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Überlegungen zum Realismus Pieter Bruegels d.Ä. am Beispiel seiner Darstellung des Bethlehemitischen Kindermordes

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Jürgen Müller

Überlegungen zum Realismus Pieter Bruegels d.Ä. am Beispiel

seiner Darstellung des Bethlehemitischen Kindermordes

Für Gerhard Plumpe

„Manchmal ist eben die gewöhnliche R e d e entschieden ausdruckstärker als die feine."

Pseudo-Longinus: Vom Erhabenen

Realismus als Enthistorisierung

In Ludwig Tiecks Künstlerroman Franz Sternbaids Wanderungen aus dem Jahre 1798 findet sich ein fiktiver Dialog zwischen Albrecht Dürer und Lukas van Leyden, in dem der niederländische Maler feststellt, daß Dürer „die neuern Trachten auch in alten Geschichten abkopiert" habe.

Auf diese Charakterisierung seiner Kunst antwortet der große Nürnber­

ger mit folgenden Worten:

Ich habe dergleichen i m m e r mit überlegtem Vorsatz getan, weil mir dieser W e g kürzer und besser schien, als die antikischen Trachten eines jeden Landens und eines jeden Zeitalters zu studieren. Ich will j a den, der meine Bilder ansieht, nicht mit längst vergessenen Kleidungsstük- ken bekannt machen, sondern er soll die dargestellte Geschichte e m p ­ finden; die Bekleidung ist gleichsam nur ein notwendiges Übel. Ich rücke also die biblische oder heidnische Geschichte manchmal meinen Zuschauem dadurch recht dicht vor die A u g e n , daß ich die Figuren in den Gewändern auftreten lasse, in denen sie sich selber wahrnehmen.1

1 L u d w i g Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen. Stuttgart 1988, S. 117-118.

Originalveröffentlichung in: Morgen-Glantz : Zeitschrift der Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft, 8 (1998), S. 273-296

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Wie im Zitat deutlich wird, setzt Tiecks Dürer auf die Identifikations­

leistung des Betrachters. Die Geschichte bleibt für den Renaissance- künstler lediglich eine Art Rumpelkammer, in der sich allerlei Kostüme befinden, wenn es nicht gelingt, die historischen Personen vergangener Zeiten mit „Gewändern" der Gegenwart auszustatten, damit sich die Menschen „selber wahrnehmen".

2

Für Tieck kommt die große Kunst der Renaissance gerade darin zum Ausdruck, daß sie den Betrachter nicht pedantisch belehren, son­

dern ergreifen will. Ästhetische Wirkung beginnt jenseits historischer Korrektheit. Dies macht besonders die Metaphorik des Textes deutlich, wenn von den „vergessenen Kleidungsstücken" und dem „notwendigen Übel der Bekleidung" die Rede ist.

Die künstlerische Eigenart Dürers, die Gewänder der eigenen Zeit zu nutzen, um die Vergangenheit darzustellen, entspricht einer land­

läufigen Vorstellung realistischer Kunst, glaubt man doch, darin das Interesse der Künstler für ihre eigene Umwelt erkennen zu dürfen.

Fast zweihundertundfünfzig Jahre vor Tieck war ein italienischer Autor über die Kunst Dürers zu einem ganz anderen Urteil gelangt. In Lodovico Dolces Dialogo della pittura aus dem Jahre 1557 findet sich eine harsche Kritik des deutschen Malers:

W a s die Angemessenheit - convenevolezza - angeht, irrte Dürer nicht nur i n B e z u g auf die G e w ä n d e r , sondern auch in B e z u g auf das A u s s e ­ hen der Gesichter. D a er ein Deutscher war, stellte er mehrfach die Mutter des Herrn in deutscher Kleidung da, ebenso wie die heiligen Frauen, die sie begleiteten. Ferner unterließ er es nicht, Juden ein rein deutsches Aussehen zu geben, einschließlich jener Schnurrbarte, jener bizarren Haartrachten und jener Kleider, die sie tragen.3

2 W i e wichtig dem romantischen Autor dieser Passus ist, wird deutlich, wenn Lukas van Leyden Dürers Antwort nachdrücklich zustimmt und auch noch Raffael als Vorbild für die Technik der Vergegenwärtigung nennt: „Ich bin darin völlig Eurer Meinung. Ihr werdet gefunden haben, daß ich diese Sitte auch von Euch angenommen habe; nur habt Ihr vielleicht mehr als ich darüber nachgedacht. A u c h in manchen Sachen, die ich von Raffael Sanzius gesehn habe, habe ich etwas Ähnliches bemerkt." Ebd., S. 119.

3 Zitiert nach Reiner Hausherr: Convenevolezza. Historische Angemessenheit in der Darstellung von Kostüm und Schauplatz seit der Spätantike und Schauplatz seit der

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Überlegungen zum Realismus Pieter Bruegels d.Ä. 2 7 5

W a s T i e c k später als große künstlerische L e i s t u n g Dürers herausstellen w i r d , tadelt D o l c e n o c h als dessen U n f ä h i g k e i t zur historisch korrekten D a r s t e l l u n g .

Bruegels Realismus als Charakter und Laune

Betrachtet m a n Pieter B r u e g e l s Bethlehemitischen Kindermord*

( A b b . l ) vor d e m Hintergrund der K r i t i k D o l c e s , d a n n m u ß m a n fest­

stellen, daß der F l a m e insofern n o c h über die Irrtümer D ü r e r s h i n a u s ­ geht, die j a l e d i g l i c h äußere E r s c h e i n u n g u n d G e w a n d u n g der P e r s o n e n betrafen, als er für seine D a r s t e l l u n g des b i b l i s c h e n Ereignisses die K u l i s s e einer verschneiten f l ä m i s c h e n Stadt g e w ä h l t hat. K e i n O r t k ö n n t e sich stärker v o m historischen B e t h l e h e m unterscheiden. B r u e ­ gels B i l d ist eine N e g a t i o n der historischen U m s t ä n d e der b i b l i s c h e n G e s c h i c h t e . M a n sieht w e d e r V e g e t a t i o n , n o c h A r c h i t e k t u r , k e i n e G e ­ w ä n d e r , die auch nur einen H a u c h des V o r d e r e n Orients vermitteln k ö n n t e n . D i e bei Bruegel dargestellte W e l t zeigt uns deutlich, daß wir u n s in der f l ä m i s c h e n H e i m a t des K ü n s t l e r s b e f i n d e n .

D i e frühe F o r s c h u n g hat diese künstlerische Eigenart B r u e g e l s s c h l i c h t m i t d e m Charakter des M a l e r s in V e r b i n d u n g bringen w o l l e n . S o s c h r i e b G u s t a v G l ü c k in seiner M o n o g r a p h i e zu B e g i n n des Jahr­

hunderts:

Der Bethlehemitische Kindermord begegnet uns auch vor Bruegel in der Geschichte der Kunst; allein, es ist ohne Zweifel ein Einfall seiner.

eigenen Laune, den Stoff seinen Landsleuten dadurch nahezubringen,

Spätantike bis ins 16. Jahrhundert. Mainz-Wiesbaden 1984 (= A k a d e m i e der W i s s e n ­ schaften und der Literatur/Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse; Jg. 1984, Nr.4), S. 14.

4 Holztafel 111 x 160 cm, u m 1566, Kunsthistorisches M u s e u m , W i e n . Es handelt sich u m eine frühe K o p i e , die allerdings in ikonographischer Hinsicht den originalen Be­

stand wiedergibt. Das übermalte Original befindet sich in Hampton Court. Ein späte­

rer Besitzer hat die dargestellten Szenen als derart grausam empfunden, daß er die ermordeten Kinder durch allerlei Vögel ersetzen ließ.

