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17. Juni 2017: "Schöne Aussichten"

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Wilhelm Krull 1

Schöne Aussichten?!

Rede anlässlich der Graduiertenfeier an der Universität Lüneburg am 17. Juni 2017

Lieber Herr Präsident Spoun, verehrte Präsidiumsmitglieder,

liebe Absolventinnen und Absolventen, meine sehr verehrten Damen und Herren!

I. Einführende Bemerkungen

Eine Graduiertenfeier am 17. Juni erscheint – historisch betrachtet – vielleicht manchem von Ihnen geradezu paradox. Heute feiern Sie Ihren Erfolg. Sie haben die erforderlichen Prüfun- gen mit Bravour gemeistert. Dazu gratuliere ich Ihnen allen sehr herzlich! Allerdings war der – mittlerweile schon mehr als sechzig Jahre zurückliegende – 17. Juni 1953 leider kein er- freulicher Tag in der deutsch-deutschen Geschichte – im Gegenteil! An diesem Tag wurde der Volksaufstand in der ehemaligen DDR von der Sowjetarmee brutal niedergeschlagen.

Dieser Aufstand, der sein Ziel seinerzeit nicht erreicht hat, war aber – langfristig betrachtet – doch ein besonderes politisches Signal, das den Weg zur deutschen Einheit – zumindest indirekt – vorbereitet hat. Bis 1990 war der 17. Juni in Westdeutschland nationaler Gedenk- tag und als solcher zumeist mit der vagen Hoffnung verbunden, dass die Wiedervereinigung irgendwann gelingen könnte. Mutig waren die Menschen damals, sich gegen die kommunis- tische Diktatur zu stellen. Sie haben etwas riskiert und zumindest den Anstoß für eine Ver- änderung gegeben, die erst Jahre später Wirklichkeit geworden ist: den Fall der Berliner Mauer im November 1989 und die Wiedervereinigung im Oktober 1990.

Die Welt, in der wir leben, die für Leibniz vor gut 300 Jahren noch die beste aller möglichen Welten war, ist auch heute – nicht weniger als 1953 – außerordentlich verletzlich. Allenthal- ben können wir beobachten, wie schnell sie in Gewalt, Krieg und Unterdrückung kippen kann. Mit der Ukraine-Krise ist der längst überwunden geglaubte Ost-West-Konflikt wieder aufgeflammt. Mit der Finanzmarkt- und Schuldenkrise geraten unsere Wohlfahrtsstaaten ins Wanken. Die europäische Integration hat nicht zuletzt durch den „Brexit“ herbe Rückschläge

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erleiden müssen. Und mit dem neuen U.S.-Präsidenten Donald Trump steht das über Jahre 2 mühevoll errungene Pariser Klimaabkommen plötzlich wieder infrage. Viel steht auf dem Spiel. Unsicherheit und Ungewissheit an allen Ecken und Enden.

Wie oft schwanken wir selbst zwischen euphorischer Zuversicht und großer Begeisterung einerseits sowie Zukunftsängsten bis hin zum Erstarren vor lauter Schreckensszenarien an- dererseits. Jetzt haben Sie, liebe Absolventinnen und Absolventen, Ihr Studium beendet und vielleicht ist sich manche oder mancher von Ihnen ja auch nicht ganz sicher, wie es weiter- gehen soll mit dem Leben nach der Universität. Dennoch: Ein gewisses Maß an Entschluss- kraft und Entschlossenheit bildet die Voraussetzung für wahres Glück. Und vielleicht ist der 17. Juni, der übrigens heute Nachmittag in vielen deutschen Großstädten mit diskussions- und gastfreundlichen Tischen der Initiative für die offene Gesellschaft neu „erfunden“ werden soll, doch ein passendes Datum für Ihre Graduiertenfeier, die mir zugleich Anlass gibt, etwas näher über Mut, Entschlusskraft und Entschlossenheit beim Übertritt von der einen Lebens- phase in die nächste oder auch bei verschiedenen Formen der Grenzüberschreitung nach- zudenken.

Grenzen nehmen wir nur allzu oft als das Ende von etwas wahr; nur selten gelingt es uns, Grenzbereiche als Durchgangsräume, als Beginn von etwas anderem, vielleicht sogar etwas Neuem zu begreifen. Eine Grenze zu überschreiten ist oftmals mit Ängsten und Unsicherhei- ten verbunden. Was kommt auf der anderen Seite der Grenze, im unvertrauten Territorium, auf uns zu? Wenn wir an ein Tor kommen und auf einen Wächter treffen, wie verhalten wir uns dann?

