Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 110|
Heft 7|
15. Februar 2013 A 283D
ie Schwarz-Weiß-Fotografien von Christer Strömholm pas- sen zum morbiden Charme des alten Postfuhramts in Berlin-Mitte: dun- kel, grobkörnig, oft rau. Zusammen mit einer weiteren Ausstellung ist die Retrospektive des schwedischen Fotografen passenderweise die letz- te, die die Galerie C/O Berlin, Zen- trum für Fotografie, in diesen ein- zigartigen Räumen zeigt. Die seit zwei Jahren drohende Investoren- übernahme des unter Denkmal- schutz stehenden Kaiserlichen Post- fuhramtes aus dem Jahre 1881, das nach der Wende weitgehend unreno- viert gelassen wurde und so sein be- sonderes Flair bewahren und entwi- ckeln konnte, nahm für die Fotoga- lerie nach langem Bangen ein glück- liches Ende. C/O Berlin kann EndeMärz in das Amerika-Haus nach Berlin-Charlottenburg umziehen.
Christer Strömholm hätte den Ort gemocht. „Mein Vater liebte Ruinen und Graffitis, und er mochte Berlin“, sagt Joakim Strömholm, Sohn des 2002 verstorbenen Foto- grafen, bei der Presseführung zur ersten Retrospektive des väterli- chen Werkes in Deutschland. Zu- sammen mit seinem Bruder Jakob und dem Museum Fotografiska in Stockholm hat er die Werkschau zu- sammengestellt. Zu sehen sind etwa 150 Fotografien, Kontaktbögen, Ar- beitsmaterialien und Schriftstücke.
Spielende Kinder, innige Liebes- paare, prominente Künstler, stolze Transsexuelle, entstellte Kriegsop- fer – das sind die Themen des 1918 geborenen Strömholm, der zu den
wichtigsten schwedischen Fotogra- fen gehört. Er wendet sich in seinem Werk radikal der Welt zu und kon- frontiert sich mit dieser oft rauen Realität tagtäglich – stets geduldig und präzise beobachtend. Er belau- erte seine Mitmenschen nicht heim- lich-voyeuristisch, sondern gab sich seinem Gegenüber klar zu erkennen.
Seine subjektive Fotografie ist ge- prägt von großem Respekt, Nähe und gewachsener Vertrautheit.
Das Bild „The boys“ beeindruckt durch den offenen neugierigen und doch skeptischen Blick der beiden vielleicht vierjährigen Jungen. „Er hat Kinder fotografiert“, sagt Joa- kim Strömholm lakonisch, „aber um uns Kinder hat er sich nicht ge- kümmert. Er hat sein Leben der Fo- tografie gewidmet.“ Und er habe die Frauen gemocht, berichtet sein Sohn – fünf Ehen und zahlreiche Liebschaften zeugen davon.
Die Gunst der Frauen spielt für Strömholms Arbeit eine große Rol- le. Seine Hiroshima-Porträts Anfang der 60er Jahre („Blind girl“), aber auch die Bilder von seinen USA- Reisen konnten nur entstehen, weil Strömholm mehr als zehn Jahre Frei- flüge durch seine damalige Frau, ei- ner Stewardess, bekam. Denn Auf- tragsarbeiten von Zeitschriften hat er als Einnahmequelle stets abgelehnt.
Christer Strömholms Fotos sind in ihrem Stil nicht eindeutig zuzu- ordnen. Existenzialismus mit foto- grafischen Mitteln ist nach Ansicht von Kunstkennern der zutreffendste Begriff: analytisch und melancho- lisch und dabei einfühlsam und em- pathisch. Er arbeitete prinzipiell mit vorhandenem Licht. Die Umge- bung ist zwar wichtiger Bestandteil seiner Bilder – Details verschwin- den aber meist im Dunkel.
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Petra Bühring
„Post Scriptum Christer Strömholm“ ist bis zum 17. März zu sehen im C/O Berlin, Oranienburger- straße 35/36, 10117 Berlin, www.co-berlin.com
„The boys“, Montreuil, Paris, 1962
„Blind girl“, Hiroshima 1963
(oben)
Fotos: Christer Strömholm/Strömholm Estate
POST SCRIPTUM CHRISTER STRÖMHOLM
Fotografischer Existenzialismus
C/O Berlin zeigt die erste Retrospektive des großen schwedischen Fotografen in Deutschland.