WAHLZWANG
56 Die Volkswirtschaft 10 / 2016
Welche politischen Vorlagen profitieren vom Stimmzwang?
Die Beteiligung bei Abstimmungen sinkt. Zur Diskussion steht nun auch die Einführung des Stimmzwangs, wie er einst in der Waadt existierte. Damals profitierten vor allem linke Anliegen davon. Ob das heute auch so wäre, ist jedoch fraglich. Michael Bechtel, Dominik Hangartner, Lukas Schmid
I
m Unterschied zu den Bürgern zahl- reicher anderer Demokratien darf die Schweizer Bevölkerung mehrmals jähr- lich direkt über wirtschaftlich und ge- sellschaftlich bedeutsame Politiken ab- stimmen.1 Von dieser Möglichkeit machen1 Der folgende Artikel stützt sich auf die Studie von Bechtel, M. M., D. Hangartner und L. Schmid (2016).
Does Compulsory Voting Increase Support for Leftist Policy? In: American Journal of Political Science 60(3):
S. 752–767.
Abstract Die anhaltend geringe Beteiligung bei Wahlen und Abstimmungen provoziert Re- formvorschläge zur Mobilisierung der Stimmberechtigten. Eine dieser kontrovers diskutierten Wahlrechtsreformen sieht die Einführung eines Stimmzwangs vor. Eine Analyse historischer Daten zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigt, wie sich ein Stimmzwang auf die Abstimmungs- ergebnisse der damaligen Zeit auswirkte. Die Resultate zeigen, dass eine Strafe für Nichtwäh- ler die Stimmbeteiligung um etwa 30 Prozentpunkte erhöhte. Dieser Zuwachs bewirkte eine deutliche Stärkung linker Abstimmungspositionen, die auf stärkere Umverteilung abzielten.
Allerdings ist ungewiss, ob sich dieses Muster auf heute übertragen lässt. Vermutlich wurde mit dem Stimmzwang insbesondere die Beteiligung von Geringverdienern erhöht. Geringver- diener äussern sich heute jedoch an der Urne deutlich konservativer als zu Beginn des 20. Jahr- hunderts.
jedoch immer weniger Menschen Ge- brauch: Seit 1951 ist die durchschnittli- che Stimmbeteiligung von knapp 60 auf 44 Prozent zurückgegangen. Mit immer wiederkehrenden Reformvorschlägen wollen verschiedene Akteure deshalb den Rückgang der Beteiligung bei Abstimmun- gen und Wahlen aufhalten. Auch die Ein- führung des Stimmzwangs wird als mög- liche Option diskutiert. Dabei würden
Nichtwähler bei Wahlen und Abstimmun- gen mit einer Geldbusse sanktioniert.
Während in der Vergangenheit über- wiegend Exponenten linker Parteien da- für plädierten, den Gang an die Urne für alle Bürger verpflichtend zu machen, ge- sellen sich in jüngerer Zeit mit Politi- kern der BDP auch Vertreter einer bür- gerlichen Partei zu den Befürwortern des Stimmzwangs. Für eine evidenzbasierte Analyse des Stimmzwangs gilt: Die Vor- und Nachteile des Stimmzwangs hän- gen entscheidend von dessen möglichen Auswirkungen ab. Wie beeinflusst eine Strafe für Nichtwähler die Stimmbetei- ligung? Welche Wirkung hat sie auf die Abstimmungsergebnisse? Und würden bestimmte politische Positionen syste- matisch gewinnen oder verlieren?
KEYSTONE
Neu fordern neben linken Kreisen auch BDP- Politiker einen gesamtschweizerischen Stimm- zwang. Heute existiert ein solcher nur noch im Kanton Schaffhausen.
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Die Volkswirtschaft 10 / 2016 57 Um diese Fragen empirisch zu beant-
worten, könnte man in einem direkten Ver- gleich die Entwicklung der Abstimmungs- ergebnisse in Kantonen mit Stimmzwang jenen in Kantonen ohne Stimmzwang gegenüberstellen. Für die Schweiz wäre Schaffhausen in dieser Hinsicht ein inter- essanter Kanton. Dort zahlen Nichtwähler seit 1876 eine Busse, die heute 6 Franken beträgt.
