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Archiv "„Der Schweiß, der ein Kunstwerk kittet”" (02.03.1978)

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Gerhart Hauptmann, Aufnahme aus dem Jahre 1940

Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen FEUILLETON

Einen Blick in die Werkstatt eines Schriftstellers oder Dichters zu wer- fen, ihm bei der Arbeit zuzusehen, wie er sein Material sammelt, es zu- sammenbaut und ihm schließlich den letzten Glanz gibt, macht ein ungemeines Vergnügen und gibt Aufschluß über des Künstlers Per- sönlichkeit. Immer wieder hören wir von Dichtern das Bekenntnis, daß sie von einer eigenartigen Unruhe erfaßt werden, sobald eine neue Idee in ihrem Kopf aufleuchtet. Ein rast- loser Arbeitsdrang zwingt sie an den Schreibtisch. Ihre Arbeit geht oft einher mit einer unvergleichlichen Schaffenslust, die einmündet in eine gehobene Gemütsstimmung.

So stellte sich bei Otto Ludwig zu Anfang der schöpferischen Arbeit meist eine musikalische- Stimmung ein, bis schließlich vor seinem inne- ren Auge Gestalten erschienen, de- nen sogar eine ganz bestimmte Stel- lung und Haltung eigen war. Ähnlich war die Seelenstimmung Schopen- hauers bei seiner Gedankenarbeit.

Der Lyriker Rilke verharrte in einem behaglichen passiven Zustand, bis ein Gedicht in ihm aufklang. Wenn er in der Stille wartete, ihn in dem Warten aber die Ungeduld überfiel, und er begann, das Klingen zu drän- gen, entschwand es seinem Zugriff.

Lasker-Schüler beschrieb diesen Zustand mit dem Wort: „ . . . es dich- tet in mir ..." Ludwig Thomas schöpferischer Trieb wurde ange- regt durch die Berührung mit dem wirklichen Leben. Als er während der Niederschrift seines „Vöst" fest- gefahren war, fuhr er zu seinen Bau- ern, kam mit einem Sack voll Milieu zurück, und die Arbeit am Vöst kam wieder in Fluß.

Gerhart Hauptmann bezeichnete seine täglichen Spaziergänge als

„Produktionsspaziergänge", weil

ihm dabei die besten Gedanken ka- men. Ganz anders Heinrich Heine; er fabrizierte seine Frühlingsgedichte im Winter hinter dem warmen Ofen, aber man merkte es ihnen auch an.

Abends in seiner Stammkneipe saß Gottfried Benn vor seinem Bier, ließ sich mit Radiomusik berieseln und kritzelte seine Gedanken, die ihm dabei aufstiegen, auf ein Stück Pa- pier. Das Gekritzelte, das er selbst kaum entziffern konnte, tippte er später auf seiner Schreibmaschine.

Erst das maschinell Geschriebene war dann einer Kritik zugänglich.

Rauschmittel

beflügelten den Geist

Immer wieder haben Künstler nach Anregungen gesucht, um Gedanken und Ideen zu wecken. Alkoholische Beihilfe lassen Bilder und Gedanken aufsteigen. So hat Goethe die Posse

„Götter, Helden und Wieland" bei einer Flasche Burgunder in einem Zug niedergeschrieben. Die verlo- rengegangene Streitschrift gegen Friedrich den Großen hat Goethe bei einer Flasche Champagner verfaßt.

Lichtenberg war überzeugt, daß Shakespeare sich Verse aus der Fla- sche geholt hat.

Große Kaffeekonsumenten waren Balzac, Schwedeburg, Jean Paul und Ludwig Thoma. Beethoven kochte sich seinen Kaffee selbst und zählte für jede Tasse genau 60 Boh- nen ab. Fran9oise Sagan nimmt Jazzmusik zu Hilfe, um beim Schrei- ben in einen bestimmten Rhythmus zu kommen. Klimawechsel regte bei Richard Dehmel die Schaffensfreu- de an. Nie hat er zu Hause ein so starkes Strömen der Worte gefühlt wie in der Zeit, in der er sich wo- chenlang auf einer einsamen Insel

niedergelassen hatte. Eines Tages hatte Hebbel in der Münchener Pi- nakothek ein Bilderlebnis, und dies war der Anstoß zu seiner „Judith".

