne seine >>eigene Musik<< machte.

In den Propaganda-Diskursen des frühen Radiozeitalters kam die Ge- genüberstellung von modernen Typen der Gemeinschaftsbildung in der symbolischen Umsetzung auf die >Symphonieorchester vs. Jazz<-Kontro-

~erse zum Ausdruck. Sowohl in der UdSSR als auch in Nazideutschland hat die politische Führung die Zerstörung von melodischen Grundlagen der Musik und die Verlegung des Akzents auf den synkopierten Rhyth- n;ius als Krise der Gemeinschaftlichkeit angeprangert (Starr 1990: 148 ).

Für den deutschen Reichsrundfunk war das Jazzverbot von 193 5 >>das umfassendste der im Dritten Reich existenten Verbote<< (Lücke 2003:

194). In der Sowjetunion ging der Start des staatlichen Radiofizierungs- programms (1929) mit der massiven Anti-Jazz-Kampagne einher. Ma- xim Gorkijs polemischer Aufsatz Über die Musik der Dicken (1928), in dem Jazz den sexuellen Perversionen der bourgeoisen Welt gleichkam, galt als Startschuss dieser Kampagne.

3 ·4 Das Kippbilq >Walkman<

Der Fortschritt der Lautsprechertechnik Ende der 1930-4oer Jahre war die Folie für neue soziale Absprachen, die das Eindringen von Mikro- phonen in die öffentlichen Räume und die Anwendung von Lautver- stärkern in den Arbeits- und Freizeitbereichen ermöglichten. In der Nachkriegszeit hat die Transistortechnik aufgrund einer erheblichen Gewichtsreduktion des Abspielgeräts eine größere Mobilität von Hö- renden ermöglicht. Der Drang nach Mobilität erleichterte die Umset- zung der neuen Transistortechnologie, mit welcher der amerikanische Elektronik-Riese Texas Instruments und der japanische Sony-Konzern um r 9 55 in die Exportoffensive gingen. D'as Aufkommen des tragbaren Radios führte zur Umverteilung von Machtpositionen in akustischen Räumen und umgekehrt: Die Umverteilung von Machtpositionen in akustischen Räumen erleichterte die Umsetzung von technischen Inno- vationen im Radiobereich. Das tragbare Radio unterminierte die Macht von unbeweglichen Volksempfängern, die wenige Jahre zuvor von der Firma Seibt im Auftrag von Joseph Goebbels entwickelt worden waren.

Es schwächte mithin die technische Machtbasis der älteren Generation des Nazizeitalters. Und umgekehrt trug die jüngere Hörergeneration,

122

(13)

KLANGBILDER - KIPPBILDER

die sich von der Generation der hören-lassenden Eltern abkoppelte, zum Aufkommen des neuen Radios bei (Weber 2007= 13 6).

Ähnlich wie bisher das Aufkommen von unbeweglichen Lautempfän- gern hat das Vorrücken des tragbaren Radios Folgen gezeitigt, die von der akustischen Gemeinschaft ambivalent bewertet wurden und zwar einerseits als Abbau, andererseits als Ausdehnung der Hörgewalt. Die Jugendkultur, die das tragbare Radio zu ihrer Waffe machte, gestaltete ihre eigene Machtpolitik aufgrund der Anwendung von elektroakusti- schen Effekten. Während bewegliche Abspielgeräte in den frühen Lärm- bekämpfungsverordnungen

u m

1970 kaum noch als Störungsquellen beachtet wurden, sind sie in den 198oer Jahren zunehmend ins Visier des Rechts genommen worden (Schick 1979: 224). In den gesellschafts- kritischen Ansätzen der Soziologie wurden sie als Ursachen der »Reizü- berflutung<<, >>alltäglichen Manipulation<< und »Vertreibung der Stille<<

