Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 50⏐⏐15. Dezember 2006 A3433
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ach drei Jahren beendet die Wanderausstellung mit Bil- dern und Objekten psychisch kran- ker oder jedenfalls psychiatrieerfah- rener Patienten ihren Lauf. In 38 Städten hat sie seit 2003 Station ge- macht. In Berlin ist sie jetzt noch ein- mal zu sehen, dann, abschließend, in Bern, hier ergänzt um Objekte aus der Sammlung Walter Morgenthaler.Der Titel der Ausstellung: „Zeige Deine Wunden – befreiende Kunst“
klingt wie ein Aufruf an die „Psy- chiatrieerfahrenen“, ihre Ängste und Depressionen, ihre Zwangs- und
auch Wahnvorstellungen zu offen- baren. Tatsächlich liegt dem Projekt ein „Aufruf“, nämlich eine Aus- schreibung, zugrunde. An ihr hatten sich rund 1 200 psychiatrieerfahre- ne Künstlerinnen und Künstler betei- ligt, 123 kamen schließlich zum Zu- ge. Ihre Arbeiten zeugen von Erkran- kung und Leiden und dem Bedürfnis, sich mitzuteilen. Um dadurch frei zu werden? Das mag sein. Weitaus häu- figer wirken die Bilder (und wenigen Skulpturen) wie Botschaften aus ei- ner eigenen Welt. Die aber ist so fremd oftmals gar nicht. Denn ist die Welt der „Normalen“ nicht auch ge- prägt von Ängsten, Zwängen, Ein- samkeit oder Ausgeliefertsein, Emp- findungen, die die „Psychiatrieerfah- renen“ hellsichtiger erkennen als
vielleicht der „Normale“? „Die Psy- chiatrieerfahrenen haben uns“, so Klaus Staeck, einer der Juroren, „die Erfahrung voraus, wie fragil Norma- lität ist.“
Formal sind in der Ausstellung die gängigen Richtungen vertreten: von traditioneller Malerei über Informel bis zur computergestützten Grafik.
Und dazu natürlich die sogenannte naive Malerei, die als Art brut längst einen speziellen Markt erobert hat.
Apropos Markt – die meisten Werke sind ver- käufllich. Bei einem Be- such Ende November klebte an etwa der Hälfte der Arbeiten allerdings schon der rote Punkt:
verkauft.
Das Projekt wurde von Anfang an vom Be- hindertenbeauftragten der Bundesregierung ge- tragen, zunächst Karl Hermann Haack, seit ei-
nem Jahr Karin Evers-Meyer MdB.
Auch ansonsten haben sich Politiker, angefangen beim Bundestagspräsi- denten, engagiert. Die Behinderten- beauftragte wurde auf der Jahresta- gung der Deutschen Gesellschaft für
Psychiatrie, Psychotherapie und Ner- venheilkunde am 22. November als eine von drei Preisträgern mit dem Preis „Entstigmatisierung von Men- schen mit psychischen Erkrankun- gen“ ausgezeichnet.
In Berlin ist die Ausstellung an zwei Orten zu sehen: eine Hälfte hängt und steht in den Fluren des Kleisthauses. An der Stelle hat mal Heinrich von Kleist gewohnt. Heute beherbergt der tempelartige Bau die Dienststelle der Behindertenbeauf- tragten. Im Palais am Festungsgra- ben, dem früheren Domizil der Ge- sellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft, präsentiert die Saar- ländische Galerie als Mitveranstalte- rin die andere Hälfte der Ausstellung.
Glanzlicht im Festungsgraben ist ein Bild außer der Reihe, Gerhard Rich- ters „Onkel Rudi“. Richter ist (ver- mutlich) nicht „psychiatrieerfahren“
und „Onkel Rudi“ somit ein Fremd- ling am Festungsgraben. Doch erin- nert Richter mit diesem und einigen weiteren Werken an die NS-Zeit und die Ermordung („Euthanasie“) psy- chisch Kranker (dazu Deutsches Ärzteblatt, Heft 28–29/2006). Onkel Rudi und andere Fa- milienmitglieder, die Richter malte, mögen somit zur „kollekti- ven Erinnerung“ bei- tragen, die sich Evers- Meyer erhofft. Rich- ter dürfte da skepti- scher sein.
Onkel Rudi hin oder her. Im Festungs- graben und im Kleist- haus hängen ein- druckvollere Bilder – etwa das von Eva Scherr: Eine noch junge Frau blickt den Betrachter an.
Auf der einen Gesichtshälfte sind Blechstücke aufgenietet. „Mein Ge- fängnis“, titelt die Malerin. I Norbert Jachertz
Die Ausstellung ist in Berlin bis zum 5. Januar 2007 zu sehen. Öffnungszeiten im Kleisthaus (Mauerstraße 53, 10117 Berlin, Telefon 0 30-1 85 27 18 22) montags bis freitags 9 bis 18 Uhr; im Palais am Fes- tungsgraben (Am Festungsgraben 1, 10117 Berlin, Telefon 0 30-20 07 72 58) dienstags bis sonntags 11 bis 19 Uhr, nicht über Weihnachten und an Silvester/Neujahr. Die Ausstellung wird von einem umfangrei- chen Rahmenprogramm begleitet, weitere Informationen: www.kleisthaus.de.
In Bern läuft die Ausstellung vom 26. Januar bis 25. März 2007. Öffnungszeiten im Psychiatrie-Muse- um (Bolligenstraße 111, CH 3000 Bern 60) dienstags bis samstags 14 bis 17 Uhr. Weitere Informationen:
www.psychiatrie-museum.ch.
Eva Scherr Mein Gefängnis, 1992, Öl auf Lein- wand, 24 x 30 cm
Gerhard Richter Onkel Rudi, 1965
PSYCHIATRIEERFAHRENE STELLEN AUS
Botschaften aus verschlossenen Welten
„Zeige Deine Wunden“ – eine ungewöhnliche Ausstellung in Berlin und, anschließend, Bern
„ Die Psychiatrieerfahrenen haben uns die Erfahrung voraus, wie fragil Normalität ist.
Klaus Staeck, Juror
Fotos:Katalog/Rainer Benz