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Archiv "Leitsymptom Schwindel als interdisziplinäre Aufgabe" (20.10.2000)

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as klinische Spektrum des Leit- symptoms Schwindel ist breit ge- streut. Es umfasst den vesti- bulären Drehschwindel mit Übelkeit und Erbrechen, die präsynkopale Be- nommenheit, die Arzneimittelintoxika- tion und die Hyperglykämie. Darüber hinaus werden auch Phobien und Panikattacken, Bewegungskrankheit sowie Höhenschwindel dazu gerechnet, erläuterte Waltraut Kruse, Aachen, als Moderatorin auf dem 24. Interdiszi- plinären Forum der Bundesärztekam- mer. Ziel des Themenschwerpunkts

„Leitsymptom Schwindel“ war es, die Notwendigkeit einer mehrdimensiona- len und krankheitsbegleitenden Dia- gnostik und Therapie des Schwindels aufzuzeigen.

Bei etwa zehn Prozent aller Patien- ten des Allgemeinarztes und 10 bis 20 Prozent aller Patienten der Neurologen und HNO-Ärzte wird der Schwindel als Leitsymptom angeführt. Schwindel ist sicher eine der medizinisch unzuläng- lichst versorgten Beschwerden, und dies, obwohl er zu den häufigsten Kla- gen gehört und auch bei richtiger, früh- zeitig gestellter Diagnose meist wir- kungsvoll behandelt werden kann, so Kruse weiter.

Heinz-Harald Abholz, Düsseldorf, stellte aus der Sicht des Allgemeinarz- tes/Internisten dar, wie schwierig es in der Praxis ist, schon bei Befindlichkeits- störungen den Schwindel exakt einzu- ordnen. Abholz legt Wert auf die dia- gnostische Betreuungsarbeit, das heisst, den Patienten nicht durch unnötige und möglicherweise falsche Befunde zu ge- fährden, sondern herauszufinden wer weitergehend untersucht werden sollte.

Eindrücklich machte Abholz auf die Bedeutung der Anamnese, die kör- perliche Untersuchung und die Inter- pretation und Einordnung von Befun- den und Beschwerden durch die „er- lebte Anamnese“ aufmerksam. Hierzu gehört das Erfragen wichtiger Details,

wie zum Beispiel, welche Erklärungen der Patient selbst für den Schwindel hat, was für ein Schwindel vorliegt und wie lange er bereits andauert. Welche Begleitsymptome (Übelkeit, Erbre- chen, Hörstörung, Sehstörung) werden geklagt? Dabei ist der systematisierte Schwindel (Dreh-, Schwank-, Lage- rungs- oder Liftschwindel) vom unsy- stematischen zu trennen.

Unzureichende Versorgung

Auf den vorgenannten Grundlagen aufbauend, betonte Thomas Brandt, München, dass der Schwindel zwar zu den häufigsten Beschwerden gehört und bei richtiger Diagnose meist wir- kungsvoll behandelt werden kann, dass aber Patienten mit Schwindel am unzulänglichsten versorgt werden.

Schwindel ist keine Krankheitseinheit, sondern umfasst fächerübergreifende, multisensorische und sensomotorische Syndrome unterschiedlicher Ätiologie und Pathogenese. Umso wichtiger ist es, in der Behandlung die verschiede- nen Schwindelformen medikamentös, physikalisch, operativ beziehungswei- se mit psychotherapeutischen Maß- nahmen zu versorgen. Für die so ge- nannten Antivertiginosa, wie die Anti- histaminika Dimenhydrinat (beispiels- weise Vomex A) und Flunarizin (beispielsweise Sibelium), das Bella- donna-Alkaloid Scopolamin (bei- spielsweise Scopoderm), das Benza- mid Sulpirid (beispielsweise Dogma- til) und das Phenothiazin Thiethyl- perazin (beispielsweise Torecan), er- geben sich nur vier Indikationen zur Behandlung von Schwindel und Nau- sea:

akute Labyrinthfunktionsstörung (Dauer der Behandlung ein bis maxi- mal drei Tage),

akute vestibulariskernnahe Hirn- stammläsion mit Nausea,

Prävention schwerer und häufig auftretender Attacken,

Prävention der Bewegungskrank- heit.

Brandt betonte ausdrücklich, dass al- le diese Pharmaka ungeeignet zur Dau- erbehandlung zum Beispiel bei chro- nischem zentralvestibulären Schwindel oder Lageschwindelformen sind. Wenn die Übelkeit abgeklungen ist, sollten keine Antivertiginosa oder sedierende Pharmaka mehr gegeben werden.

