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Leseprobe. Lauren Elkin Flâneuse Frauen erobern die Stadt - in Paris, New York, Tokyo, Venedig und London

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Leseprobe

Lauren Elkin

Flâneuse

Frauen erobern die Stadt - in Paris, New York, Tokyo, Venedig und London

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Seiten: 400

Erscheinungstermin: 11. Mai 2020

Mehr Informationen zum Buch gibt es auf

www.penguinrandomhouse.de

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Inhalte

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Zum Buch

»Lauren Elkin hat nicht nur eine Geschichte kluger Rebellinnen geschrieben, sondern eine Geschichte des weiblichen Blicks.«

Süddeutsche Zeitung

Die Flâneuse - Virginia Woolf in London ist eine von ihnen, Jean Rhys in Paris, Holly Golightly in New York. Sie alle erobern selbstbewusst die Großstadt, sind neugierig, klug und unabhängig. Die Autorin und

Essayistin Lauren Elkin folgt den Spuren außergewöhnlicher flanierender Frauen, lässt sich durch Städte, Literatur, Kunst und Geschichte treiben und zeigt wie berauschend es sein kann, sich eine Stadt zu erobern, ein Privileg, das lange nur Männern vorbehalten war.

Autor

Lauren Elkin

Lauren Elkin, geboren in New York, ist Autorin,

Essayistin und Übersetzerin. Sie schreibt unter

anderem für die New York Times Book Review, den

Guardian und die Times Literary Supplement. Nachdem

sie die USA verlassen und die Straßen von London,

Venedig, Tokyo und Hong Kong, wie Hemingway

immer ausgestattet mit Stift und Papier, erobert hat,

lebt sie heute in Paris, wo sie vor allem durch die

Straßen des Künstlerviertels Belleville flaniert.

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»Wenn wir in der Zeit zurückreisen, war da schon immer eine Flâneuse, die auf der Straße an Baudelaire vorüberging.«

Die Autorin und Essayistin Lauren Elkin folgt den Spuren außergewöhnlicher flanierender Frauen, indem sie selbst durch das heutige Paris, New York, London, Venedig und Tokio spaziert. Sie lässt sich treiben durch Städte, Literatur, Kunst und zeigt in ihrer Geschichte des weiblichen Flanierens wie berauschend es sein kann, sich eine Stadt zu erobern, was lange nur Männern vorbehalten war. In ihren Porträts zeigt sie,

dass die Flâneuse mehr ist als nur ein weiblicher Flâneur, sie steht für sich allein, ist eine inspirierende Gestalt. Sie geht auf Reisen, sie geht an Orte, die nicht für sie bestimmt sind. Sie ist

ein entschlossenes, kreatives Individuum mit einem tiefen Gespür für das schöpferische Potenzial einer Stadt und die

befreiende Kraft eines Spaziergangs.

Lauren Elkin, geboren in New York, ist Autorin, Essayistin und Übersetzerin. Sie schreibt unter anderem für dieNew York

Times Book Review, denGuardian und dieTimes Literary Supplement. Nachdem sie die USA verlassen und die Straßen von London, Venedig, Tokio und Hong Kong, wie Hemingway

immer ausgestattet mit Stift und Papier, erobert hat, lebt sie heute in Paris, wo sie vor allem durch die Straßen des

Künstlerviertels Belleville flaniert.

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LAUREN ELKIN

Frauen erobern die Stadt – in Paris, New York, Tokio,

Venedig und London

Aus dem Englischen von Cornelia Röser

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Für Trivia Göttin der Wegkreuzungen

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»Sie ist eine Wanderin, Herumtreiberin, Emigrantin, Ge- flüchtete, Deportierte, Streunerin, ziehende Schauspiele- rin. Manchmal möchte sie sesshaft werden, aber Neugier, Trauer und Unzufriedenheit machen es ihr unmöglich.«

– Deborah Levy,Swallowing Geography

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INHALT

FLÂNEUS-IEREN Þ3 LONG ISLAND · NEW YORK 3Ú

PARIS · CAFÉS WO MAN 5ì LONDON · BLOOMSBURY Ú5 PARIS · KINDER DER REVOLUTION Þ2ì

VENEDIG · GEHORSAM ÞîÞ TOKIO · VON INNEN ÞÚ3

PARIS · PROTEST 23ì PARIS · NACHBARSCHAFT 2îÚ ÜBERALL · DER BLICK VON UNTEN 3ÞÞ

NEW YORK · RÜCKKEHR 34Þ EPILOG · FLÂNEUSERIE 3îÞ

Anmerkungen 3îì Dank 3ÚÞ Bildnachweise 3Ú3

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Eine Straße in Paris. Eine Frau bleibt stehen und zündet sich eine Zigarette an. In einer Hand hält sie das Streichholz, in der anderen die Schachtel und einen Handschuh. Ihre hochge- wachsene Gestalt korrespondiert mit dem Schatten eines La- ternenpfahls, zwei parallele senkrechte Linien auf der Wand hinter ihr, als die Fotografin die Blende schließt. Innehaltend;

festgehalten im Vorübergehen.

An der Wand steht eine klare Anweisung:Défense d’Afficher et de faire aucun Dépôt le long de ce… dann wird die Mahnung vom Bildrand abgeschnitten.Défense d’Afficher,das verkünden viele Wände in Paris.Plakatieren verboten, ein Verbot aus dem späten neunzehnten Jahrhundert, damit die Stadt nicht zu einer Wüste aus Reklametafeln verkommt. Über dem Schrift- zug lassen schablonierte Buchstaben wissen – trotzig? Oder waren sie zuerst da? –, dass man hier oder in der Nähe früher charcuteriekaufen konnte. Darunter hat jemand die groben Umrisse eines Gesichts gemalt.

Es ist ÞÚ2Ú. Frauen, die in der Öffentlichkeit rauchen, sind kein so ungewöhnlicher Anblick mehr. Dennoch enthält das Foto ein Moment der Grenzüberschreitung. Der Tag wird zu Ende gehen, die Frau wird weiterziehen, die Fotografin wird weiterziehen, selbst die Sonne wird weiterziehen und mit ihr

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der Schatten der Laterne. Doch alles, was wir von diesem Ort in der Vergangenheit sehen, ist eine Frau, die sich vor einer Wand voller Verbote und deren Missachtung eine Zigarette anzündet.

Sie fällt auf, in ihrer anonymen, unsterblichen Einzigartigkeit.

Die urbane Schwarz-Weiß-Fotografie jener Zeit hat mich immer berührt, besonders die Bilder von Frauen – von Ma- rianne Breslauer, die diese Aufnahme gemacht hat, von Laure Albin-Guillot, Ilse Bing oder Germaine Krull, einer Freundin Walter Benjamins, die gerne mit ihm – und ohne ihn – durch die Passagen von Paris streifte und dort fotografierte. Diese Frauen kamen in die Stadt (oder waren vielleicht dort geboren oder kamen aus anderen Städten), um unbeobachtet zu sein, aber auch um der Freiheit willen, tun zu können, was sie woll- ten und wie sie es wollten.

Vor meinem geistigen Auge sind ähnliche Bilder entstanden.