reflektiert (Liedke 198 5: 41). Seit den 199oer Jahren wurden mobile Ra- dio-und Abspielgeräte mit zunehmender Häufigkeit in den gesetzlichen Lärmbekämpfungsvorschriften als Störungsquellen behandelt. Eine holistische Herangehensweise zum Problem von Schallimmissionen, die seit der Verabschiedung der Umgebungslärmrichtlinie (2002) der EU im vereinten Europa Fuß gefasst hat, fand im 21. Jahrhundert unter dem Titel Lärmminderungsplanung ( 200 5) Eingang ins herkömmliche Bundes-Immissionsschutzgesetz (Scheidler 2006: 216). Der Versuch des Einzelnen, ein Appellsignal, eine ästhetische Botschaft oder eine Infor- mationsnachricht über den akustischen Kanal zu versenden, erweckte

·I eitdem bei der Gemeinschaft leicht den Verdacht der versuchten Hör- gewaltausübung (Baer 2005: I I 5 ). Die sich mehrenden Lärmbekämp- fungsverordnungen zielten darauf ab, die Gefahr der Hörerschütterung, die an jeder Ecke lauern soll, möglichst schnell zu vermeiden (Bosshard 2005: 69).

Um der akustischen Gewalt, die von stationären und tragbaren Ab- spielgeräten ausgeübt wird, zu widerstehen, bedurfte auch der Hörer eines mobilen Mediums, das eine Möglichkeit der Wahl zwischen Kopräsenz und Abwesenheit im akustischen Raum gewähren würde.

Der Walkman, den die Sony-Corporation im Jahr 1979 auf den Markt brachte und sukzessiv mit einer steigenden Zahl von Funktionen, wie Radioempfang, Kassetten- und Compactdiscabspielen sowie Kopfhö- rerausgang ausstattete, ermöglichte jedem Einzelnen die Herstellung eines eigenen akustischen Raums, der vom öffentlichen Hörraum abge- koppelt war. Die gesamtgesellschaftliche Deutung des Walkmans wurde ähnlich wie im Fall des tragbaren Radios durch dichotome Sichtweisen geprägt. Beide Sichtweisen betrafen neben anderen Aspekten die ethi- sche Kontroverse zwischen Individualitätsdrang und Gemeinschafts- sinn, die im Kontext verschiedener Religionssysteme seit eh und je unterschiedlich gelöst wurde.

123

(14)

DMITRI ZAKHARINE

Die erste Sichtweise setzte den Walkman in Bezug zur Idee der Befrei- ung, die das hörende Individuum durch die Kontrolle über die hörbare Welt erlangt. Mithin ließ sich beispielsweise ein Zusammenhang zwi- schen kultureller Semantik des Walkmans als Trennungsmedium und den Vorstellungen der buddhistischen Ethik japanischer Provenienz (consciousness tech) erkennen. Denn auch die buddhistische Ethik pos- tuliert die Möglichkeit einer individuellen Befreiung aus eigener Kraft, darüber hinaus einer solchen Befreiung, die nicht in der Weltflucht, son- dern in der Kontrolle über die Wahrnehmung und einer ausgewogenen Belegung von Sinneskanälen begründet liegt (Hooperfreresi 1990: 14).

Aus der anderen Sicht, die im Bereich der europäischen Medienpäd- agogik am stärksten ausgeprägt ist, wurde das Aufkommen des Walk-

~ans im kulturpessimistischen Sinn als »Ende der Aufklärung<< (Voll- brecht 1989: 101) bzw. als Krise der christlichen Gemeinschaftsidee gedeutet. Das Medium zerbreche, so eine Feuilletonrezeption in der Zeit (1988) >>das Gefäß des Gemeinwesens<< (Anonym: 1988). Daraus folgt, dass >>das Menschenbedürfnis nach Aufklärung, ja nach Gesellschaft<<

sich, >>historisch gesehen, auf dem Markt nicht durchsetzen<< konnte.

