1RAAbitsEthik•MittlereSchulformenNovember2015
Ob gläubig oder ohne Religion: Ein gemeinsames Ethos für alle Menschen? – Projekt Weltethos
Ein Beitrag von Martin Geisz, Rosbach vor der Höhe Illustriert von Julia Lenzmann, Stuttgart
W
ie sollen Menschen sich verhalten? Gibt es allgemein verbindliche Richtlinien? Die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“ ist von allen Staaten der Welt anerkannt. Dennoch gehören Menschenrechtsverletzungen fast wie selbstverständlich zum politischen und gesellschaftlichen Alltag unserer Zeit. Auch Religionen liefern Gebote und Regeln für das gerechte und friedliche Zusammenleben von Menschen.Zum Frieden untereinander scheinen sie aber nicht fähig – zu groß ist die Zahl der oft auch gewalttätigen Auseinandersetzun- gen mit religiöser Begründung, mit fanatischen Akteuren.
Die Goldene Regel, die auch die Verhaltensgrundlage vieler Re- ligionen darstellt, bietet einen ethischen Zugang zu dieser The- matik. Sie mündete in der „Erklärung zum Weltethos“, die vom
„Parlament der Weltreligionen“ formuliert wurde. In dieser Un- terrichtseinheit treffen so die Themen „Grundlagen von Ethik“
und „Weltreligionen“ aufeinander. Die Schüler erarbeiten sich einen speziellen Blick auf die ethischen Grundlagen und Forde- rungen von Weltreligionen, setzen sich mit diesen auseinander und versuchen, für ihr Leben eine eigene Position dazu ins Auge zu fassen.
Das Wichtigste auf einen Blick
Klasse: 9/10
Dauer: 6 Schulstunden (Minimalplan: 3 Stunden)
Methoden:
Reziprokes Lesen (Rubrik05), Collage (Rubrik 07)
Ihr Plus: Adresse von Online-Lernprogram- men für fortgeschrittene Schüler
Kompetenzen:
– die Goldene Regel als in Philosophie und Weltreligionen formulierten Grund- satz bei ethischen Entscheidungen kennenlernen und in eigenes Verhalten einbeziehen
– einen Perspektivenwechsel im Blick auf
„Weltreligionen“ vollziehen
– ethische Urteile rational begründen – Empathiefähigkeit rational begründen – Bereitschaft zu argumentativer Verständi-
gung
Das Parlament der Weltreligio- nen gibt mit seiner Erklärung zum Weltethos klare Richtlinien für ein gelungenes Zusammen- leben aller Menschen.
1
Er k lär ung zum Welt et hos
Par lam ent der Welt r eligionen
4. September 1993 Chicago, U.S.A.
www.weltethos.org/1-pdf/10-stiftung/declaration/declaration_german.pdf
zur Vollversion
VORSC
HAU
Worum geht es?
Verletzung von Menschenrechten im Lebensumfeld wie auch globale und kriegerische Aus- einandersetzungen weltweit kommen in jeder Nachrichtensendung ebenso vor wie zahllose Initiativen, die das Ziel haben, gerechte und friedliche Lebensverhältnisse zu schaffen. Im ihrer näheren Umgebung erleben viele Menschen, dass Gewinn und Profit eine so wichtige Rolle spielen, dass ethische Prinzipien (und rechtliche Vorgaben) wenig zählen. Wahrheit und richtige Information werden oft beiseitegeschoben, wenn es um eigene Interessen geht, auch wenn es durchaus Zuwendung zu Hilfsbedürftigen und Engagement gegen Diskriminierung gibt.
Unübersehbar ist allerdings die eher diffuse Rolle, die Vertreter von Religionen spielen – Frie- densappelle und der Ruf nach Solidarität auf der einen Seite, religiös begründete kriegerische Auseinandersetzungen und Übergriffe auf der anderen Seite. Im Moment sind sie deutlich greifbar bei den Aktivitäten fanatischer Anhänger des IS („Islamischer Staat“), die vor Raub, Erpressung oder gar Mord nicht zurückschrecken.
Schülerinnen und Schüler1 stehen mittendrin in dieser Thematik. Sie kennen die Nachrichten- meldungen, sie erleben in ihrem Alltag problematische Verhaltensweisen, haben oft genug auch selbst keine wirkliche Orientierung. Jeder von ihnen hat seine eigene Einstellung zu Religionen, häufig auch Vorurteile. Sie entwickeln mehr oder weniger bewusst eigene Ein- stellungen, übernehmen aber häufig auch unreflektiert Einstellungen aus ihrem Umfeld. In dieser Unterrichtseinheit steht daher die Goldene Regel als alle Menschen verbindende Ver- haltens- und Entscheidungsgrundlage im Mittelpunkt. Davon ausgehend soll gleichzeitig das Feld „Weltreligionen“ mit einer für die Schüler eher neuen Perspektive in den Blick genom- men werden.