Von Momenten, die in Tagebüchern oder Romanen festgehal- ten wurden, in denen aber kein Fotograf zugegen war. Eines zum Beispiel von George Sand, die in Männerkleidung durch die Straßen spaziert. Verloren in der Stadt, ein »Atom« in der Menge. Oder Jean Rhys, deren Frauenfiguren an Kaffeehauster- rassen vorbeigehen und sich innerlich winden, weil die Kunden ihnen mit Blicken folgen und sie als Außenseiterin erkennen.

Breslauers Fotografie und die anderen Bilder in meiner Vorstel- lung zeigen das Kernproblem der urbanen Erfahrung: Sind wir Individuen oder Teil der Masse? Wollen wir uns abheben oder in der Menge verschwinden? Ist das überhaupt möglich? Wie wollen wir – egal, welchen Geschlechts – in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden? Wollen wir die Blicke auf uns ziehen oder ihnen ausweichen? Wollen wir unabhängig und unsicht- bar sein? Beachtenswert oder unbeachtet?

Défense d’Afficher. Keine Werbung. Und doch:Elle s’affiche.

Sie zeigt sich. Sie hebt sich vor dem Hintergrund der Stadt ab.

Þ2

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FLÂNEUS-IEREN

Wann ist es mir zum ersten Mal begegnet, dieses elegante französische Wortflâneurmit seinem überdachtenâund dem rollendeneur? Es muss in den ÞÚÚþern gewesen sein, als ich in Paris studierte, aber ich glaube nicht, dass ich in einem Buch darauf gestoßen bin. Viel Pflichtlektüre habe ich in jenem Se- mester nicht gelesen. Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen, und das bedeutet wohl, dass ich bereits zumFlâneurwurde, bevor ich wusste, was das ist; ich durchstreifte die Straßen in der Nähe meiner Universität – links der Seine, wie es sich für eine amerikanische Uni gehört.

Das WortFlâneurfür jemanden, »der ziellos umherstreift«, abgeleitet vom französischen Verbflâner, entstand in der ers- ten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in den mit Glas und Stahl überdachten Pariserpassages. Als Haussmann anfing, seine lichten Boulevards in die dunkle unebene Kruste aus Häusern zu schneiden wie mit einem Messer durch Chèvre im Aschemantel, spazierte auch derFlâneurhindurch, um das urbane Spektakel zu betrachten. Als männliche Figur mit Pri- vilegien und Muße, mit Zeit und Geld und ohne unmittelbare Verpflichtungen, die seine Aufmerksamkeit erfordert hätten, versteht derFlâneurdie Stadt wie nur wenige ihrer Bewohner, denn er hat sie sich mit den Füßen eingeprägt. Jede Ecke, jede

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Gasse, jeder Treppenaufgang hat das Potenzial, ihn in rêve- riezu versetzen. Was ist hier geschehen? Wer ist hier vorbei- gekommen? Welche Bedeutung hat dieser Ort? DerFlâneur, eingestimmt auf die Saitenschwingungen seiner Stadt, weiß es intuitiv.

In meiner Ignoranz muss ich geglaubt haben, ich hätte die flânerieerfunden. Für jemanden aus einem amerikanischen Vorort, wo die Menschen überall mit dem Auto hinfahren, war es ein wenig exzentrisch, ohne besonderen Grund zu Fuß zu gehen. In Paris konnte ich stundenlang laufen, ohne je ir- gendwo »anzukommen«. Ich beobachtete die Zusammenset- zung der Stadt und erhaschte hier und da einen Blick auf ein inoffizielles Stück Geschichte: ein Einschussloch in der Fas- sade eineshôtel particulier, vergessene Schriftzüge hoch oben an der Seitenfassade eines Hauses, der Name einer Mehlfab- rik oder einer Zeitung, die es nicht mehr gibt (was ein krea- tiver Graffiti-Künstler als Aufforderung nahm, etwas Eigenes daraus zu machen), oder ein paar Reihen bei Straßenarbeiten freigelegter Pflastersteine: verschiedene Schichten unter der Oberfläche der heutigen Stadt, die sich langsam immer wei- ter nach oben schiebt. Ich hielt Ausschau nach Rückständen, nach Strukturen, nach Zufällen, Begegnungen und unerwar- teten Entdeckungen. Die wichtigste Erfahrung mit dieser Stadt machte ich nicht mittels Büchern, Restaurants oder Museen und auch nicht durch die seelischen Narben jener Affäre, die sich in einer Dachkammer nahe der Börse abspielte, sondern durch das viele Zufußgehen. Irgendwo im sechsten Arrondis- sement wurde mir klar, dass ich für den Rest meines Lebens in der Stadt wohnen wollte, und zwar genau hier, in Paris. Es hatte etwas mit der absoluten, vollkommenen Freiheit zu tun, die sich entfaltet, wenn man einen Fuß vor den anderen setzt.

Zwischen meiner Wohnung in der Avenue de Saxe und Þ4

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der Uni in der Rue de Chevreuse lief ich eine Furche in den Boulevard Montparnasse. Von den Namen der Restaurants, an denen ich vorbeikam, lernte ich ein Französisch, das nicht in den Schulbüchern steht: Les Zazous (benannt nach einem Jazzer-Typ aus den ÞÚ4þer-Jahren mit kariertem Blazer und Stirnlocke), das Restaurant Sud-Ouest & Cie, von dem ich die französische Entsprechung zu »& Co« erfuhr, und von einer Bäckerei namens Pomme de pain lernte ich das Wort für Kie- fernzapfen,pomme de pin, wobei ich nie recht verstanden habe, warum dieses Wortspiel der Mühe wert sein sollte. In einem Brezel-Shop namens Duchesse Anne kaufte ich mir jeden Tag auf dem Weg zu meinen Veranstaltungen einen Orangensaft und dachte darüber nach, wer diese Anne sein mochte und in welcher Beziehung sie zu Brezeln stehen könnte. Ich sinnierte über das verzerrte Bild, das die Franzosen von der amerikani- schen Geografie haben mussten, was sich in einem TexMex- Restaurant namens Indiana Café äußerte. Auf meiner Strecke lagen all die berühmten Cafés des Boulevards: La Rotonde, Le Sélect, Le Dôme und La Coupole, Wasserstellen für Ge- nerationen von amerikanischen Schriftstellern in Paris, de- ren Geister unter den Markisen der Cafés hockten, ohne sich von den Entwicklungen des zwanzigsten Jahrhunderts beein- druckt zu zeigen. Ich überquerte die Straße zur Rue Vavin mit dem gleichnamigen Café, in das die coolenlycéens nach Schul- schluss gingen, lässig Zigaretten rauchend, die Ärmel länger als die Arme, Converse-Sneakers an den Füßen. Jungen mit dunk- len Locken, die Mädchen ungeschminkt.