Gute Einfälle kamen Sorf - :-..ffset Maugham auf Eisenbahnfahrten, doch durfte es dabei nicht allzusehr holpern und rattern; viele seiner be- sten Gedanken verdankte er solchen Fahrten. Das Herumtüfteln an einem Thema genoß er nirgends so sehr wie in der Badewanne. Während Al- bert Schweitzer sich in die Zusam- menhänge von Kultur und Weltan- schauung hineindachte, kam er an einen Punkt, wo er auf der Stelle trat. Bei einer längeren Flußfahrt, während er geistesabwesend in die grünen Urwaldgipfel schaute, kam ihm plötzlich der gesuchte zentrale Gedanke. „Ehrfurcht vor dem Le- ben", das war es, was er so lange vergeblich gesucht hatte.

Notizen auf Tapeten

Aus der hohlen Hand kann weder der Dichter noch der Schriftsteller etwas Rechtes schaffen. Zunächst heißt es, Material zu sammeln, und sie alle sind eifrige Sammler. Her- mann Hesse machte sich kurze Noti- zen über alles Sichtbare, wie Bilder aus Gassen und von Landstraßen, Silhouetten von Gebirgen und Städ-

„Der Schweiß,

der ein Kunstwerk kittet”

H.

Dietsch

DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

Heft 9 vom 2. März 1978 531

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

,ner Schweiß, der ein Kunstwerk kittet"

ten, erlauschte Gespräche von Bau- ern und Marktweibern, über Be- leuchtungen, Winde, Berge, Regen, Gestein, Pflanzen, Tiere, Vogelflug, Meeresfarbspiel und Wolkenformen.

Ähnlich machte es auch Max Dau- thendey, der alle Beobachtungen und Gespräche mit Menschen zu Hause in Notizbücher schrieb.

Gerhart Hauptmann schrieb sofort jede Redensart auf, die ihm fremd war. Wachte er nachts auf und hatte nichts anderes zur Hand, hielt er sei- ne Gedanken auf der Tapete fest.

Goethe benutzte alles, was ihm ge- rade greifbar war, um seine Beob- achtungen festzuhalten. Noch heute kann man seine Bleistiftaufzeich- nung über Temperatur, Luftdruck und Wolkenbildung an einer Fen- sterverkleidung im Dornburger Schloß lesen. Lichtenberg schrieb bei seiner Lektüre oder bei seinen Meditationen alles Wesentliche zum künftigen Gebrauch nieder.

Gedichte aus Wortfetzen

Umfangreiche Studien gingen bei Flaubert seinen Arbeiten voraus. Zu- nächst wurde eine große Anzahl von Büchern zu Rate gezogen. Für sei- nen Roman „Salambo" hat er zwölf Studienjahre gebraucht. Zola klet- terte auf Lokomotiven herum, be- suchte Markthallen und Warenhäu- ser, studierte Berichte über Alkoho- lismus, kritzelte mit seinen Beob- achtungen Notizhefte voll und verar- beitete nachher dieses Material zu Romanen. Aus den Notizbüchern von Walt Whitman kann man die Spannweite ersehen, die zwischen den flüchtigen Notizen und dem fer- tigen Gedicht besteht. Die Notiz lau- tet so: „Lebe, bemühe dich nicht, Kerle, die dich anspucken, und Schurken zu besänftigen. Dünge den Acker des Herzens; denn er bringt gute Ernte. Sicher wie die si- cherste Sicherheit verläßlich wie die Unsterblichkeit erscheinen die Wir- kungen, nachdem die Ursachen ge- boren sind."

