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Archiv "Psychiatrische Aspekte bei Trägern chromosomaler Anomalien" (24.04.1975)

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Psychiatrische Aspekte bei Trägern

chromos omal er Anomalien

Hubert Harbauer*)

Aus der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie (Leiter: Professor Dr. med. Hubert Harbauer)

am Zentrum der Psychiatrie der Universität Frankfurt am Main

Der Zuwachs humangenetischen Wissens reicht auch in den klini- schen Alltag des Kinder- und Ju- gendpsychiaters. Seit 1956 wurden viele Veränderungen von Struktur und Zahl des menschlichen Chro- mosomengefüges beschrieben.

Heute wird angenommen, daß ·un- ter 200 Neugeborenen ein Kind zur Welt kommt, das eine Störung sei- ner Chromosomenverteilung oder Chromosomenstruktur aufweist.

Für etwa 60 Prozent aller frühen Aborte sollen Chromosomenaber- rationen verantwortlich sein. Unter kinder- und jugendpsychiatrischen, alsb klinischen beziehungsweise klin.isch-forensischen Gesichts- punkten, fanden nicht zuletzt we- gen ihrer Häufigkelt das Down- Syndrom (Trisomie 21, Mongolis- mus), das Klinefelter-Syndrom, so- wie die Keimdrüsendysgenesie (Turner-Syndrom) besonderes In- teresse. Bei diesen Krankheiten läßt die chromosomale Grundstö- rung Defekte der Intelligenz und Persönlichkeitsentwicklung erwar- ten.

Down-Syndrom

..

Das Down-Syndrom wird unter etwa 550 Neugeborenen einmal be- obachtet. Bei ihm ist ein kleines, autosomales Chromosom der Gruppe G (Nr. 21) dreifach, statt paarig vorhanden. Bei etwa acht Prozent der mongoloiden Kinder von Müttern, die jünger als 30 Jah- re sind, läßt sich ein Transloka-

tionsmongolismus diagnostizieren.

Hier ist das überzählige Chromo- som mit einem akrozentrischen Chromosom der Gruppe D oder G verschmolzen. Dem Transloka- tionsmongolismus kommt besonde- re Bedeutung zu, weil er häufig durch eine familiär bedingte Stö- rung begründet ist. Aus diesem Grund ist bei entsprechendem Ver- dacht immer eine Chromosomen- analyse indiziert. Down-Syndrome sind am häufigsten, wenn die Müt- ter zum Zeftpunkt der Geburt älter als 35 Jahre sind.

Die Beschreibung klinisch-somati- scher Symptome des Down-Syn- droms soll hier ausgeklammert bleiben.

Die meisten mongoloiden Kinder bewegen sich nach ihrem intellek- tuellen Stand im Bereich der Imbe- zillität. Sie können sowohl im Son- derkindergarten als auch in Schu- len für lebenspraktisch bildbare Kinder gefördert werden. Ihre we- sentlichen Behinderungen beste- hen in ihrem Unvermögen, abstrakt zu denken (so haben sie tieispiels- weise kein Verhältnis zu Zahlen oder zu Geld) sowie in einem indi- viduell unterschiedlich ausgepräg- ten Rückstand der Sprachentwick- lung. Dagegen sind Merkfähigkeit und Musikalität, besonders die Rhythmik, oft gut entwickelt; sie bilden entsprechende Ansatzpunk- te für heilpädagogisches Vorgehen.

Das Motiv einer Melodie bleibt den Kindern aber meist fremd.

Zur Fortbildung Aktuelle Medizin KOMPENDIUM

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Vor allem jüngere mongoloide Kin- der ordnen sich gut ein; in der ih- nen vertrauten Umgebung sind sie anhänglich, gutmütig und hilfsbe- reit. Sie besitzen eine besondere Fähigkeit zur Nachahmung; gelingt sie ihnen, äußern sie meist sichtba- re Freude. Ihre "Gestenhaftigkeit", oft bis hin zu regelrechter Ge- schicklichkeit in Einzelfunktionen, läßt sie gelegentlich intelligenter erscheinen, als sie tatsächlich sind.

