A 2218 Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 107|
Heft 45|
12. November 2010SOZIALE SICHERUNG IN EINER GLOBALISIERTEN GESELLSCHAFT
Suche nach neuen Strategien
Der internationalen Zusammenarbeit im Gesundheitsbereich fehlt bislang ein übergreifender Ansatz. Die Gesellschaft für Versicherungswissenschaft und Gestaltung liefert mit ihrem Reformkonzept eine Orientierungshilfe.
D
as deutsche Sozialversiche- rungssystem als Export- schlager? Nach Auffassung der Ge- sellschaft für Versicherungswissen- schaft und Gestaltung (GVG) wäre das durchaus denkbar. Schließlich genieße das deutsche Modell der sozialen Sicherung in vielen Län- dern der Welt hohes Ansehen.In ihrem Werk „Soziale Siche- rung in einer globalisierten Gesell- schaft“* spricht sich die Gesell- schaft deshalb dafür aus, bewährte deutsche Systemlösungen für die spezifischen Reformbedürfnisse von Entwicklungs- und Schwellenlän- dern aufzubereiten und zu „expor- tieren“. Dabei gelte es, entwick- lungs-, sozial- und wirtschaftspoli- tische Ziele in einer umfassenden Gesamtstrategie zu vereinen.
Spezielle Kenntnisse gefragt
Dem Ansatz liegt die Erkenntnis zugrunde, dass die Schwellen- und Entwicklungsländer innerhalb und außerhalb Europas vor großen Her - ausforderungen bei der Reform ih- rer sozialen Sicherungssysteme ste- hen, die sie allein nicht bewältigen können. Dies treffe einige Staaten vor dem Hintergrund einer zuneh- menden Überalterung, Armut und der Ausbreitung von Infektions- krankheiten wie HIV/Aids oder Malaria besonders hart. Die GVG bedauert, dass der großen Nachfra-ge nach spezifischem Know-how zum Ausbau der sozialen Siche- rungssysteme bislang kaum entspre- chende Angebote aus Deutschland gegenüberstünden. „Die System - lösungen eines der leistungsfähigs- ten Sozialsysteme spielen weder bei den internationalen Geberorganisa- tionen noch in der deutschen Ent- wicklungszusammenarbeit noch in den derzeitigen Initiativen zur Ex- portförderung im Gesundheitsbe- reich eine angemessene Rolle“, kri- tisiert die Gesellschaft.
Ferner liege der Fokus vornehm- lich auf dem Export von technischen Innovationen aus den Bereichen Arzneimittel und Medizinprodukte.
Eine bedarfsorientierte internationa- le Zusammenarbeit müsse aber zu- gleich den Export von Ideen zur Fi- nanzierbarkeit sozialer und medizi- nischer Leistungen für die breite Bevölkerung beinhalten, erklärt die GVG. Demnach seien auch immate- rielle Versorgungsleistungen und Kon- zepte, wie ordnungspolitische, nor- mative und administrative Verfahren als „Exportgüter“ zu betrachten.
Gemeint sind damit sowohl grundlegende Prinzipien wie Chan- cengleichheit, Solidarität, Subsidia- rität und Mitbestimmung als auch das Prinzip der Sozialversicherung und der Selbstverwaltung. Darüber hinaus bietet es sich aus Sicht der GVG an, Verfahren zur Leistungs- vergütung, wie die Diagnosis Re - lated Groups, Meldeverfahren oder Case-Management-Konzepte für die speziellen Bedürfnisse in den ent- sprechenden Ländern aufzubereiten.
Dabei sollte die Beratung weniger auf die Vermittlung von Konzepten setzen, als vielmehr die Prozesse in ihrer Umsetzung unterstützen. Denn Defizite bestünden vor allem in der
Implementierung von Reformansät- zen, so die Erfahrungen der GVG.
Als schwierig erweise sich dabei, dass viele Reform- und Beratungs- ansätze bislang auf Insellösungen abzielten, die sich später nur schwer zusammenführen ließen. Auch wür- den Bereiche wie der öffentliche Gesundheitsdienst, der Arbeits- schutz oder die Verwaltungs-, Steu- er-, Arbeits- und Sozialgesetzge- bung häufig vernachlässigt.
Bulgarien: Vorbild ist die DKG
Wie groß der Bedarf an Beratung und Unterstützung jenseits des Ex- ports von Gesundheitstechnologien ist, zeigt das Beispiel Bulgarien.Der bulgarische Verband der Priva- ten Krankenanstalten bemüht sich derzeit darum, sich als Selbstver- waltung nach dem Vorbild der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) zu etablieren, um im Land gesundheitspolitische Mitverantwor- tung übernehmen zu können.
Ein Grund für das Anliegen: In Bulgarien besteht keine wirkliche Trägerpluralität. Private Kliniken sind den öffentlichen Einrichtungen zwar rechtlich gleichgestellt. Aller- dings dürfen sie nicht mit den natio- nalen Krankenkassen verhandeln.
Die Behandlung von gesetzlich Versicherten bleibt ihnen deshalb verwehrt. Im Rahmen eines Pro- jekts unter Beteiligung der DKG werden derzeit die rechtlichen Än- derungsmöglichkeiten geprüft. Aber auch in China, Georgien, der Ukrai- ne, Rumänien und anderen Ländern laufen bereits Projekte, die als Ori- entierungshilfe für eine verbesserte internationale Zusammenarbeit die- nen könnten. Gemeinsames Merk- mal dieser Ansätze ist der direkte Informations- und Erfahrungsaus- tausch zwischen „Praktikern“. ■ Petra Spielberg Mitglieder der Gesellschaft für Versicherungswissenschaft
und Gestaltung sind die gesetzlichen Sozialversicherungen, die privaten Kranken-, Pflege- und Lebensversicherungen und deren Verbände, berufsständische und betriebliche Ein- richtungen der sozialen Sicherung sowie Leistungserbringer aus den unterschiedlichen Bereichen des Gesundheitswe- sens, Gewerkschaften, Arbeitgeber und deren Vertretungen.
PROFIL DER GVG
*Schriftenreihe der GVG, Bd. 65