Mutiger geworden, wagte ich mich bald in die Straßen, die vom Jardin du Luxembourg abgingen, einige Gehminuten von meiner Uni entfernt. Ich gelangte zur Kirche Saint-Sulpice, die damals renoviert wurde – und das schon seit Jahrzehnten, ebenso wie der Turm Saint-Jacques. Niemand konnte sagen,

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ob die Baugerüste an den Türmen je wieder abgebaut werden würden. An der Place Saint-Sulpice saß ich im Café de Mairie und beobachtete, wie die Welt an mir vorüberzog: die magers- ten Frauen, die ich je gesehen hatte, in Leinenkleidung, die in New York spießig ausgesehen hätte, in Paris aber unvergleich- lich chic wirkte, Nonnen in Zweier- oder Dreiergrüppchen, Yuppie-Mütter, die ihre kleinen Söhne an Bäume pinkeln lie- ßen. Ich schrieb alles auf, was ich sah, ohne zu wissen, dass Georges Perec ÞÚì4 eine Woche lang an genau diesem Platz, in genau diesem Café gesessen und dasselbe Kommen und Gehen notiert hatte: Taxis, Busse, Gebäck essende Menschen, die Richtung und Stärke des Windes – alles in dem Versuch, seinen Lesern die Schönheit des Alltäglichen nahezubringen, dessen, was er als dasInfraordinärebezeichnete: was geschah, wenn nichts geschah. Was ich ebenfalls nicht wusste, war, dass Nachtgewächse, das eines meiner Lieblingsbücher werden sollte, in genau diesem Café und dem darüberliegenden Hotel spielte. Paris fing gerade erst an, der Ort meiner wichtigsten persönlichen und intellektuellen Bezugspunkte zu werden – und sie hervorzubringen. Wir lernten uns gerade erst kennen.

Mit Englisch als Hauptfach hatte ich eigentlich nach Lon- don gehen wollen, doch aufgrund einer Formalie verschlug es mich stattdessen nach Paris. Innerhalb eines Monats hatte mich die Stadt verzaubert. Da war etwas in den Straßen von Paris, das mich innehalten und mir das Herz stocken ließ. Sie schienen von einer Gegenwart durchdrungen, selbst wenn au- ßer mir niemand dort war. Es waren Orte, an denen etwas ge- schehen könnte oder geschehen war oder beides. In New York, der Stadt, in der sich alles der Zukunft beugt, hätte ich ein solches Gefühl nicht haben können. In Paris hielt ich mich viel im Freien auf und dachte mir Geschichten zu den Stra- ßen aus, durch die ich ging. Nach diesen sechs Monaten waren

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die Straßen nicht mehr nur die Strecke zwischen meiner Woh- nung und meinem jeweiligen Zielort, sondern meine große Leidenschaft. Ich ließ mich überallhin treiben, wo es interes- sant aussah, ließ mich vom Anblick einer verfallenden Wand anlocken, von bunten Blumenkästen oder von irgendetwas Faszinierendem am Ende einer Straße, auch wenn es etwas so Alltägliches war wie eine Querstraße. Alles, jedes Detail, das plötzlich hervortrat, zog mich an. Jedes Mal, wenn ich um eine Ecke bog, wurde mir bewusst, dass der Tag ganz mir ge- hörte und ich nirgendwo sein musste, wo ich nicht sein wollte.

Ich war erstaunlich immun gegen Verantwortung, denn ich hatte keinerlei Ambitionen, außer das zu tun, was mich inte- ressierte.

Ich erinnere mich, dass ich einmal für zwei Stationen die Metro nahm, weil mir nicht bewusst war, wie nah alles bei- einanderlag, wie gut man in Paris zu Fuß gehen konnte. Ich musste gehen, um zu begreifen, wo ich mich im Raum befand und wie die Orte miteinander zusammenhingen. An manchen Tagen lief ich bis zu zehn Kilometer und kehrte mit wunden Füßen und der einen oder anderen Geschichte für meine Mit- bewohner nach Hause zurück. Ich sah Dinge, die ich in New York noch nie gesehen hatte. Bettler (Roma, wie mir erklärt wurde), die regungslos mit gesenktem Kopf in den Straßen knieten und Schilder hielten, auf denen sie um Geld baten.

Manche hatten Kinder dabei, andere Hunde. Obdachlose, die in Zelten, unter Treppen oder Brücken hausten. Für jede ma- lerische Ecke in Paris gab es das entsprechende Elend. Ich legte meine New Yorker Apathie ab und gab, so viel ich entbehren konnte. Wenn man sehen lernt, bedeutet das auch, dass man nicht mehr wegsehen kann. In den Straßen von Paris war mir immer bewusst, dass uns nur der schmale Grat des Schicksals voneinander trennte. Und dann erfuhr ich irgendwie durch

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Zufall, dass dieses ganze Herumlaufen und der unablässige Drang, alles, was ich sah und empfand, in die biegsamen No- tizbücher zu kritzeln, die ich in der Buchhandlung Gibert Jeune am Boulevard Saint-Michel kaufte – dass also alles, was ich intuitiv tat, schon andere vor mir getan hatten, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass es dafür ein eigenes Wort gab.

Ich war einFlâneur.

Oder eher – als gute Französisch-Schülerin machte ich aus dem maskulinen Substantiv ein feminines – eineFlâneuse.

+

Flâneuse[flah-nöhse], Subst.: aus dem Französischen. Weib- liche Form von Flâneur [flah-nöhr], Müßiggänger, gemäch- lich umherstreifender Beobachter, normalerweise in Städten anzutreffen.

Diese Definition ist eine Erfindung von mir. In den meis- ten französischen Wörterbüchern ist das Wort nicht einmal aufgeführt. DasLittrévon ÞÚþ5 macht mit ›flâneur, -euse‹: Qui flâne ein Zugeständnis, doch im Dictionnaire Vivant de la Langue Françaisewird es, man mag es nicht glauben, als eine Art Liegestuhl definiert.

Soll das ein Witz sein? Die einzige Art neugierigen Müßig- gangs, der eine Frau nachgeht, ist es, sich hinzulegen?

Diese (natürlich umgangssprachliche) Verwendung kam um etwa Þ84þ auf und erreichte ihren Höhepunkt in den ÞÚ2þer-Jahren, sie hält sich jedoch bis heute: die Google-Bil- dersuche nach»flâneuse«liefert eine Zeichnung von George Sand, eine Frau auf einer Bank in Paris und einige Bilder von Gartenmöbeln.

+ Þ8

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Während meines letzten Studienjahres, das ich wieder in New York verbrachte, schrieb ich mich für ein Seminar mit dem Titel »Der Mann in der Menge, die Frau auf der Straße« ein.

Vor allem der zweite Teil interessierte mich: Ich hoffte, einen Stammbaum oder eine Schwesternschaft für mein exzen- trisches neues Hobby erstellen zu können. Mich reizte zwar der Begriff desFlâneursals jemand, der die Fesseln der Ver- antwortung abgestreift hat. Aber ich wollte vor allem heraus- finden, wie sich eine Frau ins Stadtbild einfügen könnte.

