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Der Ärztetag und das Reizwort „Priorisierung“

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Bayerisches Ärzteblatt 7-8/2009 331

Der Ärztetag und das Reizwort „Priorisierung“

Wer an der Eröffnung des 112.

Deutschen Ärztetags am 19. Mai 2009 in der Mainzer Rheingold- halle teilgenommen hat, musste den Eindruck bekommen, dass Bundesärztekammer-Präsident Professor Dr. Jörg-Dietrich Hop- pe und der politische Gast aus Berlin, Ulla Schmidts Staatsse- kretär Dr. Klaus Theo Schröder, von zwei völlig verschiedenen Gesundheitssystemen sprachen.

Der Vertreter der offiziellen Ge- sundheitspolitik pries ein Gesund- heitssystem, in dem jeder Bürger nach seinem Bedarf die Versor- gung erhielt, die er benötigte. Und der Repräsentant der Ärzte- schaft forderte eine Priorisierung von Gesundheitsleistungen, um die bereits eingetretene Rationierung zu vermeiden.

Anschaulicher lässt sich nicht vor Augen führen, wie die Politik den Folgen ihrer Gesundheitsreformen aus dem Weg geht und versucht, dem Bürger Sand in die Augen zu streuen. Die Minis- terin, wegen der Teilnahme an einer WHO-Konferenz in Genf zum Thema Schweinegrippe am Besuch des Ärztetags in Mainz verhindert, reagierte in einem Zeitungsinterview auf ihre Art, in- dem sie die Forderung von Hoppe als „menschenverachtend“

deklassierte.

Das ist umso verwunderlicher, als sie persönlich für eine Poli- tik steht, die schon seit Jahren mit den verschiedensten Instru- menten der Rationierung und auch Priorisierung von Gesund- heitsleistungen ins System eingreift. Wir haben die Budgetierung, die dafür sorgt, dass nicht genügend Mittel zur Verfügung stehen, wir haben die Ausgrenzung von Bagatell-Arzneimitteln aus der Erstattung der gesetzlichen Krankenkassen, wir haben Rabatt- verträge für Arzneimittel mit der Folge, dass die Versicherten nur die rabattierten Medikamente bekommen, wir haben einen Morbiditäts-orientierten Risikoausgleich mit einer Liste von 80 Krankheiten, die alle jene Versicherten benachteiligt, die an einer Krankheit leiden, die nicht auf der Liste steht.

Das alles und noch mehr steht für eine versteckte Rationierung von Gesundheitsleistungen durch die Politik, die es aber bisher geschickt verstanden hat, die Verantwortung für die Verweige- rung von Leistungen den Leistungserbringern, also den Ärzten

in Praxen und Kliniken, zuzuschieben. Die Politik erwartet, dass die Ärzte das unbegrenzte Leistungsversprechen tagtäglich er- füllen. „Diesen zerstörerischen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit halten wir in der täglichen Praxis nicht länger aus – und wir wollen ihn auch nicht länger aushalten“, begründete der Bundesärztekammer-Präsident in Mainz seinen Tabu-Bruch.

Wer weiterhin behauptet, dem Bürger stünden alle Leistungen un- begrenzt zur Verfügung, sagt nicht die Wahrheit. Der Vorschlag der Priorisierung hat den Vorteil, dass er die bis jetzt herrschende Willkür in der Rationierung von Leistungen ablöst durch ein ein- sichtiges Regelwerk, das Ranglisten anlegt. Wer die Leistungen am dringlichsten benötigt, bekommt sie auch am ehesten, und alle anderen müssen erst einmal warten.

Priorisierung kann dazu beitragen, die knappen Mittel nach ge- sellschaftlich konsentierten Kriterien möglichst gerecht zu vertei- len. Diese Aufgabe soll ein Gesundheitsrat übernehmen, in dem Ärzte gemeinsam mit Ethikern, Juristen, Gesundheitsökonomen, Theologen, Sozialwissenschaftlern und Patientenvertretern Emp- fehlungen für die Politik entwickeln, wie es zu einer gerechteren Verteilung der knappen Mittel kommen kann.

Der Denkansatz ist gar nicht einmal so neu. Schon im Mai 2007 hat sich eine Gruppe von 17 Wissenschaftlern aus sechs Dis- ziplinen von zwölf Universitäten zu einer Forschungsgruppe

„FOR655“ zusammengeschlossen. Sie befassen sich im Auftrag der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) mit dem Thema

„Priorisierung in der Medizin: Eine theoretische und empirische Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Gesetzlichen Krankenversicherung“. Das mit 1,58 Millionen Euro ausgestattete Projekt ist auf zunächst drei Jahre angelegt. Dabei geht es um Fragen wie: Muss die Ausweitung medizinischer Interventions- möglichkeiten zunehmend Verzicht auf mögliche Eingriffe und Behandlungen nach sich ziehen, da niemals alles, was medizi- nisch möglich ist, auch gesellschaftlich finanziert werden kann?

Wenn ja, sollen zum Beispiel Kinder grundsätzlich Älteren gegen- über bevorzugt werden? Ist Prävention wichtiger als Versorgung?

Soll die Allgemeinheit Luxustherapien für wenige Patienten mit- tragen?

Ein Gesundheitsrat könnte helfen, den Umgang mit knappen Ressourcen nach allgemein konsentierten Regeln akzeptabler zu gestalten.

Klaus Schmidt, freier Journalist, Planegg

Klaus Schmidt

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