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Archiv "Sloterdijk: Alles nur ein Scherz" (30.06.2000)

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och Wochen und Monate nach dem Vortrag des Philosophen Peter Sloterdijk auf dem bay- erischen Schloss Elmau im Juli letz- ten Jahres nahm die als „Sloterdijk- Debatte“ bezeichnete Diskussion um den Vortrag eine zentrale Stellung in den Medien ein. Die Teilnehmer an der Debatte blieben dabei hauptsäch- lich auf die philosophischen Fachkol- legen beschränkt.

„Codex der

Anthropotechniken“

Auslöser für die heftige Diskus- sion war Sloterdijks Verkündigung ei- nes Endes des „Humanismus“, der in Anbetracht der heutigen Möglichkei- ten der Gentechnik von ei-

nem „Codex der Anthropo- techniken“ (Sloterdijk) abge- löst werden müsse. Die Kri- tik der Kollegen an Sloterdijk und dessen Umgang mit der Gentechnik ging bis zum Vor- wurf eines faschistoiden Den- kens. Die Möglichkeiten und vor allem Gefahren der Gen- technik wurden somit in der Debatte direkt angesprochen.

Dennoch hat man bisher noch so gut wie nichts von Ärzten, Biologen und Bio- chemikern zu dieser Thema- tik gehört. Lediglich in der November-Ausgabe 1999 der

„Gynäkologischen Nachrich- ten“ wird auf Sloterdijk hin- gewiesen, der „mit einem Beitrag die Debatte bezüg- lich Präimplantationsdiagno- stik weiter angeheizt“ habe.

Sloterdijk beginnt seinen Vortrag „Regeln für den Men-

schenpark. Ein Antwortschreiben zum Brief über den Humanismus – die „El- mauer Rede“, die am 16. September letzten Jahres in der „Zeit“ veröffent- licht wurde, mit einer kritischen Be- trachtung des Begriffs des Humanis- mus von der Antike bis heute: Philoso- phisch war, so Sloterdijk, der Begriff in erster Linie gekoppelt an die Schrift- kultur. In der Renaissance wurde er durch das Wiederaufleben der Antike in der Lektüre der griechischen und lateinischen Sprache geprägt. Damit wurde eine Nähe zur antiken Kultur und den antiken Schriftstellern geschaf- fen, die einer Freundschaft ähnelte.

Allerdings habe diese durch die Schriftkultur bewirkte Nähe und Freundschaft von Büchern und damit der Humanismus an sich auch eine an-

dere Seite: Selektion und Abgrenzung.

Die für diese Kultur Auserwählten sonderten und grenzten sich nämlich zugleich ab vom Animalischen und Barbarischen des Menschen. Erinnert sei an all jene, die zur Zeit der Antike nach dem Genuss an den Kampfspie- len in die Amphitheater strebten.

Der Begriff des Humanismus im- pliziert also immer beide Seiten – Bil- dung und Abgrenzung vom Anderen, oder anders ausgedrückt: die Ver- wirklichung der Vernunft (das spezi- fisch Menschliche) und die Abgren- zung vom Animalischen. Einen gänz- lichen Abschied vom Humanismusbe- griff forderte der Philosoph Martin Heidegger angesichts der Ereignisse im Zweiten Weltkrieg. Im Faschismus sah er „die Synthese aus dem Huma- nismus und dem Bestialis- mus“ (Sloterdijk).

Stattdessen rufe Heideg- ger zu einer eher als Beschei- denheit oder gar als „onto- logische Demutsübung“ (Slo- terdijk) zu bezeichnenden Haltung auf – eine Haltung, die das Sein – als Grund alles Seienden – reflektiert. Einzig diese Seins-Vergessenheit ha- be zu solchen Ereignissen wie in den beiden Weltkriegen, die den Menschen zum Herr- scher über Leben und Tod machten, führen können.