Vor allem aber ist es nach meinen Erfahrungen wichtig, ethische Prinzipien zu vermitteln, die Grundlagen von Entscheidungen sein können – nicht fremdbestimmt, sondern von eigener Überzeugung getragen.
1 Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden nur die männliche Form „Schüler“ verwendet.
Dies gilt auch für alle anderen Personenbezeichnungen.
Was müssen Sie zum Thema wissen?
Die Goldene Regel
Die Goldene Regel (lateinisch: regula aurea) ist ein alter, in vielen ethischen Konzepten und Religionen formulierter Grundsatz der praktischen Ethik: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“ Als Sprichwort gibt es eine gereimte Fassung: „Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu.“
Projekt Weltethos
Das Projekt Weltethos ist ein Versuch, Gemeinsamkeiten der Weltreligionen im Hinblick auf die Frage „Wie können Menschen gut zusammenleben“ zu beschreiben und dabei ein ge- meinsames Ethos, ein knappes Regelwerk aus von allen akzeptierten Grundlagen, den Grund- weisungen, aufzustellen (siehe auch Weltethos-Erklärung, M 4). Der Initiator dieses Projekts ist der Theologe Hans Küng.
Weltethos-Erklärung
1993 tagte das Parlament der Weltreligionen in Chicago. An dieser Tagung nahmen Vertreter aller Weltreligionen und vieler Religionsgemeinschaften teil. Im Parlament der Weltreligionen
VORSC
HAU
1RAAbitsEthik•MittlereSchulformenNovember2015 thos“ wurde vom Parlament der Weltreligionen am 4.9.1993 in Chicago verabschiedet und von führenden Kirchenführern unterschrieben. In dieser Erklärung nimmt die Goldene Regel eine wichtige Stellung ein.
Weltreligionen
In dieser Unterrichtseinheit sind Weltreligionen indirekt Thema. Ausgangspunkt sind nicht die Unterschiede, sondern die Goldene Regel als gemeinsamer Ausgangspunkt ethischen Verhal- tens. Als Weltreligionen werden im Allgemeinen die folgenden fünf Religionen bezeichnet:
Buddhismus, Christentum, Hinduismus, Islam und Judentum.
Wie arbeiten Sie mit den Materialien?
Eine ethische Entscheidung treffen
Diese Unterrichtseinheit hat zum Ziel, Grundlagen ethischen Verhaltens und ethischer Ent- scheidungen in den Blick zu nehmen. Der Ethikunterricht will/soll nicht Schüler mit allen Mit- teln zu einer bestimmten Einstellung und einem bestimmten Urteil bringen. Er will Schritt für Schritt eine bewusste ethische Urteilsbildung fördern – der Schüler wird als autonome Per- sönlichkeit angesprochen, die mit ihren Möglichkeiten zum Einsatz von Vernunft selbstständig handeln kann und soll.
Der Beitrag des Ethikunterricht bleibt begrenzt, es gibt natürlich negative Einflüsse von außen wie Vorurteile und Ressentiments. Jedoch sollte man die Schüler darin fördern, selbst zu einer Entscheidung zu kommen und sie ihren Möglichkeiten entsprechend zu begründen. Dies ver- sucht diese Einheit dadurch zu erreichen, dass sich die Schüler – ausgehend von ihren eigenen Einschätzungen im Brainstorming – vertiefend informieren (können).
Im Mittelpunkt steht die weltweit von vielen Religionen und philosophischen Systemen ak- zeptierte Goldene Regel (M 1). Bei der Unterrichtseinheit kommen Weltreligionen und Positi- onen der praktischen Philosophie in den Blick. Sie werden in kurzen Statements angeboten (M 2 und M 3), können aber – je nach Situation in der Klasse – auch vertieft werden. Für die Beschäftigung mit Weltreligionen in diesem Zusammenhang gibt es als Hilfe eine tabellari- sche Übersicht auf der beigefügten CD 1 (M2_Weltreligionen.doc) und Hinweise auf Materia- lien zur Weiterarbeit (siehe „Welche Materialien können Sie zusätzlich nutzen?“). Ein Sachtext versucht, für eine vertiefende Reflexion Anregungen zu geben (M 4 und M 5). Vertieft werden soll dies in einer arbeitsteiligen Gruppenarbeit, in der nach einer eher theoretischen Beschäf- tigung lebensweltliche Zugänge von den Schülern selbst erarbeitet werden (M 6–M 12). Es werden zwar einige Beispiele knapp annotiert, aber im Gruppengespräch und der gemeinsa- men Arbeit an einer Collage werden die Schüler zunehmend selbst auf Situationen, die eine ethische Entscheidung herausfordern (können), aufmerksam. Die Forderungen der Weltethos- Erklärung werden so zu einem Baustein eigener Entscheidungsfindung.