Ähnlich wie bei den Kopfschmerz- syndromen betont der Geriater, W. von Renteln-Kruse,Bergisch Gladbach, die Bedeutung der Anamnese als wichtig- stes diagnostisches Instrument zur Dif- ferenzierung der unterschiedlichen Schwindelformen. Bei über 65-jährigen Patienten, die Hausärzte konsultieren, ist Schwindel das am häufigsten geklag- te Symptom. Er wird bei 9 bis 25 Pro- zent aller zu Hause lebenden über 65- Jährigen und bei bis zu 70 Prozent hochbetagter Heimbewohner angege- ben. Betonen sollte man, dass Angst und Depression wichtige und häufige Begleit- und modulierende Faktoren bei älteren Patienten mit Schwindel- symptomatik sind. Die Anamnese mit der Beschreibung des zeitlichen Auftre- tens des Schwindels erbrachte in zwei Drittel der Fälle die wegweisende Dia- gnostik. Der Referent machte noch ein- mal auf die obligatorische, ausführliche Medikamentenanamnese aufmerksam, die immer die Fragen nach Selbstme- dikation (Erkältungs- und Schlafmittel) sowie Alkohol unbedingt beinhalten sollte. Zum Abschluss internistischer Erkrankungen als Schwindelursachen dürfen Laborbestimmungen, unspezi- fische Symptomatik von Schilddrüsen- erkrankungen im Alter, apparative Untersuchungen wie Ruhe- und Lang- zeit-EKG nicht vernachlässigt werden.

Aber auch längere Immobilität wie ein komplizierter Krankheitsverlauf mit sta- tionärer Behandlung oder unerwünsch- M E D I Z I N

Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 42½½½½20. Oktober 2000 AA2793

Kongressbericht

Leitsymptom Schwindel als

interdisziplinäre Aufgabe

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te Arzneimittelwirkungen können für Schwindelursachen bei geriatrischen Patienten verantwortlich sein.

K.-F. Hamann, München, referierte aus der Sicht der Otologie. Bei der ge- zielten Inanspruchnahme ärztlichen Rates sucht der Patient von sich aus den HNO-Arzt auf, zumindest dann, wenn in der Anamnese eine akute Otitis oder Folgeerkrankungen nach viralen Infek- ten aufgetreten sind. Der Patient kann nicht unterscheiden, welche ätiologi- schen Faktoren den Vestibularapparat geschädigt haben. Ursache könnte bei- spielsweise eine Mittelohrerkrankung, eine Neuritis vestibularis oder ein M.

Menière (das anfallsweise Auftreten von Schwindelattacken) sein. Auch das Akustikusneurinom, ein Schwannom des Nervus vestibularis, kann zu Schwindelbeschwerden führen. Ha- mann berichtete, dass die therapeuti- schen Überlegungen zur Behandlung des Akustikusneurinoms gegenwärtig im Wandel sind. Während früher jedes entdeckte Neurinom so früh wie mög- lich operativ entfernt wurde, rät man heute vermehrt zum Abwarten. Da es sich um einen gutartigen Tumor mit langsamer Wachstumstendenz handelt, sollte man auf die nicht unerhebliche Zahl postoperativer Komplikationen und damit verbundener Beeinträchti- gung der Lebensqualität verzichten und nur bei rascher Größenzunahme inva- siv vorgehen.

Annegret Eckhardt-Henn, Mainz, be- tonte, dass trotz intensiver somatischer Diagnostik in vielen Fällen das Sym- ptom Schwindel ungeklärt bleibt. Je nach Patientenkollektiv schätzt sie den Anteil des psychogen verursachten Schwindels auf etwa 30 bis 50 Prozent psychiatrischer und psychosomatischer Störungen, die sehr häufig mit Angst- störungen, depressiven und somatofor- men Störungen einhergehen. Eckhardt- Henn plädierte für eine frühzeitige in- terdisziplinäre Diagnostik, um eine ent- sprechende Therapie rechtzeitig einzu- leiten und der häufig entstehenden Chronifizierungen vorbeugen zu kön- nen. Es ist unverzichtbar, bei anhalten- dem Schwindel nicht nur eine somati- sche, sondern auch eine psychosomati- sche Diagnostik routinemäßig durchzu- führen. Dazu gehört eine ausführliche Aufklärung des Patienten über die psy-

