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Archiv "Herzogs zweiter „Ruck“" (24.10.2003)

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P O L I T I K

A

A2768 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 4324. Oktober 2003

KOMMENTAR

A

ls Bundespräsident hatte Roman Herzog in seiner „Ruck-Rede“

dafür geworben, den Reform- stau in Deutschland aufzulösen. Jetzt liefert er die Rezepte nach. Zustim- mung und Kritik daran halten sich in etwa die Waage. Die Kritiker stürzen sich vor allem auf die Vorschläge, von 2013 an die Gesetzliche Krankenver- sicherung (GKV) über „Kopfpauscha- len“ zu finanzieren und die Altersgren- ze schrittweise bis 2030 auf 67 Jahre anzuheben. Sie sehen den Sozialstaat dadurch bedroht. Das ist Unsinn.

Wenn der Sozialstaat tatsächlich in Gefahr geraten sollte, so läge dies vor allem an der Unfähigkeit der Po- litik, frühzeitig und konsequent auf den Geburtenrückgang und den Anstieg der Lebenserwar- tung zu reagieren. Statt die Aus- gaben-Dynamik zu drosseln, hat man neue Leistungen beschlos- sen und deren Kosten auf Bei- trags- und Steuerzahler abgewälzt.

Wachstumsverluste und Arbeitslosig- keit waren die vorhersehbaren Folgen.

Jetzt ist guter Rat teuer. Die aktuelle Lage sowie die wirtschaftliche und demographische Perspektive ist so schlecht, dass es keine Lösungen mehr gibt, die nicht aus der einen oder ande- ren Sicht zu kritisieren wären. Der Zwang zum Handeln ist so groß gewor- den, dass auch Maßnahmen, die mit kaum zumutbaren Härten verbunden wären, toleriert werden müssten, wenn sie denn geeignet wären, die Wachs- tumskräfte der Volkswirtschaft zu stär- ken und die Sozialsysteme zu stabilisie- ren. Die Einschnitte werden aber nur dann akzeptiert, wenn sie von den Bür- gern verstanden werden und die Politik Vertrauen verdient. Dieses hat sie ver- spielt. Das belastet jede Reform.

Herzog hat seinem Papier drei Grundsätze vorangestellt: Die großen, vom Einzelnen nicht zu tragenden Le- bensrisiken seien abzudecken, für die Folgen kleinerer Risiken müsse jeder künftig stärker eintreten. Die Fähig- keit zur Vorsorge dürfe nicht durch ei- ne übermäßige Belastung mit Steuern und Sozialabgaben beeinträchtigt wer-

den. Der jungen Generation seien nicht höhere Belastungen zuzumuten, als die ältere Generation für sich selbst zu tragen bereit sei. Gestritten wird jetzt vor allem über Verteilungsfragen.

So wichtig diese auch sind, der Streit darf nicht die Bemühungen um mehr Wachstumsdynamik konterkarieren.

Das hat Priorität und nützt allen.

Für die Freien Berufe ist, mit Blick auf die Stabilität ihrer Altersversor- gung, zunächst einmal beruhigend, dass sich die Herzog-Kommission dagegen ausgesprochen hat, Beamte, Freibe- rufler und sonstige Selbstständige in die gesetzliche Rentenversicherung (RV)

einzubeziehen. Das ist sachgerecht und bedeutet die Absage an die allumfassen- de Bürgerversicherung. Auch wird Vor- schlägen widersprochen, andere Ein- kunftsarten zur RV beitragspflichtig zu machen. Die Mehrheit der Rürup-Kom- mission hat ebenfalls so votiert.

Der von Rürup und Herzog vorge- schlagene demographische Faktor, der nicht nur den Anstieg der Lebenser- wartung, sondern auch das Verhältnis von Beitragszahler zu Rentnern be- rücksichtigt, ist konsequent und unver- zichtbar. Das Rentenniveau wird da- durch kontinuierlich abgeschmolzen.

Rentner werden kaum noch mit realen Zuwächsen ihrer Bruttobezüge rech- nen können; bei den verfügbaren Ein- kommen haben sie wegen höherer Belastungen in der GKV und in der Pflegeversicherung zum Teil mit dra- matischen Einbußen zu rechnen. Auf die Versorgungswerke ist der demo- graphische Faktor nicht zu übertragen.

Diese berücksichtigen schon heute bei der Renten-Anpassung die längeren Renten-Laufzeiten wegen der Alte- rung der Berufsstände.