Ausgehend von verschiedenen Szenarios werden die gewonnenen Erkenntnisse in der Ab- schlussstunde nochmals bewertet und diskutiert (M 13). Die Szenarios bieten Zugänge, die Schüler zu einer vertiefenden Auseinandersetzung führen können. Zu einer vorgegebenen Sentenz sollen sie entscheiden, ob ein solches Szenario Wirklichkeit werden soll. Neben der spontanen Einschätzung sind argumentative Auseinandersetzung und Begründung gefragt.
Darauf aufbauend werden abschließend eine vertiefende handlungsorientierte Arbeitsmög- lichkeit (M 14) sowie ein Impulsblatt zur Entwicklung eigener Perspektiven (M 15) angeboten.
zur Vollversion
VORSC
HAU
Was ist gut – was ist richtig? Eine Regel für alle Fälle? M 1
Autoklau nimm t zu
37.427 Diebstähl e im letzten Jahr!
1
Meineid!
Angeklagter wurde zu Unr echt verurteilt
3
Die Goldene Regel:
Was du nicht willst, dass man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu.
Immer mehr Frauen beklagen sich über sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz
2
VORSC
HAU
1RAAbitsEthik•MittlereSchulformenNovember2015
M 6 Vier grundlegende Weisungen für den Einzelnen
und die Gesellschaft
WiedubeiderLektürederWeltethos-Erklärunggesehenhast,wendetdasProjektWeltethos
dieGoldeneRegelinvierWeisungenaufdasZusammenlebenvonMenschenan.DieseWei- sungensollennuninarbeitsteiligerGruppenarbeitnäherunterdieLupegenommenwerden.
Gruppenarbeit – Weltethos:
Vier Weisungen
1. Verpfl ichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben
2. Verpfl ichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung
3. Verpfl ichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit
4. Verpfl ichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und die Partnerschaft von Mann und Frau
1
Findet euch in vier Gruppen zusammen. Jede Gruppe setzt sich im Folgenden intensiv mit einer der vier Weisungen auseinander.2
Beschäftigt euch mit den bildlichen Darstellungen zu den vier Weisungen im Material„Die vier Weisungen – bildlich dargestellt“ und dem jeweiligen Arbeitsblatt zu der Wei- sung, die eure Gruppe bearbeitet. Überlegt, diskutiert und erstellt Info-Karten für die Pinnwand. Vorlagen dafür fi ndet ihr im Material „Info-Karten zur Gruppenarbeit“.
a) Wählt zwei Grafi ken aus, die zu der von euch bearbeiteten Weisung „passen“. Was sagen die Grafi ken zur Weisung? Entscheidet euch für eine der beiden Grafi ken und notiert eure Ideen dazu auf „Info-Karte 1”.
b) Überlegt gemeinsam: Wo könnte diese Weisung heute eine besonders wichtige Rolle spielen – im eigenen Umfeld, im Zusammenleben der Menschen, in der Gesellschaft?
Notiert eure Antwort auf „Info-Karte 2“.
3
Formuliert die Weisung mit euren eigenen Worten. Verwendet dabei auch die Goldene Regel.Möglichkeit 1: Ihr formuliert frei ohne Vorlage auf eine leere Karteikarte.
Möglichkeit 2: Ihr nehmt „Info-Karte 3“ zu Hilfe:
Erstellt eine Collage zu den in der Weisung angesprochenen Prob- lemen und den Forderungen der Weisung. Nehmt dazu das Metho- denkärtchen „Collage“ zu Hilfe.
E
xtrazur Vollversion
VORSC
HAU
M 8 Gruppe 1: Verpfl ichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit
und der Ehrfurcht vor allem Leben
Aus dem Text der Erklärung zum Weltethos
Ungezählte Menschen bemühen sich in allen Regionen und Religionen um ein Leben, das nicht von Egoismus bestimmt ist, sondern vom Einsatz für die Mitmenschen und die Mitwelt. Und doch gibt es in der Welt von heute unendlich viel Hass, Neid, Eifersucht und Gewalt: nicht nur zwischen den einzelnen Menschen, sondern auch zwischen sozi- alen und ethnischen Gruppen, zwischen Klassen und Rassen, Nationen und Religionen.