Bei den Recherchen für meine Bachelorarbeit über Zolas Nanaund DreisersSchwester Carriestellte ich verblüfft fest, dass Wissenschaftler die Idee einer weiblichenFlâneuseweit- gehend verworfen hatten. »Die Erfindung einer Flâneuse steht nicht zur Debatte«, schreibt Janet Wolff in einem viel- zitierten Essay zu dem Thema; »eine solche Figur wurde durch die Geschlechtertrennung des neunzehnten Jahrhun- derts verunmöglicht.«Þ Die große feministische Kunsthisto- rikerin Griselda Pollock vertrat die gleiche Ansicht: »Es gibt keine weibliche Entsprechung zu dieser, ihrem Wesen nach männlichen Figur, demFlâneur: Eine weiblicheFlâneusegibt es nicht und kann es nicht geben.«2 »Der urbane Beobach- ter […] wurde als ausschließlich männliche Figur gesehen«, notiert Deborah Parsons. »Die Möglichkeiten und Aktivitä- ten der Flânerie waren vorwiegend das Privileg begüterter Männer, und somit verstand es sich von selbst, dass der ›mo- derne Lebenskünstler‹ notwendigerweise ein Mann aus der bürgerlichen Schicht war.«3 In ihrem BuchWanderlust: Eine Geschichte des Gehenswendet sich Rebecca Solnit von ihren

»ausschweifenden Philosophen,Flâneurenund Bergsteigern«

ab, um die Frage zu stellen, »warum Frauen nicht auch drau- ßen herumlaufen.«4

Den meisten Kritikern zufolge war diese Frau auf der Straße

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höchstwahrscheinlich eine Prostituierte. Also las ich weiter und stieß auf zwei Probleme mit dem Konzept derFlâneuseals Hure:

Erstens gab es Frauen auf der Straße, die nicht ihren Körper ver- kauften, und zweitens haftete dem Auf- und Abgehen dieser Frauen nichts von der Freiheit einesFlâneursan; Prostituierte konnten sich nicht frei in der Stadt bewegen. Ihre Bewegungen waren streng reguliert: Mitte des neunzehnten Jahrhunderts schrieben alle möglichen Gesetze vor, wann und zu welchen Uhrzeiten sie Männer ansprechen durften. Für ihre Kleidung galten strenge Reglementierungen, sie mussten sich bei der Stadt registrieren lassen und regelmäßig bei der Gesundheits- polizei vorstellig werden. Mit Freiheit hatte das nichts zu tun.

Die meisten leicht zugänglichen Quellen, aus denen man erfährt, wie das Straßenbild im neunzehnten Jahrhundert aus- gesehen hat, sind männlich und sehen die Stadt auf ihre eigene Weise. Wir dürfen ihre Zeugnisse nicht als objektive Wahr- heit ansehen; ihnen fielen bestimmte Dinge auf, über die sie dann Vermutungen anstellten. Baudelaires geheimnisvolle und verführerischepassante, die er in seinem Gedicht »Einer Vorübergehenden« verewigt, wurde oft als Prostituierte inter- pretiert, doch für ihn war sie nicht einmal eine echte Person, sondern nur seine lebendig gewordene Fantasie:

Es tost betäubend in der strassen raum.

Gross schmal in tiefer trauer majestätisch Erschien ein weib ihr finger gravitätisch Erhob und wiegte kleidbesatz und saum Beschwingt und hehr mit einer statue knie.

Ich las · die hände ballend wie im wahne Aus ihrem auge (heimat der orkane):

Mit anmut bannt mit liebe tötet sie.5

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Baudelaire hat kaum Zeit, sich ein Urteil über sie zu bilden:

Sie ist zu schnell (und gleichzeitig statuenhaft). Er will nicht darüber nachdenken, wer sie in Wirklichkeit sein könnte, wo- her sie kommt, wohin sie geht. Für ihn ist sie die Hüterin eines Geheimnisses und verfügt über die Macht, zu verzaubern oder zu vergiften.

Natürlich hängt der Grund dafür, dass dieFlâneusein der Geschichte des Durch-die-Stadt-Streifens keine Berücksich- tigung findet, mit den gesellschaftlichen Bedingungen zu- sammen, unter denen Frauen im neunzehnten Jahrhundert lebten – der Zeit, in der unser Begriff vomFlâneurentstand.

Die früheste Erwähnung einesFlâneursstammt aus dem Jahr Þ585, möglicherweise entlehnt vom skandinavischen Wort flana, »eine Person, die umherstreift«. EinePerson– nicht not- wendigerweise ein Mann. Durchgesetzt hat sich das Wort al- lerdings erst im neunzehnten Jahrhundert, und diesmal hat es ein Genus: Þ8þî nahm derFlâneurdie Form des »M. Bon- homme« an, eines Lebemanns aus vermögenden Verhältnis- sen, der über genug Zeit verfügt, um nach Belieben durch die Stadt zu streifen, in Cafés zu sitzen und die verschiedentlichen Bewohner der Stadt bei Arbeit und Spiel zu beobachten. Er in- teressiert sich für Klatsch und für Mode, aber nicht besonders für Frauen. In einem Wörterbuch von Þ82Ú ist einFlâneur ein Mann, der gern untätig ist, der den Müßiggang mag. Balzacs Flâneurgestaltete sich in zwei Grundformen aus: im gewöhn- lichenFlâneur, der gern ziellos durch die Straßen streift, und im künstlerischenFlâneur, der die Wahrnehmung der Stadt in seine Arbeit einfließen lässt. Dies sei die unglücklichere Form, wie Balzac Þ83ì in seinem RomanCäsar Birotteaus Größe und Niedergangschrieb, genauso oft ein verzweifelter Mann wie ein Müßiggänger.

BaudelairesFlâneurist ein Künstler, der »Zuflucht in der

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Menge« sucht; Vorbild dafür war sein Lieblingsmaler Cons- tantin Guys, der selbst durch die Stadt flanierte und vielleicht in Vergessenheit geraten wäre, hätte Baudelaire ihn nicht be- rühmt gemacht. Edgar Allen Poes Kurzgeschichte »Der Mann in der Menge« wirft weitere Fragen auf: Ist derFlâneurder- jenige, der folgt, oder dem gefolgt wird? Mischt er sich in die Menge und entschwindet, oder tritt er zurück und schreibt auf, was er sieht? Auf Französisch sind die Wörter für »ich bin« und »ich folge« identisch:je suis. »Sag mir, wem du folgst, und ich sage dir, wer du bist«, schrieb André Breton inNadja.

Selbst für den männlichen Flâneur steht dieflânerie nicht notwendigerweise für Freiheit und Muße; in Flauberts Ver- sion derflâneriespiegelt sich seine eigene soziale Unsicher- heit wieder.îIm frühen neunzehnten Jahrhundert wird der Flâneurmit einem Polizisten gleichgesetzt. In Québec, erzählt mir ein Freund, der dort einige Zeit lebte, sei einFlâneureine Art Trickbetrüger.

Als Beobachter und gleichzeitig Beobachteter ist derFlâneur ein verführerisches, aber leeres Gefäß, eine nackte Leinwand, auf die verschiedene Epochen ihre jeweiligen Sehnsüchte und Ängste projizierten. Er erscheint, wenn man ihn braucht, und zwar in der Form, in der man ihn braucht.ìUnsere Vorstellung vomFlâneurenthält viele Widersprüche, was uns womöglich gar nicht bewusst ist, wenn wir von ihm sprechen. Wir glau- ben zu wissen, was wir meinen, aber dem ist nicht so.

Das Gleiche könnte man über dieFlâneuse sagen. Natür- lich ist es eine relevante Frage, zu welchen Räumen Frauen Zugang hatten, und von welchen sie ausgeschlossen waren.