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daß er nicht nur die Bauern, Bäuerinnen und Soldaten in die Tracht sei­

ner Zeit kleidet, sondern auch, noch weitergehend, die Szene in ein winterliches D o r f in winterlichem G e w ä n d e verlegt.5

Wenn Glück schreibt, daß Bruegel den „Stoff seinen Landsleuten da­

durch nahezubringen versucht, daß er die Bauern, Bäuerinnen und Sol­

daten in die Tracht seiner eigenen Zeit kleidet", erinnert diese Passage nicht von ungefähr an Tiecks Urteil über Dürers „Gewänder". Nicht historische Tatsächlichkeit, sondern wahres Gefühl gilt es bei Bruegel zu entdecken. Galt noch für Tieck, daß diese Aktualisierung einer äs­

thetischen Überzeugung entspreche, sieht Glück darin lediglich eine subjektive „Laune".

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Entsprechend darf Bruegel bei Glück zwar ein Thema in seine eigene Umwelt übersetzen, dabei allerdings möglichst keine Intentionen verfolgen. Dies alles habe der Künstler im

„Kindermord" dargestellt, „ohne sich weiter zu bedenken." Offensicht­

lich will Glück jedwede politische Absicht des Malers negieren.

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Wie aber wollte Bruegel wahrgenommen werden? Was bedeutet es, wenn in seinen neutestamentlichen Ikonographien das Decorum im Sinne historischer Angemessenheit bewußt verletzt wird, der Maler nicht die Zeit um Christi Geburt rekonstruiert, sondern in der Darstel­

lung von Ort und Zeit das biblische Ereignis seiner eigenen Umwelt anpaßt? Welche Bedeutung und ästhetische Funktion könnte dieser Enthistorisierung zukommen? Wie läßt sich der Bruegelsche Realismus vor dem Hintergrund seiner eigenen Zeit erklären?

5 Gustav G l ü c k : Bruegels Gemälde. W i e n 21932, S. 56.

6 Ebd.

7 S o fragt G l ü c k zwar zunächst, o b es sich bei d e m dunkel gekleideten Befehlshaber i m Z e n t r u m des Bildes um den grausamen Herzog A l b a handelt, um dann j e d o c h selbst Z w e i f e l einzuwenden: „Hat Bruegel bei d e m Kindermord an die Gewalttaten der spanischen Soldateska in seiner Heimat gedacht? Den modernen Beschauer erinnert die Gestalt des finsteren Befehlshabers der gewappneten Reiter an die des so oft als g r i m m i g geschilderten A l b a , der aber, wenn wir mit der zeitlichen Ansetzung des Bil­

des u m 1566 Recht haben, erst ein Jahr später seinen Einzug in die Niederlande halten sollte." Ebd.

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Überlegungen zum Realismus Pieter Bruegels d.Ä. 2 7 7 Realismus als Übersetzung?

U m d e n B r u e g e l s c h e n R e a l i s m u s , seinen D e c o r u m v e r s t o ß besser erklä­

ren z u k ö n n e n , hat Carsten-Peter W a r n c k e auf den traditionellen, theo­

l o g i s c h e n T o p o s der A l l t a g s s e e l s o r g e v e r w i e s e n , sich b i b l i s c h e s G e ­ s c h e h e n durch „ I m a g i n a t i o n in die eigene U m g e b u n g zu v e r g e g e n w ä r ­ tigen"8. A b e r k ö n n t e der „ K i n d e r m o r d " w i r k l i c h der p e r s ö n l i c h e n A n ­ dacht gedient h a b e n ? H a n d e l t es sich bei B r u e g e l s K o m p o s i t i o n u m d e n T y p u s des A n d a c h t s b i l d e s ? M e i n e s Erachtens sind B r u e g e l s

„ B i b e l b i l d e r " in i h r e m e r z ä h l e n d e n Charakter eindeutig H i s t o r i e n , d i e entsprechend der traditionellen K u n s t t h e o r i e darauf abzielen, d e n B e ­ trachter z u b e w e g e n ( p e r m o v e r e ) .9

N e u e r d i n g s hat M a r k M e a d o w i m Z u s a m m e n h a n g der K u n s t B r u e ­ gels v o m „vernacular s t y l e " g e s p r o c h e n u n d seine M a l e r e i als A u s ­ d r u c k f l ä m i s c h e r V o l k s k u l t u r gedeutet. D i e s ist freilich nicht neu, d e n n die K o m p o s i t i o n e n des H a m e n w u r d e n i m m e r s c h o n in d i e s e m K o n t e x t gedeutet. M a n denke nur an W i l h e l m Fraengers f r ü h e U n t e r s u c h u n g Der Bauern-Bruegel und das deutsche Sprichwort aus d e m J a h r e 1923, der auf die i n n i g e V e r w a n d t s c h a f t des f l ä m i s c h e n K ü n s t l e r s m i t R a b e ­ lais v e r w i e s e n hat.1 0 N e u ist in M e a d o w s Interpretation allerdings die B e z u g n a h m e auf die Debatte u m die L e g i t i m i t ä t v o l k s s p r a c h l i c h e r i m V e r h ä l t n i s zur lateinischen Kultur. A u ß e r d e m stellt der a m e r i k a n i s c h e K u n s t h i s t o r i k e r B r u e g e l in d i e T r a d i t i o n der altniederländischen M a l e ­ rei, u m daraus ein kunsttheoretisches P r o g r a m m abzuleiten, w e n n er auf die A e m u l a t i o v e t e r u m z u sprechen k o m m t :

8 D i e Quelle auf die sich W a r n c k e beruft, ist der Zardibo de Oration, der Gebetsgar­

ten, ein italienisches Handbuch aus d e m Jahre 1454, das j u n g e Mädchen in die Kunst der Andacht und des Gebets einführen sollte. Carsten-Peter Warncke: Spre­

chende Bilder - sichtbare Worte. Wiesbaden 1987 (= Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 33) S. 249.

9 Vgl. Norbert Michels: Bewegung zwischen Ethos und Pathos. Zur Wirkungsästhetik italienischer Kunsttheorie des 15. und 16. Jahrhunderts. Münster 1988.

10 W i l h e l m Fraenger: Der Bauern-Bruegel und das deutsche Sprichwort. M ü n c h e n - Leipzig 1923. - Jan Grauls: Volkstaal en volkleren in het werk van Pieter Bruegel.

Amsterdam und Antwerpen 1957.

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I w o u l d suggest that b y expedient means of juxtaposing clearly ana- chronistic elements, Bruegel invites his viewers to exarnine his art in terms o f its Imitation, or even emulation, of its predecessors."

Allgemein verweist Meadow im Rahmen seiner Untersuchung auf den

„Ciceronianus" des Erasmus und den rhetorischen Dreischritt von Translatio, Imitatio und Aemulatio. Er führt darüber hinaus eine Reihe von flämisch-niederländischen Autoren aus dem 16. Jahrhundert an, die behauptet haben, daß das Flämische ähnlich subtil wie das Lateinische sei, doch hätten es die Literaten sträflich vernachlässigt und die Würde dieser Sprache in Vergessenheit geraten lassen.

12

Unter diesen Autoren versuchte Goropius Becanus gar den Nachweis zu führen, daß das Holländische dem Griechischen, Lateinischen und Hebräischen überle­

gen sei, da es älter als die genannten Sprachen sei.