chosomatischen und somatopsychi- schen Zusammenhänge. Oft kommt es schon dadurch zu einer Besserung und Entlastung. Die jeweilig indizierte psy- chotherapeutische Methode richtet sich nach der zugrunde liegenden psychi- schen Störung und ist dementsprechend sehr unterschiedlich. Bei phobischen Störungen gibt es mittlerweile viele Stu- dien, die die Effektivität von verhal- tenstherapeutischen Verfahren bele- gen. Eckhardt-Henn empfiehlt bei schweren Fällen eine Kombination aus verhaltenstherapeutischer oder psycho- dynamischer und medikamentöser Be- handlung mit Imipramin oder Clomi- pramin als Methode der Wahl. Wieder- holte, nicht indizierte Diagnostik und Therapie, beispielsweise wiederholte Infusionsbehandlungen mit Antiverti- ginosa oder durchblutungsfördernden Mitteln, soll bei psychogenen und psy- chosomatischen Schwindelzuständen in jedem Fall vermieden werden, da sie zu einer iatrogenen Fixierung beitragen.

So kann der Patient von einer organi- schen Ursache überzeugt sein, und die Grunderkrankung weitet sich aus oder chronifiziert.

Zentralvestibuläre Syndrome

Brandt wies in der anschließenden Dis- kussion noch einmal auf die Bedeutung einer Reihe neuer zentralvestibulärer Syndrome hin. Hierzu zählen episodi- sche Ataxien sowie die Basilarismigrä- ne, die nicht nur als eine typische Erkrankung des weiblichen Adoles- zentenalters, sondern auch als vesti- buläre Migräne in jedem Alter mit oder ohne Kopfschmerz auftreten kann und wirksam prophylaktisch mit Beta- rezeptorenblockern behandelt werden sollte.

Der benigne paroxysmale Lage- rungsschwindel, die häufigste Schwin- delform, entsteht in der Regel durch Canalolithiasis (frei flottierender Pfropf abgesprengter Otokonien) mit der Möglichkeit, wirkungsvolle physi- kalische Befreiungsmanöver einzuset- zen. Aber auch der somatoforme pho- bische Schwankschwindel lässt sich durch Aufklärung und Verhaltensthe- rapie in der Mehrzahl der Fälle gut be- handeln.

Überflüssig oder obsolet ist beim ty- pischen benignen paroxysmalen Lage- rungsschwindel jede apparative Zusatz- diagnostik. Auch die operative Ver- stopfung des Bogengangs ist beim be- nignen paroxysmalen Lagerungsschwin- del nur in ganz seltenen Fällen erforder- lich. Durchblutungsfördernde Maßnah- men als Infusionsbehandlung des aku- ten einseitigen Vestibularisausfalls sind nicht in prospektiven Studien geprüft und mit größter Wahrscheinlichkeit schon deshalb wirkungslos, da die Neu- ritis vestibularis keine Durchblutungs- störung ist, sondern eine Entzündung der Vestibularisnerven. Der Orthopäde ist von seiner fachlichen Ausrichtung und Ausbildung kein Spezialist, zu dem man Patienten mit dem Leitsymptom Schwindel überweist.

Die richtige Diagnose setzt die Kenntnis der komplizierten Anatomie und Physiologie des Labyrinths und des zentralvestibulären Systems voraus.

Grund für die unbefriedigende Versor- gung ist nach Ansicht von Brandt die nicht ausreichende Beschäftigung mit den Fächern HNO und Neurologie so- wohl im Studium als auch in der Weiter- bildung. Patienten mit dem Leitsym- ptom Schwindel werden zum Beispiel zum falschen Fachkollegen wie dem Orthopäden überwiesen. Es gibt keine orthopädische Erkrankung mit dem Leitsymptom Schwindel. Die Diagnose eines zervikogenen Schwindels ist eine Verlegenheitsdiagnose.

Patienten mit somatoformen Schwin- delformen suchen fast nie den Psychia- ter auf, sondern den Arzt ihres Sym- ptoms, das heißt in der Regel einen HNO-Arzt oder einen Neurologen. Als positive Aspekte erwähnt Brandt, dass die Diagnose und erfolgreiche Thera- pie der häufigsten Schwindelformen des benignen paroxysmalen Lagerungs- schwindels zunehmend fachgerecht von niedergelassenen HNO-Kollegen und Neurologen versorgt wird.

Der somatoforme Schwindel (phobi- scher Schwankschwindel) wird immer häufiger auch von nichtpsychiatrischen niedergelassenen Kollegen vermutet und richtig diagnostiziert.

Prof. Dr. med. Waltraut Kruse Medizinische Fakultät der RWTH Kirchberg 4, 52076 Aachen M E D I Z I N

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A2794 Deutsches Ärzteblatt½½½½Jg. 97½½½½Heft 42½½½½20. Oktober 2000

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