Die im Säuglingsalter meist er- kennbare Apathie und Hypotonie wandelt sich im Kleinkindesalter meist zu einer gewissen Bewe- gungsunruhe bis hin zu Obermut und Antriebsfülle, die drollige und die Umgebung beeindruckende Verhaltensweisen provozieren kann. Dies macht sie für ihre Um- gebung oft recht beliebt.

Das Persönlichkeitsbild wandelt sich im allgemeinen um die Zeit der Pubertät zu einem mehr negati- vistischen, morosen, gelegentlich sogar aggressiven Verhalten; die Gesamtentwicklung verlangsamt sich dann deutli.ch. Es gibt nicht wenige Patienten, bei denen sich der stets vorzeitig einsetzende Ver- greisungsprozeß früh in Stumpfheit oder deutlicher affektiver Einen- gung manifestiert.

Bei Kindern mit Down-Syndrom ist man heute zur Frühesttherapie und

*) Mitglied des Wissenschaftlichen Belrats der Bundesärztekammer

DEUTSCHES ARZTEBLATT Heft 17 vom 24. April1975 1203

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

Chromosomale Anomalien

ganzheitlichen Betreuung ver- pflichtet; sie benötigen vielschich- tige therapeutisch-ärztliche und heilpädagogische Hilfen. Entspre- chende mehrjährige Versuche ha- ben berechtigte Hoffnungen auf eine verbesserte soziale Anpas- sung erweckt. Früh einsetzende heilgymnastische und sensornotori- sche Übungen, rhythmisch-musika- lische Anregungen sowie eine planmäßige Spieltherapie, in deren Ablauf der Sprachförderung eine wichtige Rolle zukommt, gehören dazu. Ferner ist es notwendig, die Eltern schon sehr bald auf die sie erwartende Aufgabe vorzubereiten, um die bei ihnen bestehenden Vor- urteile und Ängste im Gespräch therapeutisch zu verarbeiten bezie- hungsweise abzubauen. Die sehr früh geförderten Down-Kinder kön- nen sich auch in der postpubertä- ren Zeit relativ gut sozial anpas- sen; sie sind selbständiger, ihre Sprachfähigkeit und ihr Sprachver- ständnis sind größer.

Diätetisch straff geführte Kinder bleiben beweglicher und schlan- ker; mit Gesichtsgymnastik und Kräftigung der Mund-Wangen-Mus- kulatur ist ihr äußeres Erschei- nungsbild positiv zu beeinflussen.

lnfektprophylaxe, Vitaminkuren in kritischen Zeiten sind sinnvoll.

Vitamine, Mineralsalze und Spuren- elemente gehören zur soge- nannten "Basitherapie". Die Nütz- lichkeit der gelegentlich propagier- ten Zelltherapie ist durch kritisch durchgeführte Verlaufsuntersu- chungen noch nicht bewiesen. Ob-

. wohl bei erwachsenen männli-

chen Down-Patienten hodenbiop- tisch reife Spermatozoen nachge- wiesen wurden, ist bisher nichts über ihre Zeugungsfähigkeit be- kannt; bei weiblichen Down-Patien- ten kommt es extrem selten zu Schwangerschaften. Durch diese Tatsachen können bei manchen Ei- tern in der Postpubertät auftreten- de Sorgen weitgehend ausgeräumt werden.

Pätau-Syndrom

Das Pätau-Syndrom (Trisomie 13 bis 15) ist neben der häufig vor-

kommenden Lippen-Kiefer-Gau- menspalte, der Polydaktylie, der Anophthalmie oder Mikrophthalmie durch eine schwere Mißbilduns

des ,Gehirns, die zur Oligophrenie

führt, gekennzeichnet. Häufigkeit etwa 1 :7000.

Edwards-Syndrom

Die Trisomie 17 bis 18 wurde erst- malig 1960 von Edwards beschrie- ben. Auch bei ihr ist die Oligophre- nie erheblich; das weibliche Ge- schlecht ist am häufigsten betrof- fen. Typisch für das Edwards-Syn- drom sind vor allem der lange Kopf mit ausgeprägtem Hinterhaupt, der abnorm kleine Oberkiefer, das kur- ze Sternum und die seitlich be- haarte Stirn. Lippen-Kiefer-Gau- menspalten sowie eine antimongo- loide Augenstellung kommen vor.