>>Denn nun haben die Menschen den Nasenring der Dummheit nur eingetauscht gegen- einen Walkman<< (ebd.). Die Entstehung des neuenj Menschentypus Homo walkman, einer >>in sich verliebten wahrneh- mungslosen Monade<<, sei die Folge des Siegeszugs des Walkmans auf der öffentlichen Bühne (Flößner 1981: 1; Schönhammer 1988: 181).

Wie es mit ethischen Angelegenheiten oft passiert, tendieren pädago- gische Bewertungen mit der Zeit dazu, sich in medizinische Diagnosen zu verwandeln. Das Problem des Walkman-Hörens wird dement- sprechend seit Ende der 199oer Jahre weniger unter dem Aspekt der Gemeinschaftswerte betrachtet, vielmehr rückt es in den Verantwor- tungsbereich der Medizin. Gemäß dem Votum der medikalisierten Ge- sellschaftskritik würden >>dumme Junge (mit dem Walkman) leichtfertig ihr Gehör ruinieren<< (Strassmann 2010: 2). Gemäß den Rechercheer- gebnissen der schweizerischen SUVA-Unfallversicherungsanstalt würde jedoch nur jeder zwölfte Jugendliche einen Musikschallpegel von mehr als 9 5 dB bevorzugen. Drei Fünftel der untersuchten jungen Leute stel- len >>eine unkritische Lautstärke unter

8

5 dB<< an ihren Walkman-Ge- räten ein (Mercier etal. 1998: 21). Geht man von diesen Daten aus, so stellt sich heraus, dass der individuelle Musikkonsum einen geringeren Gehörschaden als der kollektive Musikkonsum (etwa in der Discothek) verursacht.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Unbeständigkeit der Klangbilder sich aus dem Zusammenspiel von physiologischen, psycho- logischen und sozialen Wahrnehmungsmodalitäten ergibt. Einerseits ist es der jeweilige kulturelle und soziale Kontext, der sich langfristig in die Bedeutungskonstitution eines Klangobjekts einschreibt. Andererseits

124

(15)

KLANGBILDER - KIPPBILDER

sind Wahrnehmungsstrukturen durchaus fähig, aus der Kontrolle der Normen und Symbole auszuscheren und neue revolutionäre Bedeutun- gen in gesellschaftliche Strukturen einzuschreiben. In der Regel ist es die jüngere Generation, die die Bekämpfung der etablierten Medienord- nung anstrebt. Bei der Deutung von unterbestimmten Hörereignissen sind akustische Gemeinschaften auf Expertennetzwerke angewiesen.

Diese liefern Informationen darüber, welche Bedeutungszuschreibung im gegebenen Fall angemessen ist und gemeinsam vollzogen werden soll.

Literatur

Anonym (1988): >>Das Gefäß des Gemeinwesens«, in: Die Zeit. Feuilleton vom 18.03.1988.

Baer, Susanne (2005): >>Lauschangriffe. Akustische Kontrolle, Gewalt und Recht«, in: Gess, Nicola; Schreiner, Florian; Schutz, Manuela (Hg.):

Hörsturze, Akustik und Gewalt im 20. Jh., Würzburg: Kögnishausen,

s.

113-131.

Bataille, Georges (1928): Histoire de l'oeil, Paris: Gallimard.

Batel, Günther (1987): >>Daten zur Geschichte der Tasteninstrumente«, in:

Moeck, Hermann (Hg.): Fünf Jahrhunderte deutscher Musikinstrumen- tenbau, Celle: Möck, S. 209-218.

Bondarenko, Anna (1998): Moskovslüe kolokola XVII veka. Moskva:

Nauka.

~ osshard, Andres (2005): Hörstürze und Klangflüge. Akustische Gewalt in urbanen Räumen, in: Gess, Nicola; Schreiner, Florian; Schutz, Manuela (Hg.): Hörsturze, Akustik und Gewalt im 20. Jh., Würzburg: Kögnishau- sen, S. 68-86.