Meadow schließt seine Ausführungen mit der Feststellung, daß vergleichbare Debatten auch die bildende Kunst der Zeit Bruegels be­

stimmt haben könnten:

In the midst of such debate over the propriety of styles, historical de- corum, priority of traditions, native versus foreign, the Situation o f the Visual arts must have been seen in a similar light. There too the issues c o n c e m e s the choice o f a proper model, with local traditions - what w e m a y term 'vernacular art' - challenged by an appropriated model and style f r o m Italy and the classical world. A s with language, the terms under which this debate w a s understood were themselves taken f r o m that seifsame classical world, from the classical and classicizing litera- ture on imitation.13

Im Anschluß an die skizzierte Argumentation Meadows lassen sich verschiedene Einwände machen. Denkt man an Leone Battista Alberti,

11 Mark A . M e a d o w : Bruegel's Procession to Calvary, Aemulatio and the Space of Vernacular Style. In: Pieter Bruegel. Hgg. von Jan de Jong, Mark M e a d o w , Herman R o o d e n b u r g , Frits Schölten. Z w o l l e 1997 (= Nederlands Kunsthistorisch Jaarboek

1996, D e e l 4 7 ) S. 180-205, hier S. 190.

12 Ebd., S. 198.

13 Ebd., S. 199.

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Pietro Bembo oder an Sperone Speroni und ihre Verteidigung des Ita­

lienischen als Literatursprache, muß man sich zunächst einmal fragen, warum es keinen italienischen Bruegel gegeben hat. Darüber hinaus scheint mir Meadow nicht hinreichend die Ausnahmeposition Bruegels innerhalb der altniederländischen Tradition zu sehen. Entsteht doch erst mit diesem Künstler eine Ästhetik des Häßlichen. Es geht Bruegel ja nicht wirklich um eine realistische Schilderung in der Tradition altnie­

derländischer Malerei, sondern um eine übertreibende Darstellungswei­

se. Damit der Ausdruck vom „vernacular style" eine wirkliche Spreng­

kraft erhält, wäre es nötig, den von Meadow übersehenen theologischen Kontext zu ergänzen.

14

Denn gerade die Programmatik reformatori­

scher Bibelübersetzung könnte ein adäquates Modell zur Erklärung der biblischen Ikonographien Bruegels liefern. Könnte seine realistische Bildwelt mithin der Übertragung des Bibeltextes in die flämische Volkssprache gleichgesetzt werden? Darf man daraus schließen, daß die Kunst Pieter Bruegels ein Bekenntnis zur Reformation und entspre­

chend zur volkssprachlichen Bibel darstellt?

Zunächst sei daran erinnert, daß die Forderung einer Übersetzung in die Volkssprachen schon vor Luther durch Erasmus geradezu empha­

tisch formuliert wurde, auch wenn dies allgemein als wichtigste histori­

sche Leistung des deutschen Reformators betrachtet wird. In der

„Paraclesis", dem Aufruf des Lesers, die seiner lateinischen Ausgabe des Neuen Testaments von 1516 vorangestellt ist, schreibt Erasmus:

Leidenschaftlich rücke ich von denen ab, die nicht wollen, daß die hei­

ligen Schriften in die Volkssprache übertragen und auch von Laien ge­

lesen werden, als ob Christus so verwickelt gelehrt hätte, daß er k a u m v o n einer Handvoll Theologen verstanden werden könne, und als ob man die christliche Religion dadurch schützen könne, daß sie unbekannt bleibt.15

14 V g l . hierzu Jürgen Müller: Das Paradox als Bildform. Studien zur Ikonologie Pieter Bruegels d.Ä. - München 1998.

15 Erasmus v o n Rotterdam: Vorreden zum Neuen Testament. Übersetzt, eingeleitet und mit A n m e r k u n g e n versehen von Gerhard B. Winkler. In: Erasmus: Ausgewählte Schriften. Lateinisch/Deutsch, hrsg. von Werner W e l z i g , 8 Bde., Darmstadt 21990, B d . 3, S. 1-115. h i e r S . 15.

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Alle Menschen, ob „Weiblein" oder „Heiden", „Bauern hinterm Pflug"

oder „Weber an ihrem Webstuhl", kommen hier als Adressaten des Neuen Testaments in Betracht.

Zur Ikonographie des Kindermords

Noch vor allen kunsttheoretischen und ikonographischen Fragen gilt es, die Wucht von Bruegels Darstellung des Bethlehemitischen Kinder­

mordes zu betonen. Diese Malerei beginnt mitten im Satz. Sie er­

zwingt, sie erpreßt Unmittelbarkeit! Mit äußerster Grausamkeit gehen die Soldaten gegen die Zivilbevölkerung vor. Man möchte geradezu von einer Phänomenologie des Völkermords sprechen. Die Schergen schleppen die Kinder vor den schwarzgekleideten Mann im Bildzen­

trum, vor dessen Augen sie massakriert werden. Diese improvisierte Hinrichtungsstätte ist das eigentliche Zentrum des Bildes. Von hier geht der Befehl zur Tötung aus, hierhin kehren die Schergen zurück, um die Morde zu vollziehen.

Viele Kinder liegen bereits tot im Schnee und werden von ihren Müttern beweint. Eltern bitten die Soldaten inständig um Gnade für ih­

re Kinder, doch ohne Erfolg. Noch die Natur scheint von diesem Er­

eignis zu sprechen, wenn sich das Morden und Töten vor unheilvollem, verhangenem Winterhimmel abspielt. Die unerträgliche psychologische Spannung des Bildes weiß Bruegel dadurch zu erhöhen, daß er wesent­

lich auf den Komplementärkontrast von Rot und Grün zurückgreift. Die gebrannten roten Ziegel und roten Röcke der Reiteruniformen heben sich intensiv vom grünlichen Himmel und den häufig grün gestalteten Gewändern anderer Bildfiguren ab. Das Ocker kommt als dritte be­

stimmende Farbe hinzu. Es findet sich an den Wänden der Häuser im hinteren Bildraum.

Vergleicht man Bruegels Darstellung mit der knappen Erwähnung, die der Kindermord in der Bibel findet, so fällt die Freiheit auf, die sich der Maler für seine Gestaltung nimmt, denn Matthäus berichtet ledig­

lich:

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Überlegungen zum Realismus Pieter Bruegels d.Ä. 281

A l s darauf Herodes sah, dass er von den Weisen getäuscht worden war, wurde er sehr zornig, sandte hin und liess in Bethlehem und in dessen ganzem Gebiet alle Knäblein töten, die zweijährig und darunter waren, gemäss der Zeit, die er von den W e i s e n genau erkundet hatte.16

G e n e r e l l gilt für die I k o n o g r a p h i e des K i n d e r m o r d e s , daß sie k e i n e m strengen K o m p o s i t i o n s s c h e m a folgt. S o ist die A n z a h l der h a n d e l n d e n P e r s o n e n z u m e i s t s y m b o l i s c h reduziert.1 7 D o c h B r u e g e l hat s o z u s a g e n aus einer k u r z e n Z e i t u n g s m e l d u n g eine w i r k l i c h e R e p o r t a g e g e m a c h t . E i n z i g der S t e m i m S c h i l d des G a s t h a u s e s erinnert n o c h an die b i b l i ­ s c h e G e s c h i c h t e . Es k a n n j e d e n f a l l s nicht d a v o n d i e R e d e sein, daß das T h e m a des K i n d e r m o r d e s illustriert w i r d , sondern v i e l m e h r m u ß m a n s a g e n , daß es B r u e g e l recht eigentlich erfindet.

