DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Heft 28 vom 13. Juli 1978
Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen
Die Aufgaben des Arztes in den Werkstätten für Behinderte
Josef Stralau
Die Werkstätten für Behinder- te sind Einrichtungen, in de- nen Behinderte, die auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht oder noch nicht zu ver- mitteln sind, eine Betreuung und Ausbildung erfahren, da- mit sie einen ihren Fähigkei- ten entsprechenden Arbeits- platz finden und ausfüllen.
Die häufigsten Ursachen der Behin- derung sind frühkindliche Hirnschä- digungen und psychische Erkran- kungen, in einzelnen Fällen sind es die Folgen von Verkehrs- und Be- triebsunfällen. Zu den Krankheitsbil- dern gehören Lern- und Geistigbe- hinderte, Spastiker aller Grade, rük- kenmarksgeschädigte Rollstuhlfah- rer, Anfallskranke, psychisch Kran- ke, Sprachgestörte, hochgradig Sin- nesgestörte und psychopathische Persönlichkeiten mit abnormen Erlebnisreaktionen.
Eine erfolgversprechende Betreu- ung und berufliche Förderung die- ser Behinderten setzt das Zusam- menwirken eines Teams von Fach- leuten voraus. Zentrale „Bezugsper- son" ist der Gruppenleiter, der — in der Regel ein Meister mit pädagogi- scher Zusatzausbildung — dem Be- hinderten ständig zur Seite steht, ihm die ersten Begriffe der Arbeits- welt vermittelt, ihn anlernt und aus- bildet. Unterstützt wird er dabei von den „flankierenden" = begleiten- den Diensten, wozu der Arzt, die Pädagogin, der Psychologe, der So- zialarbeiter, die Krankengymnastin, die Logopädin und der Sport- und Turnlehrer gehören. Diese Fachkräf- te prüfen in jedem Einzelfall, ob und welche Schutz- und Fördermaßnah- men mit den Mitteln und Möglich- keiten ihres Fachbereiches im Inter- esse des Behinderten und seiner Gruppe eingesetzt werden können.
Wie die Erfahrung zeigt, lassen sich viele Störungen, zum Beispiel der
Motorik, der Sprache und des Ver- haltens beim Behinderten, deutlich bessern. In manchen Fällen wird erst durch pädagogische und psycholo- gische Hilfen das notwendige Ange- paßtsein und die Gruppenfähigkeit des Behinderten erreicht.
Im einzelnen obliegen dem Arzt
folgende Aufgaben:
1. Eine eingehende Erstuntersu- chung des Behinderten, möglichst in Anwesenheit eines Angehörigen oder anderen Sorgeberechtigten.
Dabei sollten Unterlagen über vor- angegangene ambulante oder sta- tionäre Behandlungen, über die schulische Entwicklung, über even- tuelle vorangegangene berufliche Ausbildungen, über div häuslichen Verhältnisse und über das soziale Verhalten des Behinderten vorlie- gen.
Im Anschluß an die Untersuchung erhalten der Gruppenleiter und die
„flankierenden Dienste" vom Arzt eine Mitteilung über die Erkrankung des Behinderten und über das Maß seiner Belastbarkeit. Im Einzelfall werden darüber hinaus besondere Hinweise gegeben, etwa über die Notwendigkeit der Überwachung der Einnahme von hausärztlich ver- ordneten Arzneimitteln oder über die Notwendigkeit, alle psychischen Auffälligkeiten, insbesondere Versa- genszustände und Krampfanfälle schriftlich festzuhalten und dem
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Behindertenwerkstätten
Arzt zu melden. In bestimmten Fäl- len wird der Gruppenleiter angehal- ten, einen „Anfallskalender" zu führen.
2. Die Beobachtung und das An- sprechen des Behinderten an sei- nem Ausbildungsplatz in der Grup- pe. Die Mitwirkung bei der Entschei- dung über neue Betreuungs- und Fördermaßnahmen.
3. Die laufende Überwachung des Gesundheitszustandes und der Per- sönlichkeitsentwicklung des Behin- derten.
4. Sooft es im Interesse des Behin- derten angezeigt erscheint, sollte ei- ne Fühlungnahme und ein Gedan- kenaustausch mit dem Elternhaus, dem Hausarzt, dem behandelnden Facharzt, dem Krankenhausarzt und gegebenenfalls mit seinem Wohn- heim erfolgen.
5. Die Wahrnehmung der betriebs- ärztlichen Aufgaben.
Erfreulich ist, daß die meisten Be- hinderten unter den besonderen Be- dingungen der Werkstatt stufenwei- se erheblich gefördert werden kön- nen. Sie lernen es, sich in der Grup- pe angepaßt zu verhalten. Sie stei- gern allmählich ihr zunächst gerin- ges Leistungsvermögen und erwei- sen sich als anlern- und bildungsfä- hig. Einzelne entwickeln sich so gut, daß sie sehr bald der Arbeitsverwal- tung zur Teilnahme an einem För- derlehrgang vorgeschlagen werden können.