Gewaltanwendung, der Drogenhandel und das organisierte Verbrechen, ausgestattet oft mit neuesten technischen Möglichkeiten, haben weltweite Ausmaße erreicht. Vielerorts wird noch mit Terror „von oben“ regiert; Alleinherrscher vergewaltigen ihre eigenen Völ- ker, und institutionelle Gewalt ist weit verbreitet. Selbst in manchen Ländern, wo es Ge- setze zum Schutz persönlicher Freiheiten gibt, werden Gefangene gefoltert, Menschen verstümmelt, Geiseln getötet.
Aus den großen alten religiösen und ethischen Traditionen der Menschheit aber ver- nehmen wir die Weisung: Du sollst nicht töten! Oder positiv: Hab’ Ehrfurcht vor dem Leben!
Besinnen wir uns also neu auf die Folgerungen aus dieser uralten Weisung: Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt. Kein Mensch hat das Recht, einen anderen Menschen körperlich oder seelisch zu quälen, zu verletzen, gar zu töten.
Und kein Volk, kein Staat, keine Rasse, keine Religion hat das Recht, eine andersartige oder andersgläubige Minderheit zu diskriminieren, zu „säubern“, aus dem Land zu ver- treiben, gar zu töten. […]
Wahrhaft Mensch sein heißt im Geiste unserer großen religiösen und ethischen Tradi- tionen, schonungsvoll und hilfsbereit zu sein, und zwar im privaten wie im öffentlichen Leben. Niemals sollten wir rücksichtslos und brutal sein. Jedes Volk soll dem anderen, jede Rasse soll der anderen, jede Religion soll der anderen Toleranz, Respekt, gar Hoch- schätzung entgegenbringen. Minderheiten – sie seien rassischer, ethnischer oder religi- öser Art – bedürfen unseres Schutzes und unserer Förderung.
5
10
15
20
25
Leicht sprachlich vereinfacht nach: www.weltethos.org/1-pdf/10-stiftung/declaration/declaration_german.pdf
k
Schlaglichter
Ein Schüler wird auf dem Schulhof misshandelt – nur so. Einer fi lmt es und stellt das Bild ins Inter- net – weil es Spaß macht. Natürlich gibt es auch die Nachricht aufs Handy von vielen Bekannten …
Eine Gruppe von Gleichaltrigen treibt einen jün- geren Schüler in die Enge und „zieht ihn ab“ – d. h., Gewalt wird angedroht, damit er seine neue Uhr herausgibt.
Bürgerkrieg in Syrien: Zehntausende machen
VORSC
HAU
1RAAbitsEthik•MittlereSchulformenNovember2015
M 13 Was bringt die Zukunft? – Szenarios:
Die Welt im Jahre 2055
A. Die Welt hat sich verändert. Menschen unterschiedlicher Religionsangehörigkeit leben auch dort, wo vor Jahren noch Krieg geführt worden ist, friedlich zusammen.
trifft vollständig zu trifft teilweise zu trifft nicht zu
B. Das „Projekt Weltethos“ kennen viel mehr Menschen als früher. Fast allen ist klar, dass die Folgerungen, die hier aus der Goldenen Regel gezogen wurden, die ideale Grundlage für das Zusammenleben sein können.
trifft vollständig zu trifft teilweise zu trifft nicht zu
C. Die vier Weisungen des „Weltethos“ sind nun die Grundlage für die Gesetzgebung vieler Staaten.
trifft vollständig zu trifft teilweise zu trifft nicht zu
D. Das „Projekt Weltethos“ und seine Forderun- gen kennen zwar viele, aber es halten sich nur sehr wenige wirklich daran.
trifft vollständig zu
trifft teilweise zu
trifft nicht zu
© Thinkstock/iStock © Thinkstock/iStock
Manchmal möchte man einen Blick in die Zukunft wagen
Was wird die Zukunft bringen?
EinebeliebteMöglichkeit,überEntwicklungenfürdieZukunft
fürsichselbstmehrKlarheitzuschaffenundindieDiskussi- onmitanderenzukommen,istdieArbeitmitSzenarios.Der
Begriff„Szenario“bedeutet,sicheinenZustandvorzustellen,
denesnochnichtgibt.