U m seine künstlerische Gestaltung besser z u verstehen, ist es rat­

s a m , das B i l d m i t einer D a r s t e l l u n g des K i n d e r m o r d s v o n L u k a s C r a - n a c h ( A b b . 2 ) aus d e m Jahre 1515 zu vergleichen.1 8 Hier w i r d die E r ­ z ä h l u n g w e s e n t l i c h durch die architektonische R a h m u n g b e s t i m m t . L i n k s erkennt m a n M a r i a u n d J o s e p h , die rechtzeitig n a c h Ä g y p t e n ge­

f l o h e n sind. D a s C h r i s t u s k i n d auf d e m A r m der M a r i a , so legt C r a n a c h n a h e , ist d e m feigen M o r d a n s c h l a g nur k n a p p e n t k o m m e n . I n j e d e m Fall w i r d d e m Betrachter klar, w e r das eigentliche O p f e r hätte seien sollen. D i e M o r d s z e n e spielt sich i m I n n e n h o f eines S c h l o s s e s oder ei­

ner B u r g ab. O b e r h a l b des T o r e s sieht m a n H e r o d e s , v o r dessen A u g e n sich das S c h l a c h t e n v o l l z i e h t . D i e Ritter, die die Mütter u n d K i n d e r an d i e s e n Ort gebracht haben, versperren d e n W e g aus d e m I n n e n h o f h i n ­ aus. A u c h die perspektivische V e r k ü r z u n g des T o r a u s g a n g s u n d d i e sehr s c h m a l e T ü r i m Hintergrund b e t o n e n die A u s w e g l o s i g k e i t des G e ­ s c h e h e n s . Es ist die A u f g a b e der L a n d s k n e c h t e , das eigentliche M a s s a ­ k e r v o r z u n e h m e n , w ä h r e n d es die Ritter v o r z i e h e n , z u z u s c h a u e n . D i e

16 M t 2 , 1 6 .

17 Lexikon der christlichen Ikonographie. Hrsg. von Engelbert Kirschbaum S. J., 8 Bde., Freiburg 21990, Bd. 2, Sp.509.

18 L u k a s Cranach: Der Bethlehemilische Kindermord, Holztafel, 122,5 x 86,5 cm., Gemäldegalerie Alter Meister, Dresden.

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höfische Ordnung des Bildes ist offensichtlich. Der deutsche Maler in­

szeniert den Mord als eine planmäßige Abfolge von vier Stationen.

Während im rechten Vordergrund die Mütter mit ihren noch lebenden Kindern sitzen, werden ihnen die Säuglinge sodann von den Soldaten links entrissen. Schließlich werden die Kleinen umgebracht und auf den Haufen der schon erschlagenen Kinder geworfen. Geradezu mecha­

nisch teilt sich der Vollzug des Mordes in diese Handlungsabfolge auf.

Interessant ist die ambivalente Inszenierung des historischen Sach­

verhalts durch Cranach, denn während die Landsknechte und Ritter im Hof dem 15. Jahrhundert zu entstammen scheinen, unternimmt der Maler im oberen Teil deutliche Versuche, zu historisieren. Dies beginnt bei der antikisierenden Architektur, deren eingesetzte Imperatorenme­

daillons rechts deutlich die Zeit um Christi Geburt markieren. Darüber hinaus ist der groteske Schmuck der Säulen zu nennen. Diese Histori­

sierung schließlich findet eine Fortsetzung in der Gestalt des Herodes, der die Kopfbedeckung eines hohen jüdischen Würdenträgers trägt.

Vergleicht man Bruegel mit Cranach, so muß man zunächst feststel­

len, daß der Harne den Betrachter weitaus stärker distanziert und er­

heblich mehr Szenen darstellt als der deutsche Künstler. Dem Prinzip der Konzentration bei Cranach stellt Bruegel eine Dissoziation gegen­

über.

Bruegels Gestaltung der Affekte

Der Betrachter wird mit einem dramatischen Effekt ins Geschehen ein­

geführt. Links vome erkennt man eine junge Frau, die verzweifelt ver­

sucht, ihr Kind zu retten. Sie wird von einem Soldaten verfolgt, der schon das Schwert gezückt hat. Nicht dieser allerdings, sondern der Reiter, dessen Pferd nicht ohne Eleganz angaloppiert, wird die Frau im nächsten Moment erreicht und umgeworfen haben, damit das Kind er­

mordet werden kann. Geradezu anmutig bewegen sich Roß und Reiter, so als wären sie einer höfischen Welt entsprungen. Freudig springt der Hund nebendrein, als ginge es darum, ein Wild zu jagen. Wie unbehol­

fen wirkt dagegen der Mann unmittelbar rechts von der genannten Sze-

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Überlegungen zum Realismus Pieter Bruegels d.Ä. 2 8 3

ne, der sich h i n g e k n i e t hat, u m die b e i d e n Reiter inständig u m G n a d e für d i e K i n d e r z u bitten. Ehrfürchtig hat er seine M ü t z e a b g e n o m m e n , deren rotes Innenfutter m a n gerade n o c h erkennen kann. Herrisch er­

s c h e i n e n die b e i d e n O f f i z i e r e , die d e n M a n n entweder nicht w a h r g e ­ n o m m e n h a b e n oder schlicht ignorieren.

D i e s e S z e n e n s i n d s o g r a u s a m , daß s c h o n K a r e l van M a n d e r , B r u e ­ gels erster B i o g r a p h , sie in s e i n e m S c h i l d e r - B o e c k aus d e m Jahre 1604 b e s o n d e r s h e r v o r g e h o b e n hat. A u s d r ü c k l i c h lobt er in d i e s e m Z u s a m ­ m e n h a n g die Fähigkeit des Künstlers, d i e A f f e k t e der M e n s c h e n dar­

stellen z u k ö n n e n :

F e m e r [gemeint sind die Tafeln, die sich i m Besitz des Kaisers befin­

den, J. M ] ein Kindermord mit vielen der Wirklichkeit entnommenen Szenen, v o n dem ich an einer andern Stelle erzählt habe, wie dort eine ganze Familie für ein Bauernkind bittet, das einer der mörderischen Kriegsknechte gepackt hat, um es zu töten, wie die verzweifelte Mutter von Ohnmacht erfaßt wird und andere lebendig erfundene G e s c h e h n i s s e . "

H i l f l o s sind die M e n s c h e n d e n Soldaten ausgeliefert. N i c h t s ist in Sicht, d a s R e t t u n g für die K i n d e r versprechen könnte. D e n n m i t ihrer bisheri­

g e n A u s b e u t e g e b e n sich die Soldaten o f f e n s i c h t l i c h n o c h nicht z u f r i e ­ d e n u n d s c h e i n e n nicht eher ruhen zu w o l l e n , bis sie nicht auch die letzten K i n d e r g e f u n d e n u n d u m g e b r a c h t haben. D e r Fleiß u n d die A u f m e r k s a m k e i t , mit der sich die M ä n n e r dieser A u f g a b e w i d m e n , sind g l e i c h e r m a ß e n h i n g e b u n g s v o l l w i e f u r c h t e i n f l ö ß e n d .

A u f der rechten Seite erkennt m a n , w i e ein H ä s c h e r in ein H a u s hereinstürzt, w ä h r e n d eine Mutter mit i h r e m K i n d auf d e m A r m durch e i n e n S e i t e n e i n g a n g zu fliehen versucht. Hier wartet j e d o c h s c h o n ein S c h e r g e , der diese F l u c h t m ö g l i c h k e i t o f f e n s i c h t l i c h v o r a u s g e s e h e n hat u n d d e s h a l b auf der Lauer liegt. A u f der g e g e n ü b e r l i e g e n d e n Seite er­

k e n n t m a n e i n e n derart erregten M a n n , daß er w o h l auf den H e n ­ k e r s k n e c h t , dessen O p f e r v o r i h m auf d e m B o d e n liegt, l o s g e h e n w ü r -

19 Mander, Carel van: Das Leben der niederländischen und deutschen Maler (von I400bisca. 1615). Übersetzung nach der A u s g a b e von 1617 und A n m e r k u n g e n von Hanns Floerke. W o r m s 1991. S. 155.