Einige Empfehlungen Herzogs zur Alterssicherung müssen sehr kritisch

bewertet werden: Die erst Anfang die- ses Jahres eingeführte und der Sozial- hilfe zugeordnete „Soziale Grundsiche- rung“ soll in die RV integriert werden.

Ziel ist eine steuerfinanzierte und von Bedürftigkeit abhängige „Basisrente“, die um etwa 15 Prozent die Leistungen der Sozialhilfe übersteigt. Vorausge- setzt wird, dass „sehr lange“ Renten- beiträge gezahlt worden sind; gedacht wird an 30 Jahre. In das System soll also wegen des Abschmelzens des Renten- niveaus eine Mindestsicherung einge- baut werden. Damit würde gegen das Prinzip der Beitragsbezogenheit der Rente verstoßen und das Bedarfsprin- zip in die RV eingeführt. Der Weg zur steuerfinanzierten Grundren- te wäre frei. Langfristig würde dies auch die Stellung der Versor- gungswerke im gegliederten Sy- stem verändern.

Der Beitragsbezogenheit der Rente würde es auch widerspre- chen, wenn vorgezogene Renten nach 45 Beitragsjahren ohne Abschlag ausge- zahlt würden. Bei gleich hohen Bei- trägen würden so unterschiedlich hohe Renten gewährt. Hinterbliebenenren- ten sollen schrittweise abgeschmolzen und schließlich ganz abgeschafft wer- den. Das schafft für Frauen den Zwang, mehr als 30 Jahre erwerbstätig zu sein, selbst wenn künftig sechs Erziehungs- jahre angerechnet werden sollten.

Die Kommission will überall, wo es geht, durch Kapitalbildung die künfti- gen Beitragszahler entlasten. Das ist im Grundsatz richtig, aber schwer zu reali- sieren, denn zunächst steigen die Bela- stungen. Herzog will die Konditionen der Riester-Rente verbessern und ver- einfachen. In der GKV soll in den nächsten zehn Jahren aus Beiträgen der Versicherten ein kollektiver Kapi- talstock aufgebaut werden, mit dessen Hilfe nach 2012 der Übergang zu einer dem individuellen Risiko entsprechen- den Prämie ermöglicht werden soll.

Das ist eine recht gewagte Konstrukti- on. Da soll mit individuell nach dem Einkommen bemessenen Beiträgen ein kollektiver Fonds angesammelt werden, dessen Mittel später aber nur

Herzogs

zweiter „Ruck“

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den älteren Versicherten zugute kä- men. Da bewegt sich Herzog im ver- fassungsrechtlichen Minenfeld.

Die Vorschläge der Herzog-Kom- mission werden sich so nicht verwirk- lichen lassen. Das gilt wohl auch für die Kopfpauschalen. Rürup und Her- zog haben jedoch eine notwendige Diskussion angestoßen. Politische Ta- bus werden geschleift. Unverzichtbar ist, die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung vom Arbeitsver- hältnis abzukoppeln. Das wäre jedoch durch den Abbau des hälftigen Ar- beitgeberanteils schneller als über die Kopfpauschale zu erreichen. Herzog will den Sozialausgleich nicht mehr über die Sozialsysteme, sondern über das Steuersystem organisieren. Das verspräche mehr Transparenz, hätte aber seinen Preis: mehr Bürokratie.

Da an der Finanzierung dieser Trans- fers künftig prinzipiell alle Bürger und alle Einkommen beteiligt wären, würde auf diesem Umweg doch eine Art Bürgerversicherung eingeführt.

Dahin führt auch Herzogs Vorschlag, alle Einkunftsarten zur GKV bei- tragspflichtig zu machen, obwohl wei- terhin nur Arbeitnehmer versichert werden sollen. Das widerspricht sich.

Warum sollen Zins- und Mieteinnah- men beim Arbeitnehmer und Rent- ner sozialpflichtig sein, bei den übri- gen Bürgern aber nicht?