Sonderfall Schaffhausen
Betrachtet man die Abstimmungsergeb- nisse über die vergangenen 40 Jahre, zeigt sich, dass linke Positionen in Schaffhausen durchschnittlich 41 Prozent der Stimmen erhalten. In den anderen Deutschschweizer Kantonen, die keinen Stimmzwang prakti- zieren, erhalten linke Abstimmungspositio- nen hingegen nur 38 Prozent der Stimmen.
Doch lässt sich daraus schliessen, dass der Stimmzwang die Unterstützung für um- verteilungsorientierte Politik um 3 Prozent- punkte erhöht? Diese Schlussfolgerung überzeugt nicht.
Schaffhausen unterscheidet sich nicht nur hinsichtlich des Stimmzwangs von den Vergleichskantonen, sondern auch mit Blick auf zahlreiche andere Charakte- ristika, die das Abstimmungsverhalten be- einflussen. Als kleiner, an Deutschland an- grenzender Kanton ist Schaffhausen einem ständigen und anders gearteten Wett- bewerb ausgesetzt. Die Schwerindustrie trägt einen relativ hohen Anteil zur Wirt- schaftsleistung des Kantons bei, und es existiert eine besonders starke sozialde- mokratisch-gewerkschaftliche Basis.
Betrachtet man diese Eigenheiten, so erscheint es wenig überraschend, dass die Sozialdemokraten in Schaffhausen seit 1925 ohne Unterbruch einen der bei- den Nationalratssitze stellen. Schliesslich unterscheiden sich die Schaffhauser auch in ihrer expliziten Unterstützung für den seit über einhundert Jahren praktizierten Stimmzwang: Im 20. Jahrhundert wurde die Aufhebung des Stimmzwangs mehr- mals abgelehnt, zuletzt 1982 mit einem deutlichen Nein-Anteil von 64 Prozent.
Vergleich mit der Waadt
Diese Tatsachen lassen vermuten, dass ein direkter Vergleich zwischen Schaffhausen und anderen Kantonen keine kausal inter- pretierbaren Erkenntnisse zu den politi- schen Konsequenzen des Stimmzwangs bringt. Besser als zwischen unterschied-
Der Stimmzwang in der Waadt war zwischen 1925 und 1940 sowie zwischen 1946 und 1948 in Kraft (blaue Fläche). Die Punkte zeigen Durchschnitte des Stimmenanteils für linke Positionen für jeweils fünf Abstim- mungen. Die rote Kurve zeigt den geschätzten Effekt, den der Stimmzwang auf den Stimmenanteil linker Politiken hatte.
lichen Kantonen liessen sich die Auswir- kungen des Stimmzwangs durch den Ver- gleich zeitlicher Variationen innerhalb der gleichen geografischen Einheit feststellen.
Damit lässt sich die Vergleichbarkeit der Untersuchungseinheiten erhöhen.
Eine solche Möglichkeit bietet der Kanton Waadt. Dort galt der Stimmzwang von 1925 bis 1940 und von 1946 bis 1948.
Der Effekt des Stimmzwangs auf die Zustimmung für linke Politiken in der Waadt (1908 bis 1948)
BFS / BECHTEL, HANGARTNER UND SCHMID (2016) / DIE VOLKSWIRTSCHAFT
80 Stimmenanteil für linke Politiken (in %)
50
10 70
40
0 60
20 30
–10
1908–1918 1919–1924 1925–1932 1933–1940 1946–1948
Effekt Stimmzwang Waadt Kontrollgruppe
Wer den Gang zur Urne scheute, wur- de mit einer Busse von 2 Franken belegt.
Zur damaligen Zeit war dies ein beacht- licher Betrag, denn der seinerzeit übliche Stundenlohn eines Fabrikarbeiters lag bei
Ob rechte oder linke Parteien heute von einem Stimmzwang profitieren, ist unklar. Ein Dorfbe- wohner stimmt im bündnerischen Obersaxen an der Urne ab.