Und bearbeitet und in rhythmische Form gebracht entstand aus diesem Gestammel dieses Gedicht:

Thomas Mann; Aufnahme aus dem Jahre 1926

„Sicher wie sicherste Sicherheit Aufrecht, eine Säule wohlgefügt, die Balken gerade und gestützt, kühn wie ein Gerüst, liebevoll, stolz, elektrisch,

so stehen wir da, ich und dieses Geheimnis"

Goethe trug den Stoff, den er bear- beitete, lange Zeit mit sich herum, vertiefte und gestaltete, bis er Stoff und Ablauf der Handlung fest im Ge- dächtnis hatte, dann diktierte er sein Werk. In den letzten 50 Jahren sei- nes Lebens hat er fast alle seine Werke diktiert. Während des Diktie- rens wanderte er ununterbrochen um den Tisch und den Schreiben- den herum. „Hermann und Doro- thea" hat er zwei Jahre in Gedanken durchgearbeitet, ehe das Gedicht niedergeschrieben wurde. Er dik- tierte so flüssig und ohne Stocken, als hätte er einen gedruckten Text vor sich.

Qual des Diktierens

Das Diktieren Bismarcks war von ei- gentümlicher Art. Das war kein Strom langsam dahinfließender Ge- danken, er sprach stoßweise, bis- weilen eine lange Pause machend,

dann wieder die hervorquellenden Worte nur mit Mühe zurückhaltend, um ein Nachschreiben überhaupt zu ermöglichen. Napoleon hat selbst fast nichts geschrieben. Seine Handschrift war kaum zu entziffern, es war ein Chaos von Buchstaben.

Ein eigenhändiger Brief vor seiner Vermählung mit Marie-Louise an seinen Schwiegervater bereitete ihm erhebliche Schwierigkeiten. Im Zim- mer auf und ab gehend, diktierte er seinem Sekretär. Zuerst langsam, dann immer schneller folgten die Worte, bis seine Rede einem endlo- sen Strom glich, dabei gestikulierte er heftig mit den Armen. Napoleons Diktat war gleich einer aufgeregten Unterhaltung. Niemals gestattete er, daß man ihn beim Diktieren unter- brach, weil dann sein ungeheurer Gedankenflug gestoppt worden wä- re. Alle seine Schreiber hat er halb oder ganz zu Tode diktiert.

Alle Großen — auch in der Welt des Geistes — waren harte und zähe Ar- beiter. Einer von ihnen war Friedrich Schiller. Er seufzte: „Wüßten es nur die allezeit voreiligen Urteiler und die leichtfertigen Dilettanten, was es kostet, ein ordentliches Werk zu er- zeugen". Nächtelang saß er am Schreibtisch, zermarterte sich den Kopf und konnte sich nur mühsam - wachhalten. Goethe ließ keine Vier- telstunde ungenutzt verstreichen, tätig zu sein war nach ihm die vor- nehmste Aufgabe des Menschen, und nach diesem Grundsatz hat er sein Leben lang gehandelt.

Tag und Nacht am Schreibtisch

Den Erfolgreichen ist die Arbeit ein Vergnügen. Siegmund Freud konnte sich ein Leben ohne Arbeit gar nicht vorstellen. Phantasieren und arbei- ten fiel bei ihm zusammen, bei nichts anderem sonst amüsierte er sich. Aber mit Terminarbeit hörte bei ihm der Spaß auf. Balzac arbeitete 18 Stunden am Tag an seinen Roma- nen. Flaubert hat manchmal 14 bis 16 Stunden lang nach einem, dem treffenden Wort gesucht. Voltaire verbrachte 18 bis 20 Stunden am Schreibtisch.

532 Heft 9 vom 2. März 1978 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT

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Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen

Wenn wir ein Kunstwerk genießen, bemerken wir nichts mehr von dem Schweiß, mit dem es gekittet wurde, die Lyrik ist da nicht ausgenommen.

Auch Grillparzer hat seine Gedichte im Schweiße seines Angesichts erar- beitet. Rilke sprach vom Dichten stets nur wie von einem Handwerk, als wäre die Bemühung alles, die Eingebung nichts. Er ließ sein Schaffen nur als Handwerk gelten.

Sobald Ibsen die Idee zu einem neu- en Drama gefunden hatte, wenn die Personen feststanden, lebte er min- destens ein Jahr mit diesen Gestal- ten als seinem täglichen Umgang.