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Müller

de, würde er nicht von seinen Nachbarn zurückgehalten. Unmittelbar daneben findet sich eine Szene, in der ein Vater versucht, seine kleine Tochter, auf die er ostentativ mit dem Arm zeigt, gegen seinen Sohn, der gerade von einem Soldaten weggetragen wird, zu tauschen. Es ge­

lingt Bruegel, die ganze Perversion des Dargestellten deutlich zu ma­

chen, indem er einen Menschen so handeln läßt.

Die eigentliche Grausamkeit des Geschehens besteht in der Aus­

weglosigkeit, mit der sich alles vollzieht. Dies ist allerdings zu präzisie­

ren. Denn vergleicht man noch einmal Bruegels Darstellung mit derje­

nigen Cranachs, so muß man die anspruchsvollere künstlerische Kon­

zeption des Hamen betonen. Ihm gelingt es, die Dramatik und Span­

nung für den Betrachter unendlich zu steigern. Immer aufs Neue hoffen wir, daß es doch wenigstens einer Mutter gelänge, diesen Monstern zu entkommen, um dann jedoch festzustellen, wie grundlos unsere Hoff­

nung war. Bei Cranach hingegen vollzieht sich der Kindermord zwar nicht weniger grausam, aber mit einer bloß mechanischen Logik.

Schon die Organisation des Bildraums wird bei Bruegel der Aufga­

be der Dramatisierung untergeordnet. Die perspektivische Konstruktion inszeniert ein großes optisches Gefängnis, das nicht so einfach zu durchschauen ist. Die Häuser links und rechts der Straße rahmen das Geschehen und führen gleichzeitig in die Tiefe des verschlossenen Bildraums. Im Vordergrund des Bildes scheinen die Schergen überall zu sein, aber auch der hintere Bereich ist hermetisch abgeriegelt. Wie einer undurchdringlichen Phalanx sieht sich der Betrachter den schwer­

bewaffneten Lanzenreitern gegenübergestellt, in deren Mitte der schwarzgekleidete Anführer sitzt. Falls den Häschern aber doch einmal ein Kind entwischen sollte, ist für diesen Fall auf der Brücke im hinte­

ren Bildraum eine berittene Wache aufgestellt. So kann man oberhalb des angebundenen Pferdes links eine Person erkennen, die versucht, sich mit einem Kind davon zu schleichen. Doch der Betrachter weiß, daß dieser Versuch keinerlei Chancen auf Erfolg besitzt, scheint man doch die Brücke passieren zu müssen, um den Soldaten zu entkommen.

Hier allerdings wartet unbarmherzig der erwähnte Reiter.

Auf der linken Bildhälfte findet sich ein kurioses Detail. Hier er­

kennt man einen Reiter, der gegen eine Hauswand pinkelt, während ein

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Überlegungen zum Realismus Pieter Bruegels d.Ä. 2 8 5

M a n n sein P f e r d hält. W e n n e i n e m die Natur k o m m t , so scheint der K ü n s t l e r sagen z u w o l l e n , m u ß die A r b e i t ruhen. E i n e S z e n e , d i e w i e ein z y n i s c h e r K o m m e n t a r erscheinen m u ß . D i e frühe F o r s c h u n g sah in s o l c h e n drastischen E i n s p r e n g s e l n d e n f l ä m i s c h e n V o l k s c h a r a k t e r a m W e r k e . S o schrieb W a l t e r C o h e n in s e i n e m B r u e g e l - A r t i k e l i m T h i e - m e - B e c k e r aus d e n 30er Jahren:

Eine unverhohlene Freude a m Unflätigen k o m m t den besonderen In­

stinkten niederländischen Volkstums entgegen.20

D i e s e d i f f a m i e r e n d e Erläuterung v e r m a g den Pisser i m B i l d nicht zu erklären. V o r d e m Hintergrund der B i l d e r z ä h l u n g m u ß m a n darauf h i n w e i s e n , daß die U n p ä ß l i c h k e i t des Soldaten d a z u geführt hat, daß d i e - s c h o n erwähnte - f l i e h e n d e Person i m l i n k e n Hintergrund hat v o r ­ b e i s c h l ü p f e n k ö n n e n . J e d o c h schon i m nächsten M o m e n t w i r d sich die­

ser f r i e d l i c h e , v o n seinen B e d ü r f n i s s e n getriebene M e n s c h , in einen M ö r d e r z u r ü c k v e r w a n d e l n .

A u c h die Häuser bieten den M e n s c h e n k e i n e n S c h u t z v o r d e n S o l ­ daten. V o r n e rechts brechen finstere Gestalten auf B e f e h l ihres H a u p t ­ m a n n s in ein H a u s ein, w ä h r e n d eine andere G r u p p e dabei ist, durch ein Fenster e i n z u d r i n g e n , w o f ü r sie eigens ein Faß g e g e n die H a u s w a n d gestellt h a b e n , u m darüber h i n w e g s t e i g e n zu k ö n n e n . O f f e n s i c h t l i c h h i l f t es d e n M e n s c h e n w e d e r w e g z u l a u f e n , n o c h sich z u verbergen.

M a n achte in d i e s e m Z u s a m m e n h a n g auf den großen H u n d i m V o r d e r ­ g r u n d , der nur w i d e r w i l l i g seiner A u f g a b e als S p ü r h u n d n a c h k o m m e n w i l l . D i e J a g d auf K i n d e r scheint m i t d e m Instinkt des T i e r e s nicht vereinbar z u sein.

Z u s a m m e n f a s s e n d läßt sich sagen, daß Bruegel sichtlich d a r u m b e ­ m ü h t ist, alle A f f e k t e darzustellen, die angesichts eines s o l c h e n G e ­ schehnisses auftreten k ö n n e n : V e r z w e i f l u n g und tiefe N i e d e r g e s c h l a ­ genheit, F a s s u n g s l o s i g k e i t u n d Ratlosigkeit. A b e r nicht nur die O p f e r , auch die Täter w e r d e n ausgiebig charakterisiert, e t w a die H e r z l o s i g k e i t der Soldaten, die sich nicht durch die Bitten der M e n s c h e n e r w e i c h e n

20 T h i e m e , Ulrich / Becker, Felix: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. 37 Bde., Leipzig 1907-1950, Bd. 2, S. 101.

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286 Müller

lassen und in ihrem Morden wahllos fortfahren. Ihr Blutrausch scheint so übermächtig geworden zu sein, daß es nun gar keines weiteren Be­

fehls mehr bedarf, die Neugeborenen umzubringen.

Außerdem muß die besondere Form der Betrachteransprache Brue- gels herausgestellt werden. Im Gegensatz zu Cranach distanziert er den Betrachter weitaus stärker und zeigt einen größeren Bildausschnitt. Es ist, als würde man aus dem Fenster eines Hauses herunterschauen, das sich auf Höhe der gegenüberliegenden Dächer befindet.