Þ888 schrieb Amy Levy: »Die weibliche Clubgängerin, dieFlâ- neusein der St James Street mit dem Schlüssel in der Tasche und der Brille auf der Nase, bleibt ein Geschöpf der Fantasie.«8 Schön und gut. Aber es gab zu allen Zeiten viele Frauen in

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der Stadt, und eine Menge Frauen, die über Städte schrieben, Aufzeichnungen über ihr Leben festhielten, Geschichten er- zählten, fotografierten, Filme drehten und sich auf alle mögli- chen Arten mit der Stadt auseinandersetzten – einschließlich Levy selbst. Die Freude daran, durch die Stadt zu streifen, ist Männern und Frauen gleichermaßen zu eigen. Zu behaupten, es könne keine weibliche Version desFlâneursgeben, bedeu- tet, die Möglichkeiten, wie Frauen mit der Stadt in Kontakt stehen, auf die zu beschränken, wie Männer mit der Stadt in- teragiert haben. Wir können über gesellschaftliche Gepflo- genheiten und Einschränkungen diskutieren, aber wir können nicht negieren, dass Frauendawaren; wir müssen versuchen zu begreifen, was es für sie bedeutet hat, sich in der Stadt zu bewegen. Vielleicht liegt die Antwort darin, Frauen nicht in einen männlichen Begriff einpassen zu wollen, sondern den Begriff selbst neu zu definieren.

Wenn wir in der Zeit zurückreisen, war da schon immer eineFlâneuse, die auf der Straße an Baudelaire vorüberging.

+

Liest man nach, wie Frauen im neunzehnten Jahrhundert über sich selbst sprachen, stellt sich tatsächlich heraus, dass bürgerliche Frauen in der Öffentlichkeit unentwegt Gefahr liefen, der eigenen Tugend und dem eigenen Ruf zu scha- den; sich allein in die Öffentlichkeit zu wagen, bedeutete, Schimpf und Schande zu riskieren.ÚFrauen der Oberschicht zeigten sich in offenen Kutschen im Bois de Boulogne oder unternahmen, in Begleitung, Gesundheitsspaziergänge im Park. (Eine Frau im geschlossenen Wagen erregte ein ge- wisses Misstrauen, wie die berühmte Kutschenszene in Ma- dame Bovary belegt.) Die großen gesellschaftlichen Risiken

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für eine alleinstehende junge Frau im späten neunzehnten Jahrhundert kommen deutlich in den achtbändigen Tagebü- chern von Marie Bashkirtseff zum Ausdruck (auf Englisch und gekürzt erschienen unter dem unglaublichen TitelI Am the Most Interesting Book of All (Ich bin das interessanteste Buch der Welt)). Die Tagebücher berichten über ihre Ent- wicklung von der verwöhnten jungen russischen Aristokratin zur erfolgreichen Künstlerin, deren Arbeiten im Pariser Sa- lon ausgestellt werden – nur zweieinhalb Jahre, nachdem sie ernsthaft anfängt, Malerei zu studieren –, und die mit fünf- undzwanzig an Tuberkulose stirbt. Im Januar Þ8ìÚ schrieb sie in ihr Tagebuch:

Ich sehne mich nach der Freiheit, alleine auszugehen:

zu kommen und zu gehen, im Jardin des Tuileries auf einer Bank zu sitzen und ganz besonders, in den Jardin du Luxembourg zu gehen, mir Schaufensterdekorationen anzusehen, in Kirchen und Museen zu gehen und am Abend durch die alten Straßen zu schlendern. Das wün- sche ich mir. Ohne diese Freiheit kann man kein großer Künstler werden.Þþ

Marie hatte vergleichsweise wenig zu verlieren. Sie wusste, dass ihr ein früher Tod bevorstand – warum hätte sie nicht allein herumlaufen sollen? Doch sie hegte noch bis einen Mo- nat vor ihrem Tod die Hoffnung, wieder gesund zu werden, und während sie mit Freuden Schande über ihre Familie ge- bracht hätte, hatte sie gleichzeitig die kulturelle Abneigung gegen junge Frauen, die sich allein auf der Straße zeigten, so tief verinnerlicht, dass sie sich schon für den bloßen Wunsch danach schämte. In ihr Tagebuch schrieb sie, selbst wenn sie sich den gesellschaftlichen Strukturen widersetzen würde,

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wäre sie nur »halb frei, denn eine Frau, die sich herumtreibt, ist töricht.«

Mit ihrer Entourage im Schlepptau lief sie dennoch ganze Tage mit ihrem Notizbuch in der Hand durch die Armenvier- tel von Paris und skizzierte alles, was sie sah. Aus dieser Re- cherche sollten zahlreiche Gemälde hervorgehen, darunter Das Treffenvon Þ884, das jetzt im Musée d’Orsay in Paris hängt und eine Gruppe Gassenjungen an einer Straßenecke abbildet.

Einer von ihnen hält ein Vogelnest in den Händen, die ande- ren beugen sich mit jenem jungenhaften Interesse darüber, das sich als völlige Gleichgültigkeit tarnt.

Und Marie hat einen Weg gefunden, sich selbst in das Bild einzubringen. Im Hintergrund, rechts von den Jungen, in einer anderen Straße, sehen wir ein Mädchen von hinten; ein geflochtener Zopf fällt ihr auf den Rücken, sie entfernt sich von der Gruppe, womöglich allein, obwohl sich das nicht mit Gewissheit sagen lässt, weil das Bild hier abgeschnitten ist.

Wir sehen nicht einmal ihren rechten Arm. Für mich ist das der schönste Teil an diesem Gemälde: Maries Signatur befin- det sich am unteren rechten Bildrand, unter dem Mädchen.

Wir dürfen wohl vermuten, dass sich Marie hier selbst auf die Leinwand gebracht hat: in Gestalt eines Mädchens, das viel- leicht allein davongeht und die Jungen sich selbst überlässt.

+

Das Argument gegen die Existenz derFlâneuseist manchmal mit der Frage der Sichtbarkeit verknüpft. »Für denFlâneurist es entscheidend, praktisch unsichtbar zu sein«, schreibt Luc Sante, um sein Verständnis desFlâneursals ein männliches, und nicht weibliches zu verteidigen.ÞÞDiese Anmerkung ist zu- gleich unfair und schmerzlich zutreffend. Wie gern wären wir

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so unsichtbar wie es Männer sind. Nicht wir selbst machen uns im Sinne Santes sichtbar, im Sinne der Aufregung also, die eine Frau auslösen kann, wenn sie sich allein in der Öffentlichkeit bewegt; es ist der Blickdes Flâneurs, durch den eine Frau, die sich in seine Reihen begeben wollte, zu sichtbar wird, um un- bemerkt vorbeizugehen. Wenn wir aber so sehr ins Auge fallen, warum wurden wir dann aus der Geschichte der Stadt heraus- geschrieben? Es ist an uns, uns wieder in dieses Bild hineinzu- malen, und zwar auf eine Art, die uns gerecht wird.

Wenngleich Frauen aus Marie Bashkirtseffs Schicht bis ins späte neunzehnte Jahrhundert weitgehend mit dem eigenen Zuhause assoziiert wurden, hatten Frauen der Mittel- und Un- terschicht reichlich Gründe, sich auf der Straße aufzuhalten, sei es zum Spielen oder um einer Arbeit nachzugehen, als La- denmädchen, in einer Wohltätigkeitsorganisation, als Dienst- mädchen, Näherin, Wäscherin oder eine von vielen anderen Beschäftigungen auszuüben. Und wenn sie das Haus verlie- ßen, war das nicht nur zweckdienlicher oder beruflicher Art;

in seinen farbenfrohen Gemälden, die das Leben von Frauen der Arbeiterschicht darstellten, zeigt David Garrioch, dass die Straße in gewisser Hinsicht ihnen gehörte. Sie betrieben die meisten Stände auf den Pariser Märkten, und auch zu Hause saßen sie gemeinsam draußen vor den Türen ihrer Wohnun- gen und Häuser und taten das, was Jane Jacobs zweihundert Jahre später »ein Auge auf die Straße haben« nennen würde:

Sie »hatten ein Auge darauf, was vor sich ging, und waren oft- mals die Ersten, die bei Streitigkeiten eingriffen und dazwi- schengingen, um sich prügelnde Männer zu trennen. Ihre Bemerkungen über die Kleidung und das Verhalten der Pas- santen stellte eine Form sozialer Kontrolle dar.«Þ2Sie wussten besser als jeder andere, was in ihrem Viertel geschah.

Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts konnten in 2î

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Städten wie London, Paris und New York Frauen aller Schich- ten den öffentlichen Raum nutzen. Die wachsende Verbrei- tung der Kaufhäuser in den Þ85þer und Þ8îþer-Jahren trug viel dazu bei, dass sich das Bild von Frauen in der Öffentlichkeit normalisierte; in den Þ8ìþer-Jahren führten bereits einige Rei- seführer »Orte in London« auf, »an denen Damen in Ruhe zu Mittag essen konnten, wenn sie einen Tag lang ohne Beglei- tung eines Gentleman zum Einkaufen in der Stadt waren.«Þ3 James Tissots ReiheFünfzehn Porträts der Pariserinaus den Þ88þer-Jahren zeigt Frauen bei allen möglichen Betätigungen in der Stadt: in einem Park sitzend (in Begleitung vonMa- man), bei einem Künstler-Dinner mit ihren Ehemännern (in ihren Korsetts, so steif wie die Karyatiden im Hintergrund) oder auf einem Streitwagen, verkleidet als römische Krieger im Circus, mit einem Strahlenkranz auf dem Kopf wie die Freiheitsstatue. Sein Gemälde The Shop Girlvon Þ885 zieht den Betrachter direkt in das Bild hinein: Das namensgebende Ladenmädchen, groß und schlank, in nüchternes Schwarz ge- kleidet, hält uns zur Begrüßung oder zum respektvollen Ab- schied die Tür auf. Auf dem Tisch liegt ein Durcheinander von Seidenstoffen, ein Band ist zu Boden geglitten. Das Ge- mälde bringt die Frau in der Öffentlichkeit in Verbindung mit dem harten Kommerzialismus des Marktes, doch es suggeriert auch lockere Sitten, ein ungeordnetes Privatleben und inti- mere Orte, an denen Bänder zu Boden gleiten.

In den Þ8Úþer-Jahren gab es auf einmal dieneue Frau, die mit ihrem Fahrrad überallhin fuhr, wo es ihr gefiel, und junge Mädchen ermöglichten sich durch Arbeit in Geschäften und Büros ihre Unabhängigkeit. Seit sich Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das Kino und andere Freizeitaktivitäten durch- setzten und seit dem massenhaften Eintritt von Frauen in die Arbeitswelt während des Ersten Weltkriegs, ist die Anwesen-

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heit von Frauen auf den Straßen sichtbar. Möglich war dies je- doch nur durch das Aufkommen semi-öffentlicher Orte wie Cafés und Teestuben, an denen Frauen allein Zeit verbrin- gen konnten, ohne belästigt zu werden. Und natürlich durch den intimsten aller öffentlichen Orte: die Damentoilette.Þ4Ein weiterer Schlüsselfaktor für die urbane Unabhängigkeit der Frau waren respektable, bezahlbare Pensionen für Unverhei- ratete; oft genug war es schwierig, beide Eigenschaften in ein und derselben Einrichtung vereint zu finden. Wie Jean Rhys’

Romane belegen, bewegten sich viele Frauen am Rande der Ehrbarkeit in heruntergekommenen Häusern, deren Moral- vorstellungen direkt proportional zum Grad ihrer Schäbigkeit anstiegen. Je zwielichtiger ein Etablissement war, umso stren- ger diepatronne. Rhys’ alleinstehende Frauen in der Stadt lie- gen im ewigen Zwist mit den Vermieterinnen ihrer Absteigen.

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Die Namen, die eine Stadt ihren Sehenswürdigkeiten – und ins- besondere ihren Straßen – gibt, spiegeln die Werte dieser Stadt wider und zeigen, wie sich diese im Laufe der Zeit verändern.

In dem Bemühen, den öffentlichen Raum zu säkularisieren (und angeblich zu demokratisieren), wurden Straßennamen, die einst weibliche Heilige, Herrscherinnen und Frauenfiguren der Mythologie geehrt hatten, in der Moderne durch säkulare, demokratische Helden ersetzt – allesamt Männer. Intellektuelle, Wissenschaftler, Revolutionäre.Þ5 Doch in solcher Unvoreinge- nommenheit können jene übersehen werden, denen das kul- turelle oder geschlechtsspezifische Kapital fehlt, sich in einer Kultur durchzusetzen, was dazu führt, dass Frauen mit dem überholten Regime identifiziert und mit »dem Privaten, dem Traditionellen und Anti-Modernen« assoziiert wurden.Þî

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Wenn sie doch vorkommen (und das ist nicht oft der Fall, in Edinburgh gibt es doppelt so viele Statuen von Hunden wie von Frauen), werden Frauen dekorativ oder idealisiert darge- stellt, in Stein gehauen als Allegorien oder Sklavinnen. Der Obelisk an der Pariser Place de la Concorde, wo der König guillotiniert wurde (und die Königin, und Charlotte Corday, Danton, Olympe de Gouges, Robespierre und Desmoulins und Tausende andere, deren Namen die Geschichte vergessen hat), ist von Frauenstatuen umringt, die verschiedene französische Städte repräsentieren. Das Vorbild für James Pradiers Skulp- tur von Straßburg soll entweder Victor Hugos Geliebte Juliette Drouet oder Flauberts Geliebte Louise Colet gewesen sein.Þì Deshalb ist diese Statue für mich nicht nur eine Allegorie auf Straßburg, sondern steht für alle Geliebten von großen Schrift- stellern und Künstlern, die selbst zeichneten und malten und vielleicht nie aus dem Schatten ihrer Liebhaber heraustreten konnten, obwohl sie, abstrahiert als eine von zwei Staaten um- kämpfte Stadt, am helllichten Tag mitten in Paris sitzen.Þ8

ÞÚÞî besprach Virginia Woolf London Revisited von E.V.

Lucas für die Literaturbeilage derTimes. Seine Darstellung von Londons Vergangenheit und Gegenwart umfasst eine Auflistung der Denkmäler der Stadt. Doch ein bestimmtes verschweigt er, und Woolf fragt: »Warum wird die Frau mit der Amphore vor den Toren des Foundling Hospitals nicht erwähnt?«ÞÚ Noch heute kniet sie dort mit ihrem Krug, an einem modern aussehenden Trinkbrunnen auf einer Ver- kehrsinsel gegenüber von Coram’s Fields. Der Bildhauer ist unbekannt. Die Statue, eine Frau, bekleidet mit einer Toga oder Tunika, die Haare in offenen Locken herabfallend, wird manchmal »Die Wasserträgerin« oder »Die Frau aus Sama- ria« genannt, nach jener Frau, die an einem Brunnen mit Jesus sprach und ihn als Propheten erkannte.

