Deutsches Ärzteblatt⏐⏐Jg. 103⏐⏐Heft 1–2⏐⏐9. Januar 2006 AA1
S E I T E E I N S
G
ute Vorsätze und Wünsche ge- hören zum neuen Jahr, auch wenn die Erfahrung lehrt, dass der erhoffte Neuanfang zumeist Fiktion bleibt.Das gilt auch für die Politik. Der Reiz des Neuen, der die halbneue Bundes- regierung umgab, ist schnell verflo- gen. Schon wenige Wochen nach der Bildung der großen Koalition stehen die Zeichen zwischen der Bundesge- sundheitsministerin und der Ärzte- schaft eher auf Konfrontation denn auf Verständigung.
Es gibt wenig Anhaltspunkte da- für, dass die alte und neue Ressort- chefin Ulla Schmidt (SPD) richtig einzuschätzen weiß, welcher Unmut sich bei den Ärztinnen und Ärzen über die Bedingungen ihrer Arbeit in Klinik und Praxis angestaut hat. Hät- te sie sonst mutwillig eine Neiddis- kussion angestoßen, indem sie einer Absenkung der Privathonorare auf das Niveau der Gebührensätze der gesetzlichen Kassen das Wort redete?
Plante sie sonst (unterstützt von der Union) mit der Festsetzung von Ta- gestherapiekosten einen Arzneimit- telregress neuer Qualität und Schär- fe? Hätten Landes- und Bundespoli- tiker begriffen, was Ärztinnen und Ärzte umtreibt, würden sie nicht die Geltung des Arbeitszeitgesetzes im Krankenhaus um ein weiteres Jahr hinausschieben.
So aber muss sich die Politik nicht wundern, wenn die Protestwelle durch
das Land rollt. Sie wird von Klinik- ärzten wie Niedergelassenen glei- chermaßen getragen. Die bisher nicht gekannte Breite der Mobilisierung wird daran deutlich, dass sich überall neue Initiativen bilden, in denen sich nicht nur diejenigen engagieren, die immer aktiv sind. Neu und für viele noch ungewohnt ist das Verständnis in der Bevölkerung und in der veröf- fentlichten Meinung für die Anliegen der Ärzte. Solange das so bleibt und nur so lange, besteht die Chance, ech- te Verbesserungen zu erreichen. Eine unbedachte Äußerung, ein Patient, der in einem „bestreikten“ Kranken- haus zu Schaden kommt, könnten das Blatt wenden – zuungunsten der Ärz- teschaft. Nicht ausgeblendet werden kann außerdem die schwierige ge- samtwirtschaftliche Lage mit hoher Arbeitslosigkeit und einem Verlust an Kaufkraft.
All das nimmt den ärztlichen For- derungen nicht die Berechtigung.
Aber es kommt auf das richtige Maß an, auf den richtigen Ton, eine diffe- renzierte, aber klare Argumentati- on. Ärzte dürfen es den Politikern nicht durchgehen lassen, wenn die sich um die kritischen Punkte her- umdrücken. Wenn beispielsweise Staatssekretär Klaus Theo Schröder im DÄ-Interview (Heft 51–52/2005) den Eindruck erweckt, im angebli- chen Versagen der Selbstverwaltung von Krankenkassen, Krankenhaus-
trägern und Ärzten liege der Kern des Problems, verschweigt er, dass diese unter Budgetbedingungen ar- beiten muss, die der Gesetzgeber ge- schaffen hat.
Der medizinische Bedarf lässt sich nicht per Dekret festlegen. Ärzte sind verpflichtet, spätestens dann aufzu- begehren, wenn eine gute Versor- gung ihrer Patienten gefährdet ist.
Niemandem sonst wird die Öffent- lichkeit die Kompetenz zumessen, das zu beurteilen. Sollen Wartezeiten und graue Gesundheitsmärkte wie in anderen Ländern vermieden werden, müssen in diesem Jahr die Weichen für die geplante Finanzierungsreform des deutschen Gesundheitswesens gestellt werden. In dieser Hinsicht besteht zu Beginn des neuen Jahres kein Anlass für besonderen Optimis- mus. Bundespräsident Horst Köhler mahnt nicht ohne Grund ein schlüssi- ges Konzept der großen Koalition für die Sozialpolitik an. Bisher handelt die neue Regierung hier so wider- sprüchlich wie die alte. Sie ist sich nicht einmal einig, ob die Solidarität der Gesellschaft bei der Absiche- rung des Krankheitsrisikos über ein- kommensabhängige Beiträge oder über Steuern organisiert werden soll. „Wenn ein Jahr nicht leer ver- laufen soll, muss man beizeiten an- fangen“, schrieb Johann Wolfgang von Goethe. Die Koalitionäre soll- ten sich daran halten. Heinz Stüwe