Kein Schriftsteller hat diese, mitunter durchaus existenzielle Situation prägnanter auf den Punkt gebracht als Franz Kafka in seinem kurzen Text mit der Überschrift „Vor dem Gesetz“.

Die meisten von Ihnen – besonders die Kulturwissenschaftlerinnen und Juristen – werden die Geschichte kennen. Es geht um einen „Mann vom Lande“, der um Eintritt in das Gesetz bittet. Doch davor steht ein Türhüter, der ihm einerseits zubilligt, eintreten zu können, ihm andererseits jedoch vor Augen führt, dass dies mit weiteren Herausforderungen und noch mächtigeren Türhütern verknüpft sein dürfte. Der Mann wartet schließlich Jahr um Jahr, er ergraut, und sitzt auf seinem Schemel, bis schließlich sein Augenlicht schwach wird und er nicht mehr weiß, „ob es um ihn wirklich dunkler wird, oder ob ihn nur seine Augen täuschen“.

Als er schließlich den Tod herannahen fühlt, rafft er sich auf und bittet den Türhüter um die Antwort auf eine letzte Frage: „‚Alle streben doch nach dem Gesetz‘, sagt der Mann, ‚wieso kommt es, dass in den vielen Jahren niemand außer mir Einlass verlangt hat?‘ Der Türhüter erkennt, dass der Mann schon an seinem Ende ist, und, um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen, brüllt er: ‚Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für Dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn.‘“

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Kafkas Parabel bietet vielfältige Möglichkeiten der Interpretation. Für heute mag es genügen, 3 auf das Spannungsfeld von Entschlusskraft und Verunsicherung beim Übertritt in unbekann- tes Territorium zu verweisen. Auch wenn wir heutzutage mittels moderner Kommunikations- technologien in der Lage wären, manche der Behauptungen des Türwächters rasch zu verifi- zieren oder auch zu falsifizieren, so bleibt am Ende doch die Frage: Hätten wir den Mut, durch das erste Tor hindurchzugehen und gegebenenfalls durch weitere? Oder anders ge- fragt: Wie offen sind wir für den nächsten, radikal neuen Schritt, wenn es gilt, Entwicklungs- chancen auszuloten oder dringliche Probleme zu lösen, indem wir die Ungewissheiten und Unwägbarkeiten eines noch unerschlossenen Territoriums erkunden?

II. Digitalität gestalten

Liebe Absolventinnen und Absolventen, der rasante Umbruch durch digitale Technologien scheint uns eine Vision der allumfassenden Transparenz, der minutiösen Berechenbarkeit, der unbeschränkten Kontrolle und der computergesteuerten Sicherheit zu versprechen.

Selbstfahrende Autos sollen künftig den Faktor Mensch und sein zu Fehlern neigendes Ver- halten ersetzen und eine insgesamt ökologischere, bequemere und sicherere Mobilität er- möglichen. „Fürsorgliche“ Apps und Smartwatches übernehmen die Aufsicht über unseren Gesundheitszustand: sie zählen unsere Schritte, überwachen den Schlaf und entwickeln sich zu einer Art klinischem Labor an unserem Handgelenk: Pulsmessung, Blutfluss, Körperdaten jeder Art. Und dazu noch mehr oder weniger sanfte Hinweise, z. B. mit Blick auf das Tempo beim Joggen oder den perfekten Zeitpunkt, aufzuwachen und den Tag zu beginnen. Big Da- ta soll sogar Zukunftsprognosen ermöglichen, etwa über die künftige Ausbreitung einer Grip- pewelle oder in Bezug auf die Frage, in welcher Straße demnächst ein Einbruch stattfinden wird. Und schließlich verlässt man sich auch im militärischen Bereich immer mehr auf die neuen Möglichkeiten, die der digitale und technologische Fortschritt mit sich bringt: Drohnen können weltweit an nahezu jedem Ort eingesetzt werden und lassen sich von einem siche- ren Ort aus per Knopfdruck steuern. Aber können wir der Zukunft wirklich unbeschwerter entgegensehen?

