DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
ÜBERSICHTSAUFSATZ
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1 Definition und Klassifikation Keimzelltumoren sollen von den primordialen Keimzellen abstam- men. Je nach Differenzierungs- grad sind sie hochmaligne, poten- tiell maligne (unreife Teratome) oder benigne (reife Teratome). Te- ratom, embryonales Karzinom, Dottersacktumor, Choriokarzinom und Seminom/Dysgerminom kön- nen isoliert oder kombiniert vor- kommen; die Therapie hat sich nach der Teilkomponente mit der höchsten Malignität zu richten.
Unabhängig von der jeweiligen Lokalisation lassen sich die Keim- zelltumoren am besten nach den Kriterien der WHO-Klassifikatio- nen für Ovarial- und Hodentumo- ren einteilen.
2 Epidemiologie
Etwa drei Prozent der malignen Erkrankungen im Kindes- und
Jugendalter sind Keimzelltumo- ren. Die Häufigkeit der verschie- den lokalisierten Keimzelltumoren schwankt sehr stark mit dem Alter:
Im ersten Lebensjahr dominieren die Steißbeinteratome, im ersten und zweiten Lebensjahrzehnt ger- minative Ovarialtumoren und im dritten Lebensjahrzehnt die testi- kulären Keimzelltumoren.
3 Lokalisation
Steißbeinregion, Keimdrüsen, Re- troperitonealraum, vorderes Me- diastinum, ZNS (Pinealisregion);
seltener können andere Organe wie Lungen, Schilddrüse, Orbita, Herz und Magen betroffen sein.
4 Prätherapeutische Untersuchungen
4.1 Anamnese und allgemeine kör- perliche Untersuchung
4.2 Laboruntersuchungen:
• Klinisch-chemische Diagnostik (LDH gilt als Tumormarker)
• AlpharFetoprotein spricht für Dottersacktumorgewebe
• Beta-HCG weist auf choriokarzi- nomatöse Komponente oder syn- zytiale Riesenzellen (z. B. bei Se- minom, embryonalem Karzinom) hin
4.3 Diagnostik des Primärtumors:
• Röntgendiagnostik (Verdrän- gungen und Verkalkungen)
• Ultraschall (vor allem bei in- traabdominalen und retroperito- nealen Tumoren)
• Computertomographie
4.4 Diagnostik zum Nachweis von Metastasen :
• Röntgen-Thorax
• Ultraschall (bzw. CT) der Leber und des Retroperitonealraumes
• Computertomogramm des Schädels (Hirnmetastasen) und Skelettszintigramm (Knochenme- tastasen)
5 Pathologisch-anatomische Diagnostik
Bioptische Sicherung der Diagno- se mit Ausnahme weniger Einzel- situationen (zum Beispiel großer isolierter Mediastinaltumor oder Hirnstammtumor mit erheblicher AFP und/oder HCG-Erhöhung im Serum und/oder Liquor cerebro- spinalis) unabdingbar.
Ausgedehnte Aufarbeitung in Stu- fenschnitten, da pluriform diffe- renzierte Keimzelltumoren vor- kommen (Tumoren aus mehr als einem histologischen Typ).
Wegen relativer Seltenheit wird zentrale Registrierung der patho-
*) Im Auftrag der Deutschen Krebsgesell- schaft sowie der Arbeitsgemeinschaft Deut- scher Tumorzentren (ADT), bearbeitet von Professor Dr. Dr. h. c. mult. Fritz Linder, Heidelberg, und Professor Dr. med. Horst Sack, Essen.
Empfehlungen zur standardisierten Tumortherapie
Maligne,
nichttestikuläre Keimzelltumoren im Kindes- und Jugendalter
Ulrich Göbel, Herbert Jürgens, Heino von Matthiessen und Erich Müller; Rainer J. Haas; Dieter Harms;
Gritta Janka; Jürgen Brämswig; Lothar Weißbach Aus der Kinderklinik, der Chirurgischen Klinik sowie der Frauenklinik der Universität Düsseldorf;
der Kinderklinik des Dr. von Haunerschen Kinderspitals der Universität München; der Abteilung Paidopathologie
der Universität zu Kiel; der Kinderklinik der Universität Hamburg;
der Kinderklinik der Universität Münster;
sowie der Urologischen Abteilung des Städtischen Krankenhauses am Urban, Berlin
1694 (50) Heft 23 vom 4. Juni 1986 83. Jahrgang Ausgabe A
1. Jahr 2. Jahr monatlich 2monatlich
3. Jahr 3monatlich
4. Jahr jährlich klinische
Untersuchungen x x x
Labor: BSG, Blutbild, LDH, AFP, HCG
x x x
Röntgen,
Thorax x x x
Ultraschall,
Abdomen x x x x
Tabelle: Nachsorgeuntersuchungen
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Keimzelltumoren
logisch-anatomischen Befunde empfohlen (Bestätigung der Dia- gnose und Vornahme klinisch-pa- thologischer Korrelationen im Ver- lauf der Therapiestudie).