Certeau, Michel (1990): L'invention du quotidien, Paris: Gallimard.

Flößner, Wolfram (1981): »Homo Walkman«, in: Schulpraxis (r98r), S. 1-

5 I

Giesen, Bernhard (2012): Zwischenlagen. Das Außerordentliche als Grund der sozialen Wirklichkeit, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.

Guski, Rainer (1987): Lärm. Wirkungen unerwünschter Geräusche, Bern:

Huber.

Hense, Ansgar (1998): Glockenläuten und Uhrenschlag. Der Gebrauch von Kirchenglocken in der l~irchlichen und staatlichen Rechtsordnung.

Staatskirchenrechtliche Abhandlungen. Band 32, Berlin: Duncker &

Humblot.

Hildebrandt, Dieter (1985): Pianoforte. Oder der Roman des Klaviers im 19. Jahrhundert, München: Carl Hanser Verlag.

Holstein, Julia (20o8): Hörprobleme bei Musikern, Heidelberg: Inaugural- Dissertation.

125

(16)

DMITRI ZAKHARINE

Hoopet~ Judith; Teresi, Dick (1990): Would the Buddha wear a walkman?

A catalogue of revolutionary tools for higher consciousness, New York:

Simon and Schuster.

Klapuri, Anssi etal. (20or): >>Recognition of Everyday Audit01·y Scenes:

Potentials Lareneies and Cues«, in: Audio Engineering Society, Amster- .' dam.

Koschorke, Albrecht (2010): >>Ein neues Paradigma der Kulturwissenschaf- ten<<, in: Esslinger, Eva etal. (Hg.): Die Figur des Dritten. Ein kulturwis- senschaftliches Paradigma, Berlin: Suhrkamp, S. 9-3 I.

Kotterba, Benno (1983): Eine Methode zur Merkmalsfindung für die Klas- sifikation von Geräuschen, Berlin: Technische Universität.

Kuwano, Sonoko; Namba, Seiichiro; Fast!, Hugo; Schick, August (1995):

>>Evaluation of the Impression of Danger Signals<<, in: Schick, August;

Klatte, Maria (Hg.): Contributions to Psychological Acoustics, Olden- ' burg,S.II5-128.

Liedtke, Rüdiger ( 198 5 ): Die Vertreibung der Stille. Leben mit der akusti- schen Umweltverschmutzung, München: Schönberger.

Lücke, Martin (2003): Jazz im Totalitarismus. Eine komparative Analyse des politisch motivierten Umgangs mit dem Jazz während der Zeit des Nationalsozialismus und des Stalinismus, Münster: LIT Verlag.

Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen~

Theorie, Frankfurt am Main: Suhrkamp. ·

Mattenklott, Gert (1984): >>Das gefräßige Auge«, in: Kamper, Dieter; Wulf, Christoph (Hg.): Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt am Main: Fi- scher, 5. 224-240.

McAdams, Stephen (1993): >>Recognition of Auditory Sound Sources and Events«, in: McAdams, Stephen; Bigand, Emmanuel (Hg.): Thinking in Sound: The Cognitive Psychology of Human Audition, Oxford: Oxford University Press, s.l46-I98.

McLuhan, Marshall (1964): Die magischen Kanäle (orig. Understanding Media), Dresden: Verlag der Kunst.

Osgood, Charles etal. (I975): Crosscultural universals of affective mean- ing, Urbana: University of Illinois Press.

Repp, Bruno (I987): >>The sound of two hands clapping«, in: Journal of the Acoustical Society of America, vol. 8 I, 5. I IOO-I I09.

Schaeffer, Pierre (1966): Traite des objets musicaux, Paris: Editions du

Seuil. ~·

Schafer, Raymond Murray (1977): Soundscape. The Tuning of the World, New York: Destiny Books Rochester.

