Deutsches Ärzteblatt
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Jg. 106|
Heft 46|
13. November 2009 A 2305T H E M E N D E R Z E I T
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einahe jeder dritte ältere Mensch in Deutschland lei- det an einer psychischen Störung.Durch den hohen Arbeitsdruck in Krankenhaus und Praxis fehlt je- doch häufig die Zeit für eine einge- hende Untersuchung der Patienten.
„Wir brauchen eine neue Versor- gungskultur für alte Menschen“, forderte deshalb Dr. med. Cornelia Goesmann, Vizepräsidentin der Bun - desärztekammer (BÄK), auf dem Symposium „Versorgung psychisch kranker alter Menschen“. Um psy- chische Störungen von alten Men- schen frühzeitig diagnostizieren und erfolgreich therapieren zu kön- nen, müssten Ärzte, Pflegekräfte und Sozialarbeiter engmaschig zu- sammenarbeiten. Wichtig sei zu- dem ein gesamtgesellschaftliches Umdenken. „Alte Menschen müs- sen von uns allen wieder mehr wertgeschätzt werden“, appellierte Goesmann.
Wie drängend das Problem ist, zeigt die zunehmende Verbreitung von Demenz. Während heute knapp 1,2 Millionen Deutsche betroffen sind, werden es infolge des demo- grafischen Wandels bis 2050 voraus- sichtlich mehr als 2,6 Millionen sein. Schon heute leidet die Hälfte aller Pflegeheimbewohner an einer
Demenz. „Je früher die Krankheit erkannt wird, umso wirkungsvoller ist die Behandlung und umso höher die Motivation der Betroffenen zu einem gesünderen Lebensstil“, er- klärte Prof. Dr. med. Gabriele Stop- pe von den Universitären Psychiatri- schen Kliniken Basel. Auf eine frühe Form von Demenz weisen beispiels- weise ein verzögertes Erinnerungs- vermögen, eine eingeschränkte Wortflüssigkeit oder Benennungs- schwierigkeiten hin. In der Praxis haben sich die schnell durch- führbaren Checks wie der Uhren- test und der Mini-Mental-Status- Test als wirkungsvoll erwiesen.
„Viele Patienten wollen jedoch gar keine Früherkennung, weil sie eine Stigmatisierung fürchten“, sagte Stoppe.
Hohe Suizidrate
Prof. Dr. med. Ulrich Hegerl, Direk- tor der Klinik und Poliklinik für Psy- chiatrie an der Universität Leipzig, betonte, wie gefährlich eine Depres- sion im Alter sein kann: „Eine nicht erkannte Depression bei älteren Menschen führt häufig zu sozialem Rückzug, ungenügender Flüssig- keitsaufnahme oder Suizid.“ In Deutschland sei jede zweite Frau, die sich selbst tötet, älter als 60 Jah-
re, bei den Männern liege der Anteil bei 40 Prozent. Hegerl forderte, dass eine Therapie der Depression nicht allein mit Medikamenten durchge- führt werden dürfe: „Ebenso wichtig sind Gespräche in der ambulanten Behandlung. Die müssen dann aber angemessen honoriert werden.“
Eine psychotherapeutische Be- handlung depressiver alter Menschen finde in der Praxis nicht statt, obwohl sie häufig indiziert sei und auch wir- ke, kritisierte Prof. Dr. med. Michael Linden, Leitender Arzt des Rehabili- tationszentrums Seehof der Deut- schen Rentenversicherung Bund.
„Wir bewerten Depressionen bei jun- gen und alten Menschen unterschied- lich“, sagte er. „Wenn ein 37-Jähriger suizidale Tendenzen hat, wird er in jedem Fall behandelt, bei einem 97-Jährigen ist das nicht unbedingt der Fall. Doch wer sich umbringen will, ist krank. Und zwar in jedem Alter.“ Linden wies darauf hin, dass das subjektive Wohlbefinden psy- chisch gesunder alter Menschen im Vergleich zu jungen Menschen nicht abnehme und forderte eine gezielte Weiterbildung mit Hinblick auf psy- chische Probleme im Alter.
Modellprojekt in Münster Im klinischen Alltag sei es oft schwierig, bei einem alten Men- schen zwischen Einweisung und OP-Termin einen Delir zu erkennen.
Dabei gehöre gerade der chirurgi- sche Eingriff zu den größten Risiko- faktoren, einen Delir auszulösen oder zu verstärken, erklärte Dr. med.
Simone Gurlit, Anästhesistin am St.
Franziskus-Hospital in Münster. Ein nicht behandelter Delir erhöhe so- wohl die Wahrscheinlichkeit, an ei- ner Demenz zu erkranken als auch in ein Pflegeheim eingewiesen zu wer- den. In einem Modellprojekt wurden in Münster zwei speziell geschulte Betreuerinnen eingestellt, die die al- ten Menschen während ihres gesam- ten Klinikaufenthaltes betreuen.
„Wir haben damit sehr gute Erfah- rungen gemacht. Wir konnten die Prävalenz eines Delirs signifikant senken, auf eine sedierende Begleit- medikation verzichten und hatten zudem eine hohe Patientenzufrie-
denheit.“ ■
Falk Osterloh
Foto: Visum
SYMPOSIUM DER BUNDESÄRZTEKAMMER
„Alte Menschen wertschätzen“
Die Anzeichen psychischer Erkrankungen gehen im hektischen Arbeitsalltag häufig unter. Doch vor allem bei alten Menschen werden Demenzen und Depressionen zu einem drängenden Problem.