Was er innerlich erlebte, kam ihnen zugute. Er wußte, wie Zimmer tape- ziert waren, in denen sie wohnten und scbliefen; sie sprachen kein Wort, das ihm entgangen wäre, er sah sie gehen und sich bewegen, wie sie den Schirm trugen, was für Kleidung sie anzogen. Nach dieser . langen Zeit gemeinsamen Lebens schrieb er das Stück zweimal, drei- mal in einem Zug nieder. Wie inten- siv Flaubert mit seiner Madame Bo- vary lebte und litt, schilderte er mit folgenden Worten:

„Meine erdachten Gestalten beein- flussen mich, verfolgen mich, oder besser, ich bin in ihnen. Als ich den Giftmord von Emma Bovary be-

Honore de Balzac

Fotos (4): Ullstein Bilderdienst

Johann Wolfgang von Goethe; Gemälde von Stieler 1828

schrieb, hatte ich den Geschmack von Arsenik in solchem Ausmaß in meinem Mund, war ich selbst so ver- giftet, daß ich mir zweimal hinterein- ander den Magen verdarb — zwei sehr echte Anfälle, bei denen ich mein ganzes Abendessen wieder hergab".

Ein Gedicht:

240 Fassungen

Wen würde es nicht überraschen, wenn er erfährt, daß von manchen Goethe-Gedichten 240 verschiedene Fassungen bekannt sind. Flaubert hat bestimmte Stellen der Madame Bovary achtzehnmal neu geschrie- ben, und doch scheint jede Seite die Frucht spontaner Eingebung. Bei Fontane waren Dreiviertel seiner li- terarischen Tätigkeit Korrigieren und Feilen. Auch Gerhart Haupt- mann besserte immer wieder an dem Geschriebenen herum, ehe ihm alles paßgerecht, belebt und lebens- nah genug war. Thomas Mann arbei- tete mit unerbittlicher Genauigkeit, bis er die Bezeichnung fand, die die Sache ins Zentrum traf. Mehr als die Hälfte seiner Erträge aus seinen Ro-

manen hat Balzac für die Kosten der Druckänderung geopfert, weil er wieder und wieder verbesserte. Sei- ne bekanntesten Fabeln hat Lafon- taine zehnmal und mehr umgearbei- tet. Ein unermüdlicher Besserer sei- ner Prosa war auch Heinrich Heine.

Seine Manuskripte waren wegen der vielen Verbesserungen manchmal kaum zu entziffern.

Aber nicht alle haben soviel Feinar- beit auf ihr Werk verwendet. Sten- dhal hat einen guten Teil der „Kar- tause von Parma" nach dem ersten Diktat in die Druckerei gegeben. Oh- ne einen Strich an der ersten Nieder- schrift zu ändern, ließ Hoffmansthal seine Gedichte in die Welt gehen.

Manche Autoren haben ihre Arbeits- weise pedantisch geregelt. So schrieb Wilhelm Bölsche regelmäßig von 10 bis 1 Uhr. Emile Zola schrieb Tag für Tag fünfzig Zeilen, Jack Lon- don schleuderte täglich tausend Worte auf Papier. Flaubert arbeitete von 11 Uhr mittags bis 1 Uhr nachts, von 6 bis 8 Uhr legte er eine Pause ein. Nach 4 1/2 Jahren voll Mühe und Qual war seine Madame Bovary ent- worfen, dafür hatte er 1788 Blatt Kanzleipapier beidseitig beschrie- ben, sie wurden auf 489 Seiten zu- sammengestrichen. Ganz anders Faulkner, er arbeitete manchmal 14 bis 16 Stunden am Tag, dann wieder schrieb er über zwei Wochen kein Wort.

Jeder Künstler erlebt und schafft so, wie es seiner Anlage und seinem Charakter entspricht; allgemeingül- tige Regeln für das künstlerische Schaffen gibt es nicht. Das Talent ist nichts Einheitliches, vielmehr ein Komplex von Begabungen. Es ist bisher noch nicht gelungen, diesen Komplex völlig zu durchleuchten.

Neuschöpferisches und produktives Denken ist nur wenigen Menschen in die Wiege gelegt. Und zu der von der Natur ererbten Anlage muß noch harte und disziplinierte Arbeit hinzu- kommen, wenn ein vollendetes Kunstwerk entstehen soll.

Anschrift des Verfassers:

Dr. H. Dietsch Herrnstraße 6-8 8450 Amberg

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