Heidegger fordere daher ein Hinhören ins Sein, wie es im Brief über den Humanismus heißt, was besonders zu Be- ginn des 20. Jahrhunderts ver- säumt worden sei. Sloterdijk distanziert sich insofern von Heidegger, als er der The- se Heideggers vom ontolo- gischen Status der menschli- A-1813 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 26, 30. Juni 2000

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

Die „Sloterdijk-Debatte“

Dialog zwischen Medizin und Philosophie gefordert

Ärzte, Biologen und Biochemiker haben bisher nur vereinzelt zu Peter Sloterdijks Thesen Stellung bezogen.

Sloterdijk: Alles nur ein Scherz

Als „Scherzo“ hat Peter Sloterdijk vor kurzem seine so genannte Elmauer Rede bezeichnet. Das berichtete die Deutsche Presse-Agentur. „Der gan- ze Text ist eigentlich ein lang gezogener, melancho- lischer Scherz“, sagte er anlässlich einer Vortrags- reihe „Ist der Humanismus am Ende?“ in Hamburg.

Der in Karlsruhe lebende Philosoph hatte den Vortrag bereits 1997 in Basel gehalten. „Damals hat das Publikum vom Anfang bis zum Ende gelacht“, sagte Sloterdijk. Vor allem über Platon gebe es in dem Text „unglaublich komische Stellen“. Er stau- ne darüber, wie man ihn so habe missverstehen können. Er sei zwar der Auffassung, dass „der Mensch geschaffen und gemacht“ sei, vertrete je- doch keineswegs die Meinung, „dass der Mensch ein gentechnisch verbesserbares Produkt ist“, un- terstrich Sloterdijk. Es sei nicht Aufgabe der Philo- sophie, der Gentechnik Grenzen zu setzen. Es gelte vielmehr zu zeigen, dass „unsere Zivilisation eine Zivilisation der methodisch gewordenen Grenz- überschreitung geworden ist.“ Kli

Wolfgang Müller-Holve

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chen Sprache – Sprache nämlich ver- standen als Weg zur Lichtung des Seins – nicht zustimmt. Nach Heidegger un- terscheide sich der Mensch mit dieser Fähigkeit in der Sprache ontologisch- anthropologisch und nicht evolutionär- gattungsspezifisch vom Tier.

Heidegger habe dadurch – nach Auffassung Sloterdijks – die gattungs- spezifische Entwicklung des Menschen und dessen generische Sprachentwick- lung im Zuge der Evolution verkannt.

Diese geschichtlich-evolutionäre Ent- wicklung habe schließlich zur Dome- stikation geführt, zunächst von Tieren, dann vom Menschen selbst, worunter auch der Humanismus – ebenso ver- standen als Zähmung – gehöre.

Der Philosoph Friedrich Nietz- sche soll diese evolutionäre Macht er- kannt haben. Er habe die Überwin- dung des Humanismus in der Genetik – die „Züchtung“ des Menschen – be- reits gesehen. Der Humanismus ge- lange nur bis zur „Zähmung“.

Das heutige technische Zeitalter zeichne sich nach Sloterdijk bereits durch Potenzierung der aktiven, sub- jektiven Seite aus – der Seite, die se- lektiert, wie im Fetozid bereits reali- siert und vielleicht auch bald bei uns in Deutschland mit der PID.

An dieser Stelle schlägt Sloter- dijk den „Codex der Anthropotechni- ken“ vor, als Metamorphose des Hu- manismus gewissermaßen, verstanden als „Selbstzähmung“ der zunehmen- den aktiven selektiven Seite. Sloterdijk bedenkt die Möglichkeit der „optiona- len Geburt“ und „pränatalen Selek- tion“, bis hin zur Möglichkeit einer gänzlichen „genetischen Reform der Gattungseigenschaften“. Während wir bisher glaubten, dass der Humanismus die Macht des Genetisch-Biologisch- Animalischen überwinden könne, wer- den wir heute zunehmend vom Gene- tisch-Machbaren beherrscht.