6 Therapeutische Empfehlungen
Wegen der Seltenheit der Erkran- kung, der sehr unterschiedlichen Lokalisationen und der altersab- hängigen Dignität bedürfen die generellen Empfehlungen häufig der individuellen Modifikation; die Behandlung in einem spezialisier- ten Tumorzentrum unter Studien- bedingungen ist deshalb sinnvoll (zum Beispiel Kooperative Thera- piestudie maligner Hodentumoren MAHO 82 und Kooperative Thera- piestudie maligner, nichttestikulä- rer Keimzelltumoren MAKEI 86 der Gesellschaft für Pädiatrische On- kologie (GPO)).
• Die Tumorresektion muß voll- ständig sein und soll deshalb bei organüberschreitender Ausdeh- nung erst nach chemotherapeuti- scher Tumorverkleinerung erfol- gen (second Look-Operation); ver- stümmelnde Eingriffe sind als er- ste Therapiemaßnahme zu vermei- den.
• Für die systemische Chemothe- rapie zur Tumorverkleinerung und Elimination von Mikrometastasen werden heute vor allem Vinblastin, Bleomycin, Cisplatin, VP 16, Ifos- famid, aber auch Adriamycin, Acti- nomycin D und Cyclophosphamid mit Erfolg eingesetzt.
• Bei Kindern und Jugendlichen besteht ein erhöhtes Risiko für therapieinduzierte Komplikatio- nen durch Bleomycin, Cisplatin und Vinblastin.
• Die Bestrahlung ist mit Ausnah- me der Seminome/Dysgerminome wenig effektiv.
7 Prognose
• Die Prognose des differenzier- ten Teratoms ist grundsätzlich sehr gut, beim immaturen Subtyp wesentlich vom histologischen Grad der Unreife abhängig; die Entscheidung über die Notwen- digkeit oder Entbehrlichkeit einer Chemotherapie ist mit dem Refe- renzpathologen zu treffen.
• Keimzelltumoren mit Dotter- sack-, Choriokarzinom- und/oder embryonalen Karzinomanteilen sind hochmaligne und führen bei ausschließlicher operativer Entfer- nung fast immer innerhalb eines Jahres zum Tode.
• Dysgerminome des Ovars (Sta- dium la + b) können durch Opera- tion allein geheilt werden, sicher- heitshalber wird eine lokale Nach- bestrahlung empfohlen; eine Che- motherapie ist bei höheren Aus- breitungsstadien und extragona- dalen Lokalisationen sehr wirk- sam.
• Wesentlich wird die Prognose durch die Lokalisation, das Aus- breitungsstadium und das Alter beeinflußt (zum Beispiel nimmt nach der Neugeborenenperiode die Malignität von Steißbeinterato- men zu, im zweiten Lebensjahr-
zehnt kann die Malignität immatu- rer Ovarialteratome mit zuneh- mendem Alter durch Ausreifung geringer werden).
• Nach heutigem Kenntnisstand können bei hochmaligner Histolo- gie je nach Lokalisation und Aus- breitungsgrad 30 Prozent (Stadi- um IV) bis 90 Prozent (Stadium I) der Patienten geheilt werden.
8 Nachsorgeuntersuchungen Termine und Art der Untersuchun- gen sind in der Tabelle zusam- mengefaßt.
Weiterführende Literatur
(1) Dehner, L. P.: Gonadal and extragonadal germ cell neoplasia in childhood. Human Pathology 14 (1983), 493-511 — (2) Gäbe!, U., und Weißbach, L.: Chemotherapie maligner germinaler Hodentumoren: Bestandsaufnah- me bei Kindern und Erwachsenen. Klin.
Pädiat. 195 (1983), 190-195 — Göbel, U., et al.:
Behandlungsstrategie für nichttestikuläre ma- ligne Keimzelltumoren bei Kindern und Jugendlichen — Konzept der Kooperativen Therapiestudie MAKEI 83 der GPO. Klin. Päd- iat. 195 (1983), 201-206
Anschrift für die Verfasser:
Professor Dr. med. Ulrich Göbel Abteilung für Hämatologie und Onkologie am
Zentrum für Kinderheilkunde der Universität Düsseldorf Moorenstraße 5
4000 Düsseldorf 1
Ausgabe A 83. Jahrgang Heft 23 vom 4. Juni 1986 (51) 1695