Die Kinder überleben meist nicht das erste Lebensjahr. Häufigkeit etwa 1 : 7000.

Katzenschrel-Syndrom

Beim Katzenschrei-Syndrom (Cri- du-chat-Syndrom) fehlt ein Chro- mosomenstück des kurzen Armes am Chromosom 5; das Syndrom hat diesen Namen erhalten, weil die davon betroffenen Kinder, meist Mädchen, durch ein jam- merndes Weinen, das an das Schreien junger Katzen erinnert, auffallen. Typisch sind weiter Mi- krozephalie, Hypertelorismus, Epi- kanthus, tiefsitzende kleine Ohren, Vierfingerfurche sowie eine ausge- prägte Oligophrenie.

Turner-Syndrom

Unter den gonasomalen Störungen chromosomaler Anomalien ist das Turner-Syndrom (XO-Syndrom, ovarielle Gonadendysgenesie) von Bedeutung. Die chromosomale Forschung hat zahlreiche Unterfor- men erkannt und beschrieben. Bei dem Turner-Syndrom ist es bis- her' nicht gelungen, die Psyche zwischen chromatinnegativen und chromatinpositiven Individuen (XX/

XO Mosaizismus) zu differenzieren;

die wesentlichen psychischen Sym-

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ptome werden im Gegensatz zu den körperlichen Mißbildungszei- chen erst postpuberal evident. Min- derwuchs, Nackenflügelfell, Cubitus valgus sowie eine typische psychi- sche Struktur kennzeichnen das klinische Syndrom. Die Häufigkeit beträgt 1 :9500.

Im Gegensatz zur üblichen Lehr- buchmeinung und zur Ansicht von Turner selbst, bewegen sich Mäd- chen mit Turner-Syndrom nicht selbstverständlich im intellektuel- len Normbereich, sondern häufig im GrenztJereich zur Debilität. Die Fehlbeurteilung ist damit zu erklä-

ren, daß von den meist kleinwüch-

sigen Patientinnen weniger erwar- tet wird; sie werden überschätzt und durch Pünktlichkeit, Fleiß, Ver- trauensseligkeit oder gutes Beneh- men intellektuell zu hoch einge- schätzt. Ihre geistige Wendigkeit ist gering, die dürftige Phantasie läßt sie größere Zusammenhänge nicht überblicken. Das Sprachver- . mögen der Turner-Patientinnen ist

bess.er als ihre Formauffassung und ihr Raumsinn; zum Beispiel weisen sie im allgemeinen im Harn- burg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder im Verbalteil wesentlich bessere Leistungen auf als im HandlungsteiL Bekannt ist, daß Kinder mit Turner-Syndrom gele- gentlich auch eine weiterführende Schule absolvieren. Das angeblich vermehrte Vorkommen von Le- gasthenie beim Turner-Syndrom ist nicht bewiesen. Auch für die Be- hauptung, Turner-Patientinnen mit Flügelfellformen oder besonders auffälligem Kleinwuchs seien intel- lektuell tieferstehend als andere, fehlt der Beweis.

Turner-Syndrom-Patientinnen wei- sen keine geschlechtsspezifische Vitalität (,.muliercula") auf. Empfin- dungen, wie Glück oder Leid, kön- nen sie nicht entsprechend zeigen.

Ihr psychischer Reifungsablauf ist relativ gleichförmig. Libido und Erotik bleiben unterentwickelt. Die körperliche Andersartigkeit wird von ihnen zwar erlebt; zu einem Minderwertigkeitskomplex, wie er bei Mädchen im zweiten Lebens- jahrzehnt eigentlich erwartet wer-

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den könnte, komm.t es allerdings kaum. Die Patientinnen spielen lan- ge Zeit mit Puppen, behängen sich mit aufdringlichem Schmuck und bevorzugen Kleider mit schreien- den Farben. Wenn überhaupt, wird das Selbstwertgefühl der Kranken mehr durch ihre oft an der Grenze zum Zwergwuchs stehende Körper- größe als durch ihre sexuelle Un- differenziertheit beziehungsweise ihre Sterilität irritiert.