KEYSTONE
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Lukas Schmid
Assistenzprofessor für Empirische Metho- den, Universität Luzern
Dominik Hangartner
Associate Professor of Research Metho- dology, London School of Economics und Co-Direktor Stanford-Zurich Immigration Policy Lab
Michael M. Bechtel
Associate Professor of Political Science, Washington University in St. Louis
lediglich 1.30 Franken. Vom Stimmzwang ausgenommen waren Personen über 65, Erkrankte, Militärdienstleistende und Ortsabwesende. Mit der Einführung des Stimmzwangs wollte der kantonale Ge- setzgeber das Gewicht der Westschweiz bei eidgenössischen Abstimmungen er- höhen und den bürgerlichen Gemein- schaftssinn stärken.
Die Entwicklung der Stimmbeteiligung und des Abstimmungsverhaltens in der Waadt soll mit denjenigen anderer Kanto- ne verglichen werden. Diese Vergleichs- kantone sind erstens dadurch charakte- risiert, dass sie während des gesamten Untersuchungszeitraums keinen Stimm- zwang praktizierten. Zweitens haben sich in diesen Kantonen sowohl die Stimmbe- teiligung als auch die Abstimmungsergeb- nisse in sehr ähnlicher Weise entwickelt wie vor der Einführung des Stimmzwangs in der Waadt.
Stimmzwang half linken Vorlagen in der Waadt
Die Ergebnisse zeigen, dass sich die Stimm- beteiligung bei eidgenössischen Ab- stimmungen in der Waadt um etwa 30 Prozentpunkte erhöhte. Hiermit ging eine spürbare Stärkung linker Politiken einher (siehe Abbildung). Die durch den Stimm- zwang mobilisierten Stimmen stärkten zentrale Pfeiler des schweizerischen Sozial staats und andere Kernanliegen der politischen Linken. Dies lässt sich mit Blick auf die sogenannte Kriseninitiative aus dem Jahre 1935 illustrieren.
Diese Initiative sah unter anderem die Einführung eines nationalen Mindest- lohns vor. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass der Stimmzwang die Zustimmung zur Kriseninitiative um 22 Prozentpunkte
erhöhte. Auch andere Kernanliegen der damaligen Linken erfuhren durch den Stimmzwang in der Waadt beachtlichen Auftrieb. Bei der Abstimmung über die SP- lancierte Initiative zur Festsetzung eines Rechts auf Arbeit im Jahr 1947 sorgte der Stimmzwang beispielsweise für einen Zu- wachs von 30 Prozentpunkten.
Insgesamt zeigen die Ergebnisse unserer Studie, dass der Stimmzwang nicht nur die Beteiligung massiv erhöht, sondern auch die Abstimmungsergebnisse systematisch in eine bestimmte politische Richtung ver- ändert. In dem untersuchten Zeitraum zu Beginn des 20. Jahrhunderts erhöhte die Einführung des Stimmzwangs vermutlich insbesondere die Stimmbeteiligung von Geringverdienern, die mehr Umverteilung und soziale Absicherung anstrebten.
Geringverdiener würden heute vermutlich anders wählen
Die Ergebnisse unserer Untersuchung sind zwar in mehrerer Hinsicht mit jenen zur Auswirkung der Stimmpflicht in re- präsentativen Demokratien, insbesondere Australien und Österreich, vergleichbar.
Allerdings bleibt fraglich, inwiefern die Einführung einer Strafe für Nichtwähler auch in der heutigen Zeit zu einer syste- matischen Stärkung der politischen Linken führen würde.
Eine gewisse Skepsis an der Übertrag- barkeit unserer Ergebnisse auf die Gegen- wart scheint unter anderem deshalb ange- bracht, weil Geringverdiener heutzutage vermehrt für ideologisch konservative Po- litiken stimmen. Dies ist insbesondere im Bereich der Immigrationspolitik und in aussenhandelspolitischen Fragen der Fall.
Welche Folgen ein Stimmzwang in der heutigen Zeit hätte – darüber können des-
halb keine abschliessenden Aussagen ge- macht werden. Die direkten und indirekten Auswirkungen der Stimmpflicht auf aktuelle Abstimmungsentscheide bleiben unklar, solange keine Zusammenarbeit zwischen Forschung und Politik existiert, welche es ermöglichte, den Stimmzwang im Feld zu untersuchen.