In den Historien von Cranach und Bruegel geht es um die Darstel­

lung und die Erregung der Affekte. Beide Künstler behandeln den Be­

trachter wie einen Augenzeugen, aber während Cranach mit der Ko­

stümierung der Figuren und der Staffage wie im Irrealis redet, funktio­

niert Bruegels „Realismus" unmittelbarer, läßt uns seine Konstruiert- heit vergessen. Hierfür ist es nötig, so viele Einzelszenen zu erfinden, die uns immer weitersehen lassen, uns immer stärker ins Bild hinein­

ziehen. Vor dem Hintergrund rhetorischer Theorie ist hier an die Evi- dentia, die Augenscheinlichkeit für den Hörer zu erinnern, die vom Redner fordert, den komplexen Redegegenstand in wirkliche oder er­

fundene Details aufzulösen, die einen lebendigen Gesamteindruck vermitteln können.

21

Was wir Realismus nennen, ist also zunächst ein­

mal eine rhetorische Figur, die der Beglaubigung dient. Das

„realistische" Prinzip, nach dem Bruegel hier verfährt, ist das der

Translatio temporum: Die sprachliche Übertragung der vergangenen

Geschehenszeit in die Gegenwart, der lokalen Abwesenheit in die loka­

le Anwesenheit, so daß der Rezipient den Eindruck eigener Augenzeu­

genschaft vermittelt bekommt.

Cranach konfrontiert uns lediglich mit einem im Aufbau klar und einfach strukturierten, schrecklichen Bild, das mit einem Blick erfaßt werden kann. Bruegel hingegen versucht, den Terror zu gestalten. Die Gefahr dabei besteht im hohlen Pathos. Deshalb integriert er in seine

21 Für seine Gestaltung bedient sich der flämische Künstler dabei des rhetorischen Stümittels der Figurae sententiae, die allgemein der Gedankenführung dienen. Ue- ding, Gert / Steinbrink. Bernd: Grundriss der Rhetorik. Geschichte - Technik - Me­

thode. Stuttgart 21986. S. 293.

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Überlegungen zum Realismus Pieter Bruegels d.Ä. 2 8 7

B i l d e r zä h l u n g scheinbar n e b e n s ä c h l i c h e , retardierende M o m e n t e , u m d i e A f f e k t e d e s Betrachters dann aber - n a c h d e m sie w i e d e r beruhigt w u r d e n - n o c h stärker erregen z u k ö n n e n . I h m geht es u m d i e größt­

m ö g l i c h e Steigerung der A f f e k t e . D i e sogenannten realistischen E l e ­ m e n t e in B r u e g e l s Malerei d i e n e n g l e i c h e r m a ß e n der V e r m e i d u n g des h o h l e n w i e der Steigerung des w a h r e n Pathos.

Die Ikonographie von Bruegels „Kindermord"

E i n e n w i c h t i g e n i k o n o g r a p h i s c h e n H i n w e i s erhält m a n , w e n n m a n die S z e n e i m absoluten B i l d z e n t r u m betrachtet, d e n n hier f i n d e n sich u n ­ mittelbar n e b e n e i n a n d e r z w e i B i l d f i g u r e n , die a u f einen anderen i k o ­ n o g r a p h i s c h e n Z u s a m m e n h a n g verweisen. D i e b e i d e n Frauengestalten n ä m l i c h , v o n d e n e n eine die H ä n d e erhoben, die andere - a u f f ä l l i g ins P r o f i l gerückt - , den K o p f in die H ä n d e gelegt hat, g e h ö r e n z u m t y p i ­ s c h e n B i l d p e r s o n a l einer K r e u z i g u n g . Hier findet sich ein d i f f e r e n z i e r ­ tes R e p e r t o i r e v o n S c h m e r z e n s f o r m e l n . D u r c h dieses V e r s a t z s t ü c k aus der K r e u z i g u n g s i k o n o g r a p h i e ergibt sich ein t y p o l o g i s c h e r H i n w e i s für d a s V e r s t ä n d n i s der T a f e l , denn die K i n d e r w e r d e n dadurch zu P r o t o - märtyrern erklärt und weisen auf das M a r t y r i u m Christi voraus.2 2

D i e s e r g ä n g i g e n t h e o l o g i s c h e n V o r s t e l l u n g , die auch für C r a n a c h s T a f e l G e l t u n g besitzt, w i r d bei B r u e g e l durch besondere i k o n o g r a p h i - sche E l e m e n t e ergänzt. D e n n der Künstler verlegt seine A u s s a g e in u n ­ scheinbare Details. V o r d e m z w e i t e n D a c h links sieht m a n eine G r u p p e v o n k l e i n e n V ö g e l n aufgeregt durcheinanderfliegen. D i e s e k l e i n e n s c h w a r z e n P u n k t e sind derart prägnant vor d e m w e i ß e n H i n t e r g r u n d in S z e n e gesetzt, daß m a n sie nach einer g e w i s s e n W e i l e n o t w e n d i g ent­

d e c k t . D a s M o t i v des aufgeregt durcheinander f l i e g e n d e n V o g e l - s c h w a r m s scheint die dargestellten Ereignisse zu spiegeln u n d k o r r e ­ spondiert m i t d e m V o g e l v o r n e rechts, der auf die b e i d e n großen Fässer z u f l i e g t , s o als w o l l t e er sich in d e m Faß mit d e m o f f e n e n S p u n t l o c h

22 Lexikon der christlichen Ikonographie (s. A n m . 17), Bd. 2, Sp. 509. A u c h bei den Reitern mit ihren aufgerichteten Lanzen denkt man an eine Kreuzigung.

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verbergen. Man achte außerdem auf die weißen Fußspuren auf dem Eis, die auf die kleinen Füsse verweisen, die darüber hinweggelaufen sind.

Hat sich vielleicht eines der Kinder in dem Faß verbergen können? Die beiden Fässer sind derart prominent an die Bildgrenze gerückt, daß man nach ihrer Bedeutung fragen muß. Wenn man sie vergleicht, ver­

weist das offene Spuntloch des linken Fasses darauf, daß es leer ist; das rechte hingegen, an dem man keine Öffnung erkennen kann, könnte entsprechend mit einer Flüssigkeit gefüllt sein.

Durch die weißen Fußspuren auf der vereisten Pfütze macht Bruegel deutlich, daß alle Flüssigkeiten in gefrorenem Zustand sein müssen.

Wenn also das rechte Faß wirklich mit einer Flüssigkeit gefüllt wäre, dann bestünde die Gefahr, daß es auseinanderplatzt. Nun finden sich zwei Embleme, die sich auf diesen Sachverhalt beziehen lassen. Beide zeigen ein Faß, das Gefahr läuft auseinanderzubrechen. Die Embleme sind allerdings in die Zeit nach der Entstehung von Bruegels Tafel zu datieren. In Theodore de Bezes Icones aus dem Jahre 1580 ist eine Pictura abgebildet, die ein zerborstenes Faß zeigt. Die Subscriptio er­

läutert, daß selbst wohlgefügte Fässer sich leicht lösen, wenn sie nicht von festen Reifen zusammengehalten werden, weshalb derjenige Staat zugrundegehen muß, der nicht durch gesetzliche Strafen gefestigt ist.

23

Das zweite Emblem ist aus den Emblemala Moralia Et Aeconomica aus dem Jahre 1627.

24

Die Pictura ist ein Sinnbild für die Kurzlebigkeit der Gewaltherrschaft. Das Epigramm erklärt, daß das, was zu eng einge­

schlossen ist, Gefahr läuft zu zerspringen. Der gemeinsame Sinn beider Embleme ist eindeutig: Das Volk wird durch das Faß repräsentiert, die Herrschaft durch die Ringe, die das Faß umschließen. Bald wird das frierende Wasser das Faß sprengen. Es ist demnach nur eine Frage der Zeit, wann sich das Volk den Unterdrückern entgegenstellt und die Ketten der Gewaltherrschaft sprengt.