Rückschläge
bleiben nicht erspart
Andererseits darf aber auch nicht verschwiegen werden, daß bei die- sem Eingliederungs- und Ausbil- dungsbemühen schmerzliche Ent- täuschungen nicht erspart bleiben.
Treten doch zwischenzeitlich bei einzelnen immer wieder Versagens- zustände auf, die ihre Ursache in einer Verschlimmerung des Grund- leidens, etwa in einem neuen Schub einer psychischen Erkrankung oder in einer erheblichen Steigerung der
Krampfanfälle mit Wesensänderun- gen oder in negativen Milieueinflüs- sen (wie ungünstigen häuslichen Verhältnissen, nachteiliger Kame- radschaft im Wohnheim oder Nei- gung zu Verwahrlosung und Dieb- stahl) haben. Bei diesen Behinder- ten ist die ärztliche Betreuung be- sonders dringlich und aufwendig!
Das wiederholte Gespräch mit dem Behinderten selbst, die Erörterung des veränderten Befundes mit den Eltern, mit dem Hausarzt und mit Fürsorgestellen erfordern viel Kraft und Zeitaufwand, bis eine Lösung gefunden ist. Sie kann von der Not- wendigkeit der sofortigen Einwei- sung des Behinderten in eine Klinik oder in ein Landeskrankenhaus bis zur Vermittlung eines geeigneten Heimplatzes mit sozialpädagogi- scher Sonderbetreuung reichen.
Schwerstbehinderte bedürfen
besonderer Zuwendung
Eine weitere Gruppe, die ganz be- sonderer Zuwendung bedarf, ist die der Schwerstbehinderten. Es han- delt sich bei ihnen um meist mehr- fach Behinderte mit erheblichen Funktionsstörungen der Gliedma- ßen und der Wirbelsäule infolge ih- rer hochgradigen Spastik, um sol- che mit Blasen- und Mastdarmstö- rungen, um Epileptiker mit täglichen Krampfanfällen, um solche mit einer hochgradigen geistigen Schädigung und zeitweise starker motorischer Unruhe. Sie bleiben bis auf wenige Ausnahmen Betreuungs- und Pfle- gefälle. Gelingt es den krankenpfle- gerisch oder sozialpädagogisch ausgebildeten Betreuern, den Schwerstbehinderten in die Gruppe zu integrieren, Reste von prakti- scher Bildbarkeit zu wecken und zu entwickeln und ihn zum Teil unab- hängig von ständiger Pflege zu ma- chen, dann ist ein großer Erfolg erzielt!
Bei den Gesprächen mit den nieder- gelassenen Ärzten wird immer wie- der die Feststellung gemacht, daß sie bis jetzt zu wenig über die Mög- lichkeiten der ärztlichen und sozial- pädagogischen Betreuung und be-
ruflichen Förderung ihrer behinder- ten jugendlichen und erwachsenen Patienten in den Werkstätten für Be- hinderte erfahren haben. Darum sol- len diese kurzen Darlegungen der Information dienen und bei allen Ärzten die Bereitschaft wecken, die Rehabilitiationsbemühungen der Werkstatt zu unterstützen.
Hierbei sind vielseitige Hilfen im In- teresse des Behinderten möglich. Es seien hausärztliche Verordnungen von Bädern, Massagen, kranken- gymnastische oder sprachtherapeu- tische Maßnahmen genannt. In an- deren Fällen ist die Einweisung in eine Fachklinik zur notwendig ge- wordenen Neueinstellung der Medi- kation sehr hilfreich. Die Tatsache allein, daß der Behinderte und seine Angehörigen wissen, daß ihr behan- delnder Arzt mit dem Arzt der Werkstatt in Verbindung steht, hat schon ihr eigenes „therapeuti- sches" Gewicht.
Ärztlicher Dienst auch in Teilzeitbeschäftigung
Leider verfügen bisher nur wenige Werkstätten für Behinderte über ei- nen ärztlichen Dienst. Vielleicht re- gen diese Zeilen dazu an, daß sich Kollegen dazu bereit finden, hier ei- ne Teilzeitbeschäftigung zu über- nehmen, so wie bereits viele in klei- neren Unternehmen als „nebenamt- liche" Betriebsärzte tätig sind. Ein sozialmedizinisches Engagement zugunsten unserer Behinderten lohnt sich. Es handelt sich um eine wichtige und menschlich dankbare Aufgabe!
Anschrift des Verfassers:
Prof. Dr. med. Josef Stralau Ministerialdirektor a. D.
Max-Scheler-Straße 20 5000 Köln 41
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