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In den Straßen einer jeden großen Stadt wird einem, wenn man darauf achtet, eine weitere Art Frau auffallen, die unbe- wegt dasteht. Die französische Regisseurin Agnès Varda pro- duzierte in den ÞÚ8þer-Jahren einen Kurzfilm mit dem Titel Les dites-cariatides(Die sogenannten Karyatiden), in dem sie mit ihrer Kamera durch Paris streift, um nach Beispielen für eine architektonische Kuriosität zu suchen: die Karyatiden, jene steinernen Frauen, die als lastentragende Säulen die gro- ßen Gebäude der Stadt stützen. Man findet sie überall in Paris.

Sie treten jeweils zu zweit oder zu viert auf, manchmal auch in deutlich größeren Gruppen, je nach Prunkfaktor des Ge- bäudes. Manchmal sind es auch Männer. Dann nennt man sie Atlanten, nach Atlas, der die Welt auf seinen Schultern trägt.

Die männlichen Karyatiden, die Varda beobachtet, werden mit schwellenden Muskeln dargestellt, während die Frauen alle rank und schlank sind und mit müheloser Eleganz posie- ren: Falls ihnen das Bauwerk, das sie tragen müssen, zu schwer ist, würden wir es ihnen nie ansehen.

Andererseits sehen wir sie eigentlich nie richtig an. Vardas Film endet mit einer enorm großen Karyatide im dritten Ar- rondissement. Sie ist so groß, dass sie an einem Gebäude in der belebten Rue Turbigo über drei Stockwerke reicht. Varda fragt Anwohner nach deren Meinung zu dieser Frau, doch die hat- ten die Figur noch nicht einmal bemerkt. Wie der Schriftstel- ler Robert Musil feststellte, ist es das Wesen eines Denkmals, unbemerkt zu bleiben. »Sie werden doch zweifellos aufgestellt, um gesehen zu werden, ja geradezu, um die Aufmerksamkeit zu erregen; aber gleichzeitig sind sie durch irgendetwas gegen Aufmerksamkeit imprägniert.« Und dennoch nehmen wir sie auf einer unterschwelligen Ebene wahr. In ihrem BuchMonu- ments & Maidensmutmaßt Marina Warner, würde jemand die Statue des Gesetzes (allegorisch als Frau dargestellt) von der

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Place du Palais-Bourbon entfernen, würden wir alle irgend- wie spüren, dass etwas fehlt, selbst wenn wir nicht wüssten, was. Wir sind stärker auf unsere Umgebung eingestimmt als uns bewusst ist.

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Auch heute noch hat dieFlâneuse mit ihrer Sichtbarkeit zu kämpfen, obwohl sie sich in der Stadt inzwischen mehr oder weniger frei bewegen kann.

Heutzutage findet man eher einen politisch motivierten Nachfahren der baudelaireschen flânerie in den Städten, einen, der sich eher der Methode desdériveoder »Treiben- lassens« bedient. Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts erfand eine Gruppe radikaler Dichter und Künstler, die sich Situatio- nisten nannten, die »Psychogeografie«, bei der aus ziellosem Umherstreifen ein Treibenlassen wurde und aus losgelöster Beobachtung eine Kritik des Nachkriegsurbanismus. Urbane Entdecker nutzten das dérive, um das emotionale Kraftfeld der Stadt zu kartografieren und zu erkunden, wie sich Archi- tektur und Topografie zu »psychogeografischen Konturen«

verbinden.Robert Macfarlane, ein Schriftsteller und Fuß- gänger, der weniger in der Stadt als auf dem Land unterwegs ist, fasst die Methode zusammen: »Man klappt einen Stadtplan von London auf, stellt ein Glas mit der Öffnung nach unten darauf und umfährt den Rand mit einem Stift. Dann nimmt man die Karte, geht raus in die Stadt und folgt diesem Kreis, wobei man sich so nah wie möglich an die gezeichnete Linie hält. Unterwegs hält man das Erlebnis mit einem Medium sei- ner Wahl fest: Film, Foto, Handschrift, Tonband. Man fängt die textlichen Abschwemmungen der Straße auf, die Graffi- tis, die Markennamen auf Verpackungsmüll, Gesprächsfetzen.

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Man liest Spuren, protokolliert den Datenstrom, achtet auf zu- fällige Metaphern, hält Ausschau nach visuellen Reimen, Zu- fällen, Analogien, Familienähnlichkeiten, den wechselnden Launen der Straße.«22Der Ausdruck »Psychogeografie« wird von vielen von Macfarlanes Zeitgenossen (manchmal iro- nisch) übernommen oder aber abgelehnt: Will Self verwen- dete den Terminus als Überschrift für einen Essay. Ian Sinclair sah das Wort skeptisch, da es vereinnahmt worden und zu einem »sehr hässlichen Markenzeichen« geworden sei. Er bevorzuge den Ausdruck »tiefe Topografie«, den er von Selfs gutem Freund Nick Papadimitriou hat (dieser spricht davon, auf bestimmten Spaziergängen eine festgelegte Umgebung

»eingehend zu studieren«).

Wie man sie auch nennen will, diese Erben der Situationis- ten im ausgehenden letzten Jahrhundert haben jedenfalls Bau- delaires beschränkte Vorstellung von der Frau auf der Straße geerbt. Self erklärte die Psychogeografie – nicht ohne eine ge- wisse persönliche Enttäuschung – zur Männerarbeit und ver- festigte damit das Bild des Fußgängers in der Stadt als das einer Figur mit männlichen Privilegien.23 Self ging so weit, die Psychogeografen als eine »Burschenschaft« zu beschrei- ben: »mittelalte Männer in Gore-Tex, bewaffnet mit Kamera und Notizbüchern, die sich auf Vorortbahnsteigen die Stiefel platttreten, die Betreiber von Teeständen in moosigen Parks höflich bitten, unsere Thermoskannen aufzufüllen, und nach den Zielorten von Überlandbussen fragen […] und sich mit schwellender Prostata über die Glasscherben hinter einer still- gelegten Brauerei am Stadtrand bücken.«

Er klingt tatsächlich gar nicht so viel anders als Louis Huart, der Þ84Þ denFlâneurdefiniert: »Gute Beine, gute Ohren, gute Augen, […] das sind die grundlegenden physischen Eigen- schaften, die ein Franzose mitbringen muss, um in den Club

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derFlâneureaufgenommen zu werden, sobald wir ihn gegrün- det haben werden.«24Die großen urbanen Schriftsteller, die großen Psychogeografen, von denen man am Wochenende imObserverliest: Sie alle sind Männer, und sie schreiben stets über die Arbeiten anderer Männer und schaffen so einen reifi- zierten Kanon schreibender, spazierengehender Männer.25 Als wäre ein Penis eine Art Wanderstab, ein notwendiges Anhäng- sel, das man zum Gehen braucht.