Scheidler, Alfred (2005): >>Die Neuregelungen im Bundes-Immissionsschutz zur Lärmminderungsplanung«, in: Umwelt- und Planungsrecht 25 (9), 5. 334-337·

Schick, August ( r 979 ): Schallwirkung aus psychologischer Sicht, Stuttgart:

Klett Cotta.

!26

(17)

KLANGBILDER-KIPPBILDER

Schneider-Düker, Mariatme (1974): Die affektive Bewertung sinnvoller akustischer Reize im Wachzustand und ihr Einfluss auf das Schlafverhal- ten, Saarbrücken: Universitätsverlag.

Schönhammer, Rainer (1988): Der Walkman. Eine phänomenologische Untersuchung, München: Kirchheim.

Simmel, Georg (1918): Lebensanschauung. Vier metaphysische Kapitel, München: Duncker & Humblot.

Starr, Frederick (1990): Red and hat. Jazz in Russland von I9I7-I99D, Wien: Hannibal Verlag.

Strassmann, Burkhard (2010): >>Durch Mark und Bein«, in: Die Zeit. Feuil-

leton vom 24.0!.2010. \\

Treisman, Anna (1964): >>Selective attention in man«, in: British Medical Bulletin 20, S. 12-16.

Vollbrecht, Ralf (1989): >>Der Walkman und das >Ende der Aufklärung<«, in: Gottwald, Eckard (Hg.): Alte Gesellschaft-Neue Medien, Opladen:

Leske & Budrich, S. 101-r 10.

Weber, Heike (2007): >>Vom Ausflug-zum Alltagsbegleiter: tragbare Radios und mobiles Radiohören 1950-1970<<, in: Röser, Jutta (Hg.): Medien- alltag. Domestizierungsprozesse alter und neuer Medien, Wiesbaden:

VS-Verlag, S. 129-139.

Weber, Max (1972): Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik, Tübingen: Mohr.

Welsch, Wolfgang (1993): >>Auf dem Weg zu einer Kultur des Hörens<<, in:

Langenmaier, Brigitte (Hg.): Der Klang der Dinge: Akustik- eine Aufga- be des Design, München: Schreiber, S. 29-46.

olff, Harald ( 199 5 ): Geräusche und Film. Materialbezogene und dar- stellerische Aspekte eines Gestaltungsmittels, Frankfurt am Main: Peter Lang.

127

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Der Deutsche Verein hält eine Sicherung des infolge der Modellprogramme des BMFSFJ entstandenen Formats der Freiwilligendienste aller Generationen (FDaG) für

Zu diesem Kriterium gibt es relativ wenig Judikatur, es sei aber die Rechtsprechung 51 zitiert, wonach keine Rede da- von sei kann, dass die konsequente Überlassung der ei-

Als zentrales Ergebnis zeigt sich, dass sich die Strukturen eines DOUBLE BIND IN DENTISTRY als Ursache des Misserfolgs in einer Mehrzahl der in dieser Studie ausgewerteten

Commenting on the decision of the Federal Network Agency to suspend the certification process for Nord Stream 2, the Chairman of the German Eastern Business Association,

Einzelfallbezogene Hilfen, Mobile Arbeit mit Gruppen, Offene Jugendarbeit oder auch Schulsozialarbeit als klassische Felder der Sozialen Arbeit mit Jugendlichen können, wie

Wir haben bei der Botschaft in Ghana versucht, eine Einreise- genehmigung für mich nach Deutschland zu erhalten, aber keine bekommen.. Thomas ist dann allein nach

Und so kommt Gott in Jesus mitten hinein in dieses brüchige Leben und schlägt sein Zelt für eine Zeit unter diesen Menschen für eine Weile auf.. Spannt es weit über

All dies bedeu- tet mehr Einfalt, eine Einfalt, die sich auch in der Selbstkanniba- lisierung der Branche zeigte, die durch Gratisangebote auch noch das Preisbewusstsein