Die Sache ist zumindest ambivalent: Autonome Systeme sind tatsächlich geeignet, uns das Leben zu erleichtern, indem sie beispielsweise schwierige oder gefährliche Aufgaben für uns erledigen. Auch digitale oder robotergestützte Assistenzsysteme bieten viele Vorteile, etwa in einer immer mehr auf Präzision angewiesenen Arbeitswelt oder gar zur Unterstützung kör- perlich belastender Tätigkeiten in der Pflege. Hier ergeben sich vielfältige Chancen für eine produktive Gestaltung der Zukunft. Man darf bei all dem jedoch nicht vergessen, dass solche

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Systeme weitaus mehr sind als bloße Assistenzsysteme. Manche von ihnen sind mit derart 4 empfindlichen Sensoren, vielschichtigen Vernetzungsmöglichkeiten und komplexen Algo- rithmen ausgestattet, die in kürzester Zeit auf riesige Datensätze zurückgreifen, sodass da- bei der Mensch und seine Fähigkeit, selbstbestimmt zu entscheiden und zu handeln, immer mehr in den Hintergrund rückt. Er fährt nicht mehr Auto, sondern wird gefahren. Die Smart- watch diktiert gesundheitsadäquates Verhalten. Korrelations- und indikatorenbasierte Algo- rithmen ersetzen die Polizeiarbeit. Und in der Kriegsführung übernehmen Maschinen Schritt für Schritt die Bekämpfung des Gegners. So zumindest könnte es laufen, wenn der Mensch als rational handelndes Wesen nicht mehr bereit ist, die Verantwortung für die Gestaltung seiner Zukunft zu übernehmen.

Gewiss, autonome technologische Assistenzsysteme und Big Data sind richtig eingesetzt tatsächlich geeignet, die Komplexität unserer Welt besser verständlich zu machen. Vielleicht ist es aber auch so, dass alle Modelle sowie die ihnen zugrundeliegenden Berechnungen und Technologien, mit denen wir die Zukunft beherrschbar machen wollen, die Welt in Wirk- lichkeit nur noch komplexer und unbegreiflicher erscheinen lassen. Wir dürfen daher nicht den Fehler machen, unsere Verantwortung, unsere Zukunftsvisionen und Handlungsper- spektiven endgültig an solche Technologien abzugeben. Der Mensch muss der Handelnde und Entscheidende vor wie hinter diesen Maschinen, Systemen und Algorithmen bleiben, damit sie im wahrsten Sinne des Wortes „Zukunftstechnologien“ sein können. Die Zukunft bleibt offen, daran werden auch digitale Technologien und ihre Sicherheitsversprechen nichts ändern. Die mit der offenen Zukunft verbundenen Ungewissheiten und Risiken müs- sen wir freilich selbst annehmen und meistern.

III. Risiken eingehen

Liebe Absolventinnen und Absolventen, der Wunsch nach Berechenbarkeit und Sicherheit ist nur allzu verständlich. Jedoch steckt hinter der Idee, alles und jedes minutiös berechnen zu können, womöglich eine Illusion. Ein Beispiel dafür, dass es uns bei Weitem nicht immer gelingt, Risiken zuverlässig zu berechnen, ist die sogenannte „Truthahn-Illusion“, die der Psychologe und Risikoforscher Gerd Gigerenzer in seinem Buch mit dem prägnanten Titel

„Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft“ beschreibt.1 Stellen Sie sich einen Trut- hahn vor, der gefangen und fortan auf einem amerikanischen Bauernhof gehalten wird. Der Bauer, der seinen Käfig betritt, macht dem verunsicherten Tier zunächst Angst. Doch der

1 Gigerenzer, Gerd (2013): Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft, München, C. Bertels- mann, S. 55 - 57.

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Bauer bringt jeden Tag, morgens, mittags und abends, wohlschmeckende Körner vorbei. Der 5 Truthahn betrachtet das zunächst skeptisch, wird sich von Tag zu Tag aber immer sicherer, dass ihm nichts Böses passieren wird, zumal die ihm angebotene Futtermenge stetig zu- nimmt. Schließlich wird die Anzahl der Tage, an denen ihm nichts passiert ist und der Bauer ihn bestens versorgt hat, immer größer. Wenn das so weitergeht, gibt das eine herrliche Aussicht für den Truthahn und sein wachsendes Wohlgefühl. Allenthalben sind solche Pro- jektionen von der positiv verlaufenen Vergangenheit in die Zukunft bei der Risikoberechnung besonders beliebt. Ausgerechnet am Tag vor Thanksgiving dürfte jedoch die Gewissheit des Truthahns, dass ihm schon nichts zustoßen wird, am größten sein. Aber genau dann wird er bekanntlich für das große Fest geschlachtet. Zur Ehrenrettung des Truthahns sollte ich viel- leicht noch ergänzen, dass diese „Truthahn-Illusion“ Gerd Gigerenzer zufolge bei Menschen deutlich häufiger vorkommt als bei Truthähnen.