Erinnerungen an den Nationalsozialismus

Und so versteht denn auch Slo- terdijk seinen Begriff des „Menschen- parks“ – in Analogie zu Platons Bild von Hirte und Herde – als „Selbsthal- tung“ – ohne Hirt, ohne Götter, ohne Weisen und damit ohne Humanismus.

Offen bleiben im Vortrag allerdings

mögliche Regeln für diesen neuen Menschenpark.

Sloterdijks Vortrag stieß auf scharfe Kritik. Es wurde ihm vorge- worfen, sich vom Humanismus und

von der Ethik verabschiedet zu haben.

Die Terminologie – Begriffe wie „Se- lektion“, „Menschenpark“, „optionale Geburt“ – ließen Erinnerungen an den Nationalsozialismus aufkommen. So wies beispielsweise der Philosoph Ernst Tugendhat darauf hin, dass der von Sloterdijk verwendete Begriff „Se- lektion“ nicht nur an Auschwitz erin- nere, sondern sogar erinnern müsse.

Der Philosoph W. Ch. Zimmerli wies allerdings darauf hin, dass Sloter- dijk nichts wesentlich Neues gesagt habe – im Gegenteil: diese Fragen der Möglichkeiten der Gentechnik wür- den bereits seit langem, auch von Phi- losophen, diskutiert.

Die Potenzierung der Gentechnik, wie überhaupt der Technik, wurde von Sloterdijk zweifellos richtig erkannt.

Eine weitere Potenzierung von Selekti- on und Menschenzüchtung bis hin zur Ausrottung bestimmter genetischer Ei- genschaften für die Zukunft lässt er of- fen. Und dennoch scheint Sloterdijks

Sicht der Dinge zu radikal zu sein:

Auch wenn der Mensch heute zuneh- mend selbst „selektiert“(Sloterdijk) und damit seine Evolution zum großen Teil selbst in der Hand hat, wird die „Menschenzüchtung“ den Humanismus nicht ablösen und in die Archive verweisen.

Auch die heftige Dis- kussion um die Selektion par excellence – die Abtreibung – zeigt: Embryo und Fetus sind eben (noch?) nicht, wie von manchen behauptet, als bloßes biologisches Etwas zu verstehen, sondern als Mensch, wenn auch nicht in jedem Fall mit unbedingtem Recht auf Leben.

Während die hitzige De- batte um diesen Vortrag wo- chen- und monatelang in vie- len Tages- und Wochenzei- tungen anhielt, wurde die Sloterdijk-Rede von Ärzten und Biologen kaum wahrge- nommen. Sie ist offensicht- lich ein Beispiel für das man- gelnde gegenseitige Interes- se und die fehlende Kommu- nikation unterschiedlicher Fachgebiete untereinander.

Letztendlich scheint dies auf die fachspezifische Termi- nologie und philosophiege- schichtlichen Zusammenhänge in die- sem speziellen Fall zurückzuführen zu sein, die sogar zu Missverständnissen und Uneinigkeit in den eigenen – phi- losophischen – Reihen führten.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 2000; 97: A-1813–1814 [Heft 26]

Literatur

1. Standortbestimmung zur PID. Gynäkolo- gische Nachrichten 11/99: 1.

2. Sloterdijk P: Regeln für den Menschen- park. Die Zeit 16. 9. 1999; Nr. 38: 15–21.

3. Tugendhat E: Es gibt keine Gene für die Moral. Die Zeit 23. 9. 1999; Nr. 39: 31–32.

4. Zimmerli W Ch: Die Evolution in eigener Regie. Die Zeit 30. 9. 1999; Nr. 40: 34.

Anschrift für die Verfasser Sibylle L’hoste, M.A.

Prof. Dr. med. Dr. med. habil.

Wolfgang Müller-Holve Kaufingerstraße 12 80331 München A-1814 Deutsches Ärzteblatt 97,Heft 26, 30. Juni 2000

T H E M E N D E R Z E I T AUFSÄTZE

Peter Sloterdijks Verkündigung eines „Endes des Humanismus“

war der Auslöser einer heftigen Diskussion Foto: dpa

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