Das Ausmaß der Mißbildungen, auch der Sterilität, macht eine sehr differenzierte psychische Führung dieser Patientinnen notwendig, die in Übereinstimmung mit dem be- treuenden Frauenarzt durchzufüh- ren ist. Durch die Gabe weiblicher Sexualhormone wird ein weiblicher Phänotypus sowie die Regelblu- tung möglich.

Kilneleiter-Syndrom

Das Klinefelter-Syndrom (XXV-Syn- drom) kommt unter männlichen In- dividuen in einer Relation von etwa 1 zu 800 vor. Es wird meist erst nach Pubertätseintritt diagnosti- ziert und ist durch eunuchoiden Hochwuchs, spärlich entwickelte und meist verzögert eintretende se- kundäre Geschlechtsmerkmale ge- kennzeichnet; die Hoden bleiben sehr klein, oft nur erbsgroß, wäh- rend der Penis manchmal eine nor- male Größe aufweist. Gynäkomastie sowie eine diabetische Stoffwech- sellage sind nicht selten; Varikosis kann vorkommen. Darüber hinaus wurden beim Klinefelter-Syndrom vermehrt pathologische Elektroen- zephalogrammbefunde als auch gehäuftes Auftreten von Krampfan- fällen beobachtet.

Die klinische Verdachtsdiagnose Klinefelter-Syndrom wird durch die ..

lntelligenzminderung, im allgemei- nen vom Ausmaß einer sogenann- ten "Dummheit" bis hin zur Debili- tät, sowie durch die Beobachtung der Persönlichkeit bestätigt.

Nach den wenigen Untersuchun- gen zur Psyche vorpuberaler Pa- tienten sind zu dieser Zeit bereits lnitiativelosigkeit und Passivität

deutlich erkennbar. Daraus ist zu folgern, daß das "Anderssein"

nicht endokrin, sondern chromoso- mal verankert ist.

Unter psychopathalogischen Vor- zeichen gelang es bisher nicht, die verschiedenen Klinefelter-Formen, beispielsweise der Mosaikproban- den oder der Probanden mit mehr als zwei X- und mehr als einem V- Chromosom kritisch zu differenzie- ren. Statistische Angaben zur Be- urteilung des Intelligenzquotienten schwanken zwischen 71 und 96.

Diese Schwankungsbreite ist wahr- scheinlich auch mit der Abhängig- keit von Untersucher und Methode sowie der Auswahl der Probanden zu erklären. Innerhalb der gemin- derten, zumindest uneinheitlichen Intelligenzstruktur ließen sich kei- ne spezifischen Ausfälle erkennen.

Auch beim Klinefelter-Syndrom ist ein vermehrtes Vorkommen der Le- gasthenie nicht gesichert.

Unabhängig vom Intelligenzverhal- ten weist das Persönlichkeitsbild vordergründig recht infantile Züge auf. Die Probanden bleiben über- durchschnittlfch lange Zeit an ihre Mutterpersönlichkeit fixiert, ihr ln- teressenkreis ist undifferenziert und eingeengt, ihr Durchsetzungs- vermögen in alltäglichen Dingen fast immer eingeschränkt. Neben häufigen Dysphorien ist die schon beim ersten Kontakt bemerkens- werte Geschwätzigkeit · hervorste- chend. Klinefelter-Probanden er- zählen und berichten ohne eine wirkliche Information zu geben.

Manchmal sind sie ängstlich, ge- hemmt und scheu sowie bindungs- arm, schlecht angepaßt und labil.

Ihre emotionalen und affektiven Bedürfnisse erstrecken sich bei ei- ner gewissen sozialen lsdlierung häufiger auf Tiere als auf Mitmen- schen.

Die Libido der Klinefelter-Patienten ist meist vermindert; der Masturba- tionsbeginn liegt zeitlich später und tritt viel weniger vehement als bei gleichaltrigen Gesunden auf.

Seltene Fälle von Transvestitismus wurden beschrieben; wahrschein- lich werden diese Persönlichkeiten

Zur Fortbildung Aktuelle Medizin Chromosomale Anomalien

auch häufiger in homosexuelle Handlungen verwickelt. Nur bei den seltenen Mosaikformen ist ei- ne Spermatogenese und Fertilität bekannt.