Hätte der Truthahn jedoch hinterfragt, warum er jeden Tag mehr gefüttert wird, hätte er wo- möglich andere Schlüsse ziehen können. Vielleicht hätte er doch etwas hartnäckiger seine erste Intuition kurz nach der Gefangennahme verfolgen sollen – wenn nicht das gute und regelmäßige Essen, um das er sich nicht selbst hat kümmern müssen, so angenehm gewe- sen wäre. Es war also nur eine vermeintliche Sicherheit, die all diese Annehmlichkeiten be- fördert haben.

Klar ist: Wir können nicht alle Risiken berechnen und beherrschen. Wir können Risiken und Ungewissheiten nie ganz vermeiden, die Frage ist nur, wie wir richtig damit umgehen. Viel- leicht lässt sich dem sogar etwas Positives abgewinnen, wenn man Erich Fromm folgt: „Un- gewissheit ist gerade die Bedingung, die den Menschen zur Entfaltung seiner Kräfte

zwingt“.2 Es geht also darum, diese Kräfte richtig zu entfalten, ohne dabei zum Hazardeur zu werden.

Doch wo genau liegt die richtige Balance zwischen Vorsicht einerseits und wohl überlegtem Eingehen von Risiken andererseits? Der Philosoph Hans Jonas z. B. betrachtet die Lage äußerst skeptisch und wittert vor dem Hintergrund der Erfahrungen mit der Atomenergie – durchaus zu Recht – katastrophale oder gar apokalyptische Folgen hinter den einstigen Ver- heißungen der modernen Technik. Er plädiert in seinem Werk „Das Prinzip Verantwortung“

daher für den „Vorrang der schlechten vor der guten Prognose“3 und eine aus der Analyse von Risiken und Gefahren abgeleitete Verantwortungsethik: „Aus der Gefährdung geboren, dringt sie notwendig zuallererst auf eine Ethik der Erhaltung, der Bewahrung, der Verhütung

2 Zitiert nach Gigerenzer, S. 10.

3 Jonas, Hans (1984): Das Prinzip Verantwortung, stw-Ausgabe, Frankfurt am Main, S. 70.

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und nicht des Fortschritts und der Vervollkommnung.“4 Man solle daher, so Jonas, jedwedem 6

„Fortschritt mit Vorsicht“ begegnen.5

Aus meiner Sicht ist der von Hans Jonas vorgeschlagene Vorrang der schlechten vor der guten Prognose freilich eine viel zu rigide Grenze für unser gesellschaftliches Handeln. Ein solch strenges Vorsichtsprinzip kann wohl kaum ein geeigneter Nährboden sein für die origi- nelle und kreative Suche nach neuen Erkenntnissen, Lösungsvorschlägen und Innovationen, die wir so dringend brauchen, um die Herausforderungen, vor denen wir stehen, bewältigen zu können. Aber es wäre sicher auch keine geeignete Maxime für Ihr Leben, liebe Absolven- tinnen und Absolventen, dass Sie von nun an, den Studienabschluss in der Tasche, ganz selbst in der Hand haben. Angesichts der vielen Unwägbarkeiten und Herausforderungen, die Ihnen begegnen werden, sind Kreativität, die Fähigkeit zum Umdenken und der Mut, neue Wege zu beschreiten, sicherlich die entscheidenden Schlüsselqualifikationen. Vielleicht lässt sich in dieser Hinsicht ja von einem berühmten Künstler, dem niederländischen Maler Vincent van Gogh, etwas lernen, der gesagt hat: „Was wäre das Leben, hätten wir nicht den Mut, etwas zu riskieren?“