Worin besteht die spezifische Leistung der Bruegelschen Bildrheto­

rik? Hier ist zunächst einmal die politische Funktion zu nennen. Seine

23 Emblemala. Handbuch zur Sinnbildkunst des XVI. und XVII. Jahrhunderts. Hrsg.

v o n Arthur Henkel und Albrecht Schöne. Stuttgart 1967, Sp. 1397 24 E b d . , S p . 270-71.

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Überlegungen zum Realismus Pieter Bruegels d.Ä. 2 8 9

T a f e l erlaubt, die V e r g a n g e n h e i t als t y p o l o g i s c h e Folie zu n u t z e n , vor der sich die G e g e n w a r t begreifen läßt. G e m e i n t ist hier die Habsburger F r e m d h e r r s c h a f t in den südlichen Niederlanden. I m m e r w i e d e r ist der s c h w a r z e A n f ü h r e r i m Z e n t r u m des B i l d e s mit d e m H e r z o g A l b a i d e n ­ tifiziert w o r d e n .2 5 A u ß e r d e m achte m a n auf den j u n g e n d l i c h e n B o t e n rechts, u m d e s s e n Pferd sich mehrere D o r f b e w o h n e r e i n g e f u n d e n ha­

b e n , der d e n H a b s b u r g e r D o p p e l a d l e r a u f der Brust trägt, a l s o eine ein­

deutige zeithistorische M a r k i e r u n g zeigt. E b e n s o findet sich der D o p ­ peladler a m D a c h f i r s t des H a u s e s , das sich auf der vertikalen B i l d a c h s e befindet. D a s B i l d ergreift eindeutig Partei gegen die brutalen Besatzer u n d Unterdrücker. N u n m u ß m a n sich allerdings fragen, w o r i n die k ü n s t l e r i s c h e L e i s t u n g des B i l d e s besteht. W ä r e die propagandistische F u n k t i o n als die eigentliche Ursache für die Entstehung des B i l d e s zu erachten, hätte der K ü n s t l e r dann nicht weitaus effizienter i m M e d i u m der D r u c k g r a p h i k arbeiten k ö n n e n ?

V e r g l e i c h t m a n n o c h e i n m a l B r u e g e l und C r a n a c h , so k ö n n t e m a n sagen, daß C r a n a c h uns mit d e m grausamen G e s c h e h e n konfrontiert, uns aber z u g l e i c h paralysiert, w ä h r e n d Bruegel ein u n g e h e u r e W u t i m Betrachter w e c k t , die diesen z w a n g s l ä u f i g politisiert. E m o t i o n a l isie- rung u n d Politisierung sind hier z w e i Seiten einer M e d a i l l e . In dieser H i n s i c h t m u ß n o c h e i n m a l der M a n n i m B i l d herausgestellt w e r d e n , der e i n g r e i f e n w i l l , aber zurückgehalten wird. D i e s e S z e n e m u ß für den Betrachter zur Entscheidungssituation werden. W i e w ü r d e n w i r uns verhalten, w e n n wir v o n u n s e r e m B e o b a c h t u n g s p o s t e n herabsteigen k ö n n t e n ?

Perl Hypsos oder von der Notwendigkeit des Vulgären für das Erhabene

D i e bisher skizzierte Interpretation bleibt letztlich aber u n v o l l s t ä n d i g , w e n n m a n sie nicht in einen p o e t o l o g i s c h e n K o n t e x t stellt. D i e s e r ist

25 V g l . Stanley Ferber: Pieter Bruegel and the Duke of Aha. In: Renaissance N e w s 9 (1966), S. 205-219.

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290 Müller

meines Erachtens Longinus und dessen Schrift Vom Erhabenen. Eine Schrift, die in die Zeit unmittelbar um Christi Geburt reicht und einem anonymen Autor zugeschrieben wird, für den sich der Name Pseudo-

Longinus eingebürgert hat. Die Editio Princeps erscheint 1554 in Basel in griechischer Sprache. Schon ein Jahr später wird in Venedig eine weitere Ausgabe herausgegeben, die den Erfolg der Schrift bezeugt.

Die älteste Übersetzung ins Lateinische reicht in das Jahr 1566 zurück, während Übersetzungen in die Volkssprachen erst ein Jahrhundert später folgen.

Das griechische Wort „hypsos" wird mit „Erhabenheit" oder

„Erhabenes" übersetzt, doch versteht man im Griechischen darunter auch, wie Otto Schönberger ausführt, das Große, Erstaunliche, Über­

wältigende, das Pathetische in Poesie und Prosa. Die stilistische Kate­

gorie „Hypsos" entstammt der rhetorischen Tradition, die neben den schlichten (tenue dicendi genus) und den mittleren (medium dicendi genus) den erhabenen Stil (sublime oder grande dicendi genus) stell- te.

26

Die Schrift Vom Erhabenen ist keinem rhetorischen Lehrtraktat zu vergleichen, sondern stellt eine Sammlung von Exempla dar, die ge­

lungene Beispiele für die Gestaltung des Erhabenen enthält. Pseudo- Longinus' Interesse ist insofern weitaus spezialisierter, als ihm ledig­

lich ein spezielles Problem der Poetik am Herzen liegt. In Vom Erha­

benen unternimmt der antike Autor den Versuch, ein tätiges Einfühlen

in die großen Werke zu lehren, um dadurch zu fruchtbaren eigenen Weiterbildungen anzuregen.

27

Das eigentliche Problem der kleinen Abhandlung ist also die Frage, wie es möglich sei, den Hörer zu überwältigen.

28

Welcher sprachlicher Mittel muß sich der Redner bedienen, um dem Hörer die Distanz ge­

genüber dem Dargestellten zu nehmen? Die Kunst ist gemäß Longinus

2 6 Longinus: Vom Erhabenen. Griechisch/Deutsch, übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger, Stuttgart 1988, S. 141.

27 Ebd., S. 137. D e m sind allerdings Grenzen gesetzt, denn nur der z u m Erhabenen fähige Künstler sei imstande, große und schreckliche Bilder zu finden. S. 21.

2 8 Ebd., S. 5 u. 7.

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Überlegungen zum Realismus Pieter Bruegels d.Ä. 291

überhaupt nur dann a m Z i e l , w e n n sie w i e Natur erscheine, w o b e i der e i g e n t l i c h e F e i n d aller Erhabenheit für L o n g i n u s die K ü n s t e l e i ist.29

W i c h t i g ist die f u n d a m e n t a l e Kritik traditioneller R h e t o r i k , die glaubt, e i n e erhabene W i r k u n g m ü s s e über Proportionalität hergestellt werden.

L o n g m u s vertritt genau d i e g e g e n t e i l i g e T h e s e , daß n ä m l i c h das N i e d ­ rige u n d V u l g ä r e a m besten geeignet sei, das Erhabene darzustellen, u m d i e A f f e k t e des Hörers z u erregen.

Die Notwendigkeit der Bilder zur Erregung der Affekte

E n t s c h e i d e n d für das Pathos der R e d e sei der rechte G e b r a u c h der B i l ­ der durch d e n Redner.3 0 D o c h verbietet L o n g i n u s d e m R e d n e r P h a n t a ­ siebilder, die übertrieben erscheinen u n d z u m S a g e n h a f t e n neigen.

Stattdessen e m p f i e h l t er, sich i m m e r an L e b e n u n d Realität zu halten.