Diese relativ farblose und beispiel- haft unkompliziert imponierende Psyche wird allerdings nicht selten, auch ohne adäquate Anlässe, durch Impulshandlungen oder Drangzustände verändert, die sich dann durch Symptome wie Weg- laufen, Diebstähle, Aggressivität;

vor allem aber sexuelle Drang- handlungen äußern können. Dabei· ist noch nicht entsprechend zuver- lässig gesichert, in welcher Quanti- tät hier Milieufaktoren als Sekun- därsymptome eine Rolle spielen.

Sicher werden Klinefelter-Proban- den, weil sie meist groß wirken, auch gelegentlich überfordert.

Therapeutisch ist bei Früherken- nung wegen der geminderten Intel- ligenz eine entsprechende Berufs- lenkung sinnvoll. Testosteron-Sub- stitution nach Abschluß des Kno- chenwachstums soll die androgen bedingten Ausfallerscheinungen bessern. Eine sogenannte "Fertili- tätsbehandlung" ist unangebracht.

ln den letzten Jahren beurteilten wir mehrere straffällig gewordene Jugendliche, bei denen ein Kline- felter-Syndrom diagnostiziert wer- den konnte, auf ihre strafrechtliche Verantwortlichkeit und Zurech- nungsfähigkeit. Bei den Straftaten handelte es sich überwiegend um Unzuchtshandlungen sowie Auto- diebstähle. Nach Unzuchtshandlun- gen beteuerten die Klinefelter-Pro- banden, daß sie im Ablauf der Ta- ten, mit denen sie sehr abrupt und gelegentlich auch unter Anwen- dung brachialer Gewalt, sexuelle Kontakte mit jüngeren Mädchen suchten, keine Erektionen gehabt haben. Sie legten sich oder setzten sich meist auf die Mädchen und wollten, wie ein Patient formu- lierte, einmal erleben, wie es sei, wovon ihm andere Jungen erzählt hätten.

Bei der Beurteilung der Zurech- nungsfähigkeit dieser Jugendlichen ergab sich jeweils die Frage nach

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Zur Fortbildung Aktuelle Medizin

Chromosomale Anomalien

der forensischen Einordnung die- ser Patientengruppe, bei denen alle Probanden ein leichtes psy- choorganisches. Syndrom sowie eine lntelligenzstrukur im Grenzbe- reich zur Debilität aufwiesen.

Karyotyp 47 XYY

Die Kombination Karyotyp 47 XYY und Kriminalität führte zur Speku- lation, bestimmte Chromosomen- konstellationen könnten für Ag- gressivitäts- oder Gewalthandlun- gen allein verantwortlich sein. So wurde etwa die Forderung erho- ben, daß solche Probanden el{kul- . piert werden müßten. Es wurde auch die Ansicht vertreten, daß der Karyotyp 47 XYY unter hochwüch- sigen, geistig subnormalen Män- nern mit Verhaltensstö'rungen, die zu Straftaten führten, häufiger als in der Durchschnittsbevölkerung vorkommen würde.

Unseres Erachtens bedingt die Chromosomenaberration aber nicht selbstverständlich ein disso- ziales oder kriminelles Verhalten.

Die abnorme Persönlichkeitsstruk- tur darf deshalb nicht nach der Er- hebung eines zytogenetischen Be- fundes allein, gleichsam als unab- weich I iche Sei bstverständ I ich keit, postuliert werden. Entscheidend für die forensisch-psychiatrische Beurteilung ist sowohl beim Kline- felter-Syndrom als auch beim XYY- Befund, dessl'ln determinierende Bedeutung bei gesicherter Einwir- kung auch anderer prägender Fak- toren zumindest strittig ist, nur das jeweilige psychiatrisch-psychologi- sche Untersuchungsergebnis.

Literatur beim Verfasser

Anschrift des Verfassers:

Professor Dr. med. H. Rarbauer 6 Frankfurt am Main

Deutschordenstraße 50

FÜR SIE GELESEN

Zur Röntgendiagnose des Karzinoids

Die meisten Karzinoide, die als bla- stornatäse Entfaltungen des zelli- gen Bestands der peripheren endo- krinen Drüsen, der sogenannten

"gelben Zellen" beziehungsweise der "basalgranulierten" Zellen der Lieberkühnsehen Drüsen in den zy- linderepitheltragenden Schleim- häuten gewertet werden, zeichnen sich durch hohe Gewebsreife, langsame Wachstumstendenz und relativ späte Metastasierung aus.