Doch neben Kreativität, Veränderungsbereitschaft und Mut ist sicherlich auch eine ganz nüchterne „Risikokompetenz“ erforderlich, wie nicht nur die Risikoforscher meinen. Dazu gehört neben klarem Analysieren und Interpretieren von Fakten und Statistiken, folgt man Gerd Gigerenzer, gelegentlich auch, sich auf sein gesundes Bauchgefühl und seine Intuition zu verlassen. Gigerenzers Kollege Ortwin Renn warnt darüber hinaus vor einem ganz be- sonders heimtückischen Risikotyp, nämlich den tendenziell unterbewerteten „systemischen Risiken“, wie z. B. dem Klimawandel. „Systemische Risiken“ wirken global. Sie sind eng ver- netzt und wirken sich auf unterschiedliche Lebens- und Wirtschaftsbereiche aus. Sie haben oft keine linearen, sondern chaotische Ursache-Wirkungs-Ketten. Und sie kommen schlei- chend daher; sie werden daher oft unterschätzt und erzeugen bei Verantwortlichen zunächst keinen direkten Handlungsdruck. Ortwin Renns Buch über Risiken trägt daher nicht zufällig den Untertitel „Warum wir uns vor dem Falschen fürchten.“6

4 Ebd., S. 249.

5 Ebd., S. 337.

6 Vgl. Renn, Ortwin (2014): Das Risikoparadox. Warum wir uns vor dem Falschen fürchten, Frankfurt am Main (Fischer).

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IV. Grenzen überschreiten 7

Liebe Absolventinnen und Absolventen, an der Leuphana sind Sie auf die Bewältigung von solchen Risiken und die Ungewissheiten, die Ihr künftiges Leben mit sich bringen wird, bes- tens vorbereitet worden. Sie haben – dem Leitbild der Leuphana folgend – mit ihrem Studium eine Menge an Überblicks-, Urteils- und Gestaltungskompetenz erworben. Sie haben gelernt, mit Komplexität umzugehen. Sie wissen, dass es mehrere Zugänge zu und Perspektiven auf ein Problem gibt, und können interdisziplinäre Lösungsstrategien entwickeln. Sie haben ge- zeigt, dass Sie in der Lage sind, eigenverantwortlich und selbst gesteuert zu lernen. Und Sie wissen, welche Auswirkungen Ihr Handeln auf die Gesellschaft hat. Sie sind darüber hinaus bereit, Verantwortung zu übernehmen. Wenn Sie dies alles auch künftig richtig anwenden, werden Sie sicher nicht in die Falle der „systemischen Risiken“ tappen oder bereits vor der Tür des Gesetzes kapitulieren. Und wenn Sie in Statistik gut aufgepasst haben, ergeht es Ihnen auch nicht wie dem armen Truthahn. Zumindest wünsche ich Ihnen das von Herzen.

Dies alles haben Sie lernen können, weil Sie – anders als der „Mann vom Lande“ aus Kafkas Erzählung – immer wieder Grenzen überschritten haben. Sie haben über die Grenzen Ihres jeweiligen Studienfachs hinausgeschaut. Sie haben sich auf andere Perspektiven eingelas- sen. Viele von Ihnen haben auch einen Teil Ihres Studiums im Ausland verbracht. Und Sie sind angeregt worden, über den Tellerrand dieser Universität hinauszuschauen, die Fragen und Anliegen der Gesellschaft um Sie herum in Ihr Studium zu integrieren und wo möglich in Handlungs- und Lösungsstrategien umzusetzen.

Das ist mutig. Das ist offen für die Welt. Und das versetzt Sie in die Lage, auch künftig kom- plexe Herausforderungen zu bewältigen. Wenn Donald Trump an der Leuphana studiert hät- te, wäre er vielleicht nicht auf die Idee gekommen, das Pariser Abkommen zu kündigen und eine Mauer zwischen den USA und Mexiko bauen zu wollen. Und so mancher Befürworter des „Brexit“ hätte sich vielleicht nicht von der demagogischen Idee verleiten lassen, dass es für Großbritannien insgesamt günstiger sein könnte, sich aus der Europäischen Union zu- rückzuziehen und zu versuchen, so komplexe Probleme wie Migration, globaler Wettbewerb und Handel sowie die Bekämpfung des Terrorismus mehr oder minder allein zu bewältigen.