Ein Blick in das psychogeografische FanzineSavage Mes- siah, entworfen von der Grafikerin Laura Oldfield Ford, zeigt, dass dem eigentlich nicht so ist; Ford geht zu Fuß durch ganz London, sie zieht es von der Innenstadt hinaus in die Vor- orte, und überall skizziert sie, was sie sieht. Ihre Skizzen ent- hüllen eine Hauptstadt inmitten von Ballard’schen Vororten:

Wohnblöcke, verlassene Behelfsbauten, Anker in einem Meer aus Unrat, Abfall und Zorn. Selbst Woolf, Großbritanniens schicklichste Modernistin und Lieblingszielscheibe männli- cher Literaten, die sie niedermachten, um ihre Männlichkeit aufzupolieren, streifte gern durch die hässlichen Ecken von London. Eines Tages im Jahr ÞÚ3Ú verschlug es sie in die Nähe der Southwark Bridge, sie »sah eine Treppe, die zum Fluß hin- unterführte. Ich ging sie hinunter – unten ein Seil. Entdeckte das Themseufer, unter den Lagerhallen – übersät mit Steinen, Drahtstücken […] Sehr glitschig; die Lagerhallenmauern ver- krustet, voller Unkraut, abgewetzt. Bei Flut müssen sie unter Wasser stehen.«

Es wäre schön, ja ideal, wenn wir nicht nach Geschlech- tern unterteilen müssten – Spaziergänger und Spaziergän- gerinnen,Flâneure undFlâneusen–, doch die Narrative des Gehens lassen die weiblichen Erfahrungen zu sehr vermis- sen.Sinclair räumt ein, die von ihm bewunderten Arbei- ten der tiefen Topografie sähen den Spaziergänger als eine

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typisch britische Figur: den Naturbeobachter.28 Diese Art der Interaktion mit der Welt interessiert mich nicht sonder- lich. Ich mag die bebaute Umgebung, ich mag Städte. Nicht ihre Grenzen oder die Orte, an denen sie zu Nicht-Städten werden. Städte selbst. Ihre Zentren. Ihre vielfältigen Viertel, Bezirke, Gegenden. Und es waren die Stadtzentren, in de- nen Frauen an Macht gewannen: indem sie sich mitten hin- einstürzten und Orte betraten, die nicht für sie vorgesehen waren. Orte, an denen sich andere (Männer) bewegen konn- ten, ohne Anlass zu einem Kommentar zu geben. Das ist der grenzüberschreitende Akt. Eine Frau braucht nicht in Gore- Tex herumzustapfen, um subversiv zu sein. Sie braucht ein- fach nur vor die Haustür zu gehen.

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Fast zwei Jahrzehnte nach diesen ersten Experimenten in der Flâneuserie laufe ich immer noch zu Fuß durch Paris, nachdem ich durch New York, Venedig, Tokio und London gelaufen bin, wo ich, der Arbeit oder der Liebe wegen, vor- übergehend gewohnt habe. Es ist eine Gewohnheit, und sie lässt sich schwer ablegen. Warum gehe ich zu Fuß? Weil ich es mag. Ich mag den Rhythmus, ich mag, dass mir mein Schat- ten auf dem Bürgersteig immer ein kleines Stück voraus ist.

Ich mag es, jederzeit stehen bleiben zu können, wenn mir da- nach ist, mich an eine Hauswand zu lehnen und eine Notiz in mein Tagebuch zu schreiben oder eine E-Mail zu lesen oder eine Nachricht zu verschicken, und dass die Welt währenddes- sen stillsteht. Paradoxerweise erschafft das Gehen für mich die Möglichkeit des Stillstands.

Gehen ist Kartografieren mit den Füßen. Es hilft, sich die Stadt zusammenzusetzen, Viertel miteinander zu verknüpfen,

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die sonst separate Entitäten geblieben wären, verschiedene Planeten, die fest, aber über eine große Entfernung mitein- ander verbunden sind.

Ich mag es, Übergänge zu betrachten und die Grenzen zwi- schen den Vierteln zu entdecken. Gehen hilft mir, mich zu Hause zu fühlen. Es bereitet mir ein gewisses Vergnügen zu sehen, wie gut ich eine Stadt durch meine Spaziergänge bereits kennengelernt habe; dabei streife ich durch verschiedene Vier- tel, einige, die ich einmal sehr gut kannte, andere, die ich viel- leicht schon länger nicht mehr besucht habe, als würde man jemanden neu kennenlernen, dem man mal auf einer Party begegnet ist.

Manchmal gehe ich spazieren, weil mir etwas im Kopf her- umgeht und mir das Gehen hilft, meine Gedanken zu ordnen.

Solvitur ambulando, wie man sagt.

Ich gehe, weil es mir ein Gefühl der Verortung verleiht – oder zurückgibt. Der Geograf Yi-Fu Tuan sagt, Räume werden zu Orten, wenn wir ihnen mittels Bewegung eine Bedeutung einschreiben, wenn wir sie als etwas betrachten, das wahrge- nommen, erfasst, erfahren werden kann.

Ich gehe, weil es in gewisser Hinsicht wie lesen ist. Wir be- kommen Einblicke in das Leben und die Gespräche anderer Menschen, die nichts mit uns selbst zu tun haben; wir können sie belauschen. Manchmal ist es zu voll, und manchmal sind die Stimmen zu laut. Aber man ist immer in Gesellschaft. Wir sind nicht allein. Wir gehen Seite an Seite mit den Lebenden und den Toten durch die Stadt.

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Nachdem ich einmal angefangen hatte, nach derFlâneuse Aus- schau zu halten, fand ich sie überall.

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Ich entdeckte sie an Straßenecken in New York, sah sie aus Türen in Tokio kommen, Kaffee trinken an einem Bistrotisch in Paris, ich sah sie am Fuß einer Brücke in Venedig oder auf einer Fähre in Hongkong.

Sie geht irgendwohin oder kommt von irgendwoher; sie ist der Inbegriff des Dazwischen-Seins.

Vielleicht ist sie Schriftstellerin, vielleicht Künstlerin, viel- leicht Sekretärin oder Au-pair-Mädchen. Vielleicht ist sie ar- beitslos. Vielleicht arbeitsunfähig. Vielleicht ist sie Ehefrau oder Mutter oder völlig ungebunden. Wenn sie müde ist, nimmt sie vielleicht den Bus oder die Bahn. Aber meistens geht sie zu Fuß. Sie lernt die Stadt kennen, indem sie durch ihre Straßen streift, ihre dunklen Ecken erkundet, hinter Fas- saden blickt und in geheime Innenhöfe vordringt. Sie nutzt die Stadt als Bühne und als Versteck, um Ruhm und Reichtum zu finden oder die Anonymität, um sich aus Unterdrückung zu befreien oder anderen Unterdrückten zu helfen, um ihre Un- abhängigkeit zu erklären, um die Welt zu verändern oder sich von ihr verändern zu lassen.

Ich habe viele Schnittstellen zwischen ihnen gefunden;

diese Frauen haben alle übereinander gelesen und vonein- ander gelernt, und ihre Lektüre bildet mit der Zeit ein so weit verzweigtes Netz, dass sie sich einer Katalogisierung entzieht.

Die Porträts, die ich hier zeichne, belegen, dass dieFlâneuse mehr ist als nur ein weiblicherFlâneur, sie steht für sich allein, ist eine beachtenswerte und inspirierende Gestalt. Sie geht auf Reisen, sie geht an Orte, die nicht für sie bestimmt sind; sie konfrontiert uns damit, wie die WörterZuhauseundZugehö- rigkeitgegen Frauen verwendet werden. Sie ist ein entschlos- senes, kreatives Individuum mit einem tiefen Gespür für das schöpferische Potenzial einer Stadt und die befreiende Kraft eines guten Spaziergangs.

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