Etwa bei jedem hundertsten Karzi- noidträger kommt es zur Metasta- sierung; in fünf Prozent entwickelt sich ein Karzinoidsyndrom. Dies setzt, außer bei Primärtumoren der Gonaden, Metastasen, insbesonde- re der Leber voraus. '90 Prozent al- ler Karzinoide liegen in Dünndarm und Appendix wo sie früh zur Ap- pendizitis führen.

~

Bei einem 61jährigen Patienten mit Karzinoidsyndrom wurden angle- graphisch multilokuläre lleumkarzi- noide mit mesenterialen und nodu- lären Lebermetastasen nachgewie- sen, ohne daß sich bei vorausge- gangenen Magen-Darm-Passagen ein eindeutiger Hinweis auf einen Dünndarmtumor ergab. Bei einem 65jährigen Kranken wies man prä- operativ mittels Kontrasteinlauf eine hochgradige Rektumstenose und einen fraglichen Tumor in der lleo- zökalgegend nach. Bei der abdo- minalen Aortagraphie tauchte der Verdacht auf eine ausgedehnte re- troperitoneale Tumorausbreitunq und bei der Kavographie auf Wir- belkörpermetastasen auf. Ebenso wie bei einem dritten Patiemten war erst durch Sektion der Primärtu- mor festzustellen.

Bei Einsetzen klinischer Symptome sind die meisten Dünndarmkarzi- noide bereits in die Umgebung ln- filtriert oder metastasiert. Die Infil- tration ins Mesenterium und die Metastasierung in die regionären Lymphknoten führen auf Grund der exzessiven Fibrosierungstendenz des Tumorgewebes zur Verdickunq und Retraktion des Mesenteriums

1206 Heft 17 vom 24. April1976 DEUTSCHES ARZTEBLATT

in Richtung der Mesenterialwurzel mit Abknickung der Dünndarm- schlingen. Anglegraphisch finden sich eine sternförmige Anordnung der Vasa recta und der terminalen Arkaden sowie Stenosen der Mes- enterialarterien als direkte Zeichen des in die Umgebung infiltrieren- den Tumors und dessen Fibrosie- rungstendenz. Die Lebermetasta- sen haben entweder einen zentra- len Kern und eine aufgelockerte Randzone, wahrscheinlich als Hin- weis auf die endokrine Aktivität dieses Gewebes, oder eine star- ke Kontrastrhittelakkumulation, was allerdings nur unter Vorbehalt Rückschlüsse auf den Primärtumor zuläßt. Die konventionelle rapiolo- gische Untersuchung des Magen- Darm-Traktes erbringt meist nur un- spezifische Befunde, da die Karzl- noide meist submukös wachsen und oft sehr klein sind. Pz Hermanutz, K. D., BOcheler, E. u. Bier- . sack, H. J.:

Zur Röntgendiagnose des Karzinoids f;ortschr. Röntgenstr. 121 (1974) 186-196 Dr. med. K. D. Hermanutz, Prof. Dr. E. BO- cheler, Radiologische Klinik der Universität Bonn, 53 Bann/Venusberg

Adipositas

Zu: "Die Adipositas und die Mei- nung des Patienten" von Prof.

Dr. med. Viktor Tobiasch in Heft 9/1975, Seite 572 ff.

"Dicke gelten in breiten Be- völkerungskreisen immer noch als ,gesund und stark'.

Trotz des Dauerfeuerwerks der Warnungen und Episteln gegen die Fettsucht kommen die Ärzte im Kampf gegen den Wohlstandsspeck nicht so recht vorwärts. Das liegt, wie soeben Professor Dr.

med. Viktor Tobiasch im DEUTSCHEN ÄRZTEBLATT enthüllt, eller an den fal- schen Ansichten der Patien- ten über das Dicksein und weniger an mangelnder Be-

reitschaft zu Abmagerungs- kuren." {Hans Wüllenweber in Kölnische Rundschau)

Referenzen

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