Renationalisierung und Abschottung durch Zäune und Mauern sind sicher nicht die richtigen Strategien, um globale Herausforderungen zu bewältigen. Vielmehr kommt es darauf an, immer wieder Grenzen zu überschreiten, auch und gerade in der Wissenschaft. Die Über- windung von disziplinären, institutionellen und nationalen Grenzen hat sich ebenfalls die VolkswagenStiftung auf ihre Fahnen geschrieben. Sie setzt mit ihrer Förderung gezielt auf grenzüberschreitende Kooperationen wie etwa im Arabischen Raum und bei den Trilateralen Forschungspartnerschaften zwischen Deutschland, Russland und der Ukraine, um so über

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Wissenschaftsbeziehungen – allen politischen Entwicklungen zum Trotz – den Faden der 8 Zusammenarbeit und des wissenschaftlichen Austauschs nicht abreißen zu lassen. Mit ihrer gerade angelaufenen Initiative „Leben? – Ein neuer Blick der Naturwissenschaften auf die grundlegenden Prinzipien des Lebens“ regt die Stiftung Forschungsvorhaben an, die her- kömmlichen Disziplinengrenzen überschreiten und nach grundlegend neuen Antworten auf die Frage „Was ist Leben?“ suchen. Schließlich setzt die Stiftung, etwa im Rahmen der ge- meinsam mit europäischen Partnerstiftungen konzipierten Ausschreibung „Europe and Glo- bal Challenges“, auch auf Synergieeffekte eines über Ländergrenzen hinweg zusammenar- beitenden Stiftungsverbunds. Solchen philanthropischen Kooperationen kommt in Zeiten der Abwendung von einem vereinten Europa und zunehmender nationalistischer, ja national- und regionalpopulistischer Tendenzen eine immer größere Bedeutung zu. Und schließlich ist es wichtig, im Rahmen solcher, über den Tellerrand Europas hinausreichender Förderungen, etwa in der Zusammenarbeit mit afrikanischen Forscherinnen und Forschern, qua gemein- samer Erarbeitung des Forschungs- und Förderprogramms zu wirklich symmetrischen Part- nerschaften – auch und gerade auf dem Weg der Wissenschaft – zu gelangen. Nur über eine gemeinsame Forschungsagenda, die Partner aus der südlichen und nördlichen Hemisphäre auf Augenhöhe mitgestalten, kann den globalen Herausforderungen nachhaltig begegnet werden.

V. Zukunftsperspektiven

Liebe Absolventinnen und Absolventen, Sie sind gut vorbereitet auf das, was kommt. Lassen Sie sich nicht allzu sehr verunsichern! Auch von Zukunftsszenarien nicht. Zukunftsszenarien sagen oft mehr über denjenigen aus, der sie erstellt, als über die tatsächlichen Entwicklun- gen in den nächsten 30 bis 40 Jahren. Bleiben Sie daher skeptisch gegenüber allen schein- bar zukunftsgewissen Prognosen. Misstrauen Sie dystopischen Schwarzmalereien ebenso wie allzu utopisch anmutenden Schönfärbereien. Bauen Sie ruhig des Öfteren auf Ihr Bauchgefühl und die durch Ihr Studium an der Leuphana erworbenen Überblicks-, Urteils- und Gestaltungskompetenzen.

Und weil die Zukunft – nicht zuletzt mit Blick auf das, was wir künftig wissen werden – immer offen bleibt, bleibt es uns auch nicht erspart, immer aufs Neue die Kluft zwischen unseren Wünschen, Fähigkeiten und Idealen zu überbrücken. Bei allen Berechnungen, Prognosen und Szenarien, die in der digitalen Welt modelliert, errechnet oder entworfen werden können, ist unsere Suche nach dem Glück doch immer wieder zufälligen Begegnungen unterworfen, die uns zu neuen Entscheidungen veranlassen. Manche Begegnungen treffen uns unerwar-

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tet, unvorbereitet oder werfen uns aus einmal eingeschlagenen Bahnen. Auch wenn Sie sich 9 dabei manchmal wie ein Spielball des Schicksals fühlen sollten, lassen Sie sich das Heft des Handelns nicht aus der Hand nehmen. Sie haben mit Ihrem Studium das Rüstzeug für muti- ge, entschlossene und gestaltungsfreudige Entscheidungen erworben, die in die Zukunft gerichtet sind.

Mein Rat zum Schluss: Verfolgen Sie hartnäckig auch die scheinbar unmöglichen Ziele.

Wenn Sie diese nicht direkt erreichen sollten, gilt der Satz: Umwege erhöhen die Ortskennt- nis. Und sollten Sie einmal tatsächlich scheitern, dann denken Sie stets an die Worte von Samuel Beckett: „Ever tried. Ever failed. No matter. Try Again. Fail again. Fail better.“ In die- sem, auf den ersten Blick paradox anmutenden Sinne wünsche ich Ihnen viel Glück auf Ih- rem weiteren Lebensweg.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

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