Herzog will mehr als 50 Milliarden Euro vom Sozialsystem auf den Staat verlagern, Schulden sollen abgebaut, Steuern gesenkt und vereinfacht wer- den. Eine solche Operation wird kaum gelingen. Schon wird in den politischen Zirkeln über neue „solidarische“ Steu- erzuschläge oder eine einkommensbe- zogene Staffelung der Kopfpauschalen nachgedacht. Das wären die üblichen politischen Lösungen, die viel verspre- chen, aber wenig nützen. Rentner, vor allem jene, die zusätzlich vorgesorgt haben, können, je nach Einkommens- Mix, in den nächsten zwei Jahren und auf Dauer durch die Kumulation der Maßnahmen massiv höher belastet werden. Das wird an den Verfassungs- grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauensschutzes zu messen sein. Walter Kannengießer

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A2770 Deutsches ÄrzteblattJg. 100Heft 4324. Oktober 2003

Forschung

Radar für

Innovationen

Forschungsinstitut will Neuentwicklungen für die Gesundheitsversorgung sammeln und veröffentlichen.

N

euentwicklungen im Gesund- heitswesen will von nun an ein eigens gegründetes „Zentrum für Innovation in Medizin und Versor- gung“ systematisch erfassen und pu- blizieren. Das kündigte Prof. Dr. Ber- tram Häussler, Geschäftsführer des Instituts für Gesundheits- und So- zialforschung (Iges), an. Mit der Iges- Gründung sollen Informationen über Neuerungen aus der Grundlagenfor- schung, Klinik, Geräteindustrie so- wie aus der Qualitätssicherung und künftig der Prävention aufbereitet und in einem „Jahrbuch der Innova- tionen“ Interessierten zugänglich ge- macht werden.

Ein weltweites Informationsnetz

Ähnlich einem Radarsystem habe man bereits Anfang des Jahres begonnen, ein weltweites Informationsnetz zu spannen, das mittlerweile täglich 20 bis 30 Nachrichten über Neuentwicklun- gen empfängt, sagte Häussler bei einem gemeinsam mit dem Bundesverband der Betriebskrankenkassen (BKK) und der Deutschen Krankenversicherungs AG (DKV) organisierten „Innovati- onskongress“ seines Instituts in Berlin.

Aufwendigen Prüfverfahren, im Sinne der medizinischen Technologiebewer- tung (HTA), könnten die Meldungen jedoch nicht unterzogen werden, er- klärte der Iges-Chef.

Fündig würden die Experten meist in Fachpublikationen und im Internet.

Firmen könnten ihre Neuentwicklun- gen aber auch selbst in eine eigens hier- für entwickelte Datenbank eintragen.

Damit könne das Zentrum nach Mei-

nung Häusslers dazu beitragen, den Stellenwert von Innovationen auch für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu verbessern. Immer mehr Unterneh- men der Gesundheitswirtschaft wür- den ihre Aktivitäten ins Ausland verle- gen. Deutschland verliere damit den Rang in der Wissenschaftswelt, den es wegen seiner Rolle in der Weltwirt- schaft eigentlich besetzen müsste. Da- bei würden medizinische Innovationen einen der größten Wachstumsmärkte der Zukunft darstellen. Das Gesund- heitssystem sei schon heute der größte Wirtschaftszweig. Jeder neunte Ar- beitsplatz befinde sich dort, betonte Häussler.

Generalverdacht der Geschäftemacherei

Für einen Mentalitätswechsel in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) sprach sich Dr. Robert Paquet, Leiter des Berliner Büros des BKK- Bundesverbandes, aus. Wenn vom „me- dizinischen Fortschritt“ die Rede ist, löse das bei den Krankenkassen meist einen kleinen Schrecken aus. Deshalb sollten die Krankenkassen lernen, nicht alle neuen Entwicklungen und Inno- vationen unter den Generalverdacht der unberechtigten Geschäftemacherei zu stellen.

Gleichzeitig müssten aber auch zen- trale Hindernisse für eine bessere För- derung von Innovationen durch die GKV, wie die sektorale Finanzierung und die Budgetierung der abgegrenzten Leistungsbereiche, ausgeräumt werden.

Um hier Bewegung hineinzubringen sollten die Krankenkassen nach Auffas- sung Paquets künftig die Möglichkeit von Modellversuchen und Einzelver- trägen etwa bei der integrierten Versor- gung stärker nutzen.

Auch Dr. Klaus-Jürgen Preuß, Lei- ter der Abteilung Gesundheitsmanage- ment bei der DKV, betonte als Reprä- sentant der privaten Krankenversiche- rung, dass höhere Ausgaben nicht zu den unabweisbaren Folgen von Investi- tionen gehören müssen. Preuß: „In ei- nem wettbewerblich organisierten Ge- sundheitssystem können Innovationen zu Kostensenkung und Nutzensteige- rung beitragen.“ Samir Rabbata

Referenzen

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