D e n n gerade d a n n gelinge es, d e n Hörer nicht nur zu ü b e r z e u g e n , s o n ­ dern auch z u überwältigen.3 1 Entsprechend seien rhetorische Figuren i m m e r d a n n a m besten eingesetzt, w e n n ihr Einsatz v e r b o r g e n bleibe.3 2

„Pathetische M i t t e l " , so führt L o n g i n u s aus, „reißen dann n ä m l i c h stär­

ker m i t , w e n n sie der Sprecher nicht als Mittel z u v e r w e n d e n , sondern sie der A u g e n b l i c k zu gebären scheint; [...]." D a s Erhabene k a n n nur d a n n ü b e r z e u g e n d v o m R e d n e r dargestellt w e r d e n , w e n n die F o r m hinter den Inhalt zurücktritt, w e n n also der Inhalt oder das E r e i g n i s s o i n t e n s i v erscheint, daß ich seine sprachliche K o n s t r u k t i o n vergesse.

29 Ebd.. S. 61.

30 .ferner rufen, junger Freund, die Bilder der Phantasie auch Erhabenheit. Größe und Energie des Stils hervor - so jedenfalls nenne ich sie; manche sprechen von Bilder­

zeugung. Denn gewöhnlich heißt Vorstellung jeder aufsteigende Gedanke, der einen sprachlichen Ausdruck hervorruft; das Wort hat sich aber auch für die Fälle einge­

bürgert, wo man das Gesagte in Begeisterung und leidenschaftlich erregt zu schauen meint und es den Hörern vor Augen stellt." Ebd., S. 43 u. S. 75.

31 Ebd., S. 45.

32 Ebd., S. 55.

33 Ebd., S. 57.

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Müller

Alle rhetorischen Mittel, die Longinus im einzelnen beschreibt, um eine erhabene Rede herzustellen, sehen wir in Bruegels realistischer Malerei umgesetzt. Wenn der flämische Künstler das hohe biblische Thema in einen scheinbar einfachen und alltäglichen Kontext übersetzt, darf dieser Decorumverstoß nicht ausschließlich als Lust am Niederen gewertet werden, sondern als Ausdruck besonderer Kunstfertigkeit des Malers, der selbst die einfache Bevölkerung dieses kleinen Ortes zu tragischen Helden werden läßt. Wenn Longinus auf die herausragende Bedeutung der Wortstellung für die Rede hinweist, macht er deutlich, daß die erhabene Wirkung kein Privileg besonderer Wörter sei, sondern die Folge eines subtilen Arrangements. Nicht schon der Gegenstand, sondern erst die Komposition schafft das Erhabene.

34

Selbst Worte, die ganz der Umgangssprache enstammen, eignen sich durch entsprechen­

de Fügung zu einer erhabenen Wirkung. Gerade die „vulgären Wörter"

besäßen hier eine besondere Wirkung.

35

Denn dadurch, daß ein hohes Thema mit besonders einfachen Worten vorgetragen wird, ergibt sich der ästhetische Reiz:

Manchmal ist eben die gewöhnliche Rede entschieden ausdrucksstarker als die feine, wird gleich aus dem Leben heraus verstanden, und das Gewohnte wirkt sofort überzeugender.36

34 „Nichts nun verleiht der Rede mehr Größe als die Wortstellung. Wie den Körper die Zusammenfügung seiner Glieder aufbaut, von denen keines allein, getrennt von den anderen, Wert besitzt, alle zusammen aber einen vollkommenen Organismus bilden, so ist es auch in der Rede: Werden die großen Wendungen auseinandergerissen, zerstreuen sie mit sich selbst auch das Erhabene nach allen Seiten; sind sie aber zu einem lebendigen Organismus vereint und zudem durch das Band des Wohllautes verbunden, dann verleiht ihnen die Rundung ihren vollen Klang. [..] ja, viele Schriftsteller und Dichter, von Natur nicht erhaben und vielleicht sogar ohne Größe, erreichten dennoch, obschon sie zumeist gewöhnliche, volkstümliche und nichts Be­

sonderes aufweisende Wörter gebrauchten, allein durch deren harmonische Fügung Würde, Erlesenheit und den Eindruck von Größe, [..]." Ebd., S. 97 u. 99.

35 Ebd., S. 99.

36 Ebd., S. 75.

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Überlegungen zum Realismus Pieter Bruegels d.Ä. 2 9 3

B r u e g e l s dramatische B i l d r e g i e setzt L o n g i n u s ' ästhetische F o r d e r u n ­ g e n o p t i m a l u m . W i e ein Sturzbach j a g e n die B i l d e r des K i n d e r m o r d e s d a h i n , reißen uns mit i m S t r o m pathetischer R e d e . D i e D r a m a t u r g i e der A u g e n z e u g e n s c h a f t m a c h t uns a t e m l o s , sie läßt uns keine Z e i t zur B e ­ s i n n u n g , sondern versetzt uns in tiefe Erregung.3 7 D a s Erlebnis des B i l d g e s c h e h e n s w i r d so stark, daß w i r vergessen, daß es sich u m K u n s t handelt. D i e erste V o r a u s s e t z u n g dafür ist, das historisch V e r g a n g e n e als g e g e n w ä r t i g e i n z u f ü h r e n , u m d e n Bericht in eine d r a m a t i s c h e S c h i l d e r u n g z u v e r w a n d e l n .3 8 M i t dieser zeitlichen V e r s c h i e b u n g geht e i n e örtliche einher, die uns inmitten der G e f a h r e n versetzt u n d das G e ­ s c h e h e n unmittelbar v o r A u g e n führt.3 9

Bruegel als malender Demosthenes

S c h o n in der Frühen N e u z e i t ist Bruegel mit anderen K ü n s t l e r n vergli­

c h e n w o r d e n . M a n hat ihn als einen z w e i t e n H i e r o n y m u s B o s c h be­

z e i c h n e t oder m i t d e m antiken Künstler A p e l l e s verglichen.4 0 N a c h all d e m G e s a g t e n glaube ich nicht, daß ihn einer dieser V e r g l e i c h e befrie­

digt hätte, d e n n Bruegel hat sich nach m e i n e m D a f ü r h a l t e n k e i n e n M a l e r , sondern einen D i c h t e r z u m V o r b i l d g e n o m m e n : D e m o s t h e n e s n ä m l i c h , d e n Q u i n t i l i a n u n d P s e u d o - L o n g i n u s als d e n g r ö ß t e n aller R h e t o r e n b e z e i c h n e n . Paraphrasierend m ö c h t e ich d e n f l ä m i s c h e n M a ­ ler m i t den g l e i c h e n W o r t e n beschreiben, die P s e u d o - L o n g i n u s nutzt,

37 Ebd., S. 77.

38 Ebd., S. 67.

39 Ebd., S. 69.

4 0 V g l . mit weiterführender Literatur H a n s - J o a c h i m Raupp: Bauernsatiren. Entstehung und Entwicklung des bäuerlichen Genres in der deutschen und niederländischen Kunst ca. 1470-570. Niederzier 1986, S. 304. A u ß e r d e m Jan Muylle: Tier den Drol' - Karel van Mander en Pieter Bruegel. Bijdrage tot de lileraire receptie van Pieter Bruegels werk ca. 1600. In: Wort und Bild in der niederländischen Kunst und Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts. Hgg. von H. V e k e m a n und J. Müller Hofstede. Herfstadt 1984, S. 137-144.

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2 9 4 Müller

u m D e m o s t h e n e s z u charakterisieren: B r u e g e l besitzt k e i n e n p r u n k v o l­

len Stil. Er spricht nicht g e w a n d t , n o c h w e i ß er elegante W e n d u n g e n z u b e n u t z e n , h ü b s c h e L o b r e d e n v e r m a g er nicht z u verfassen, hat keine v o r n e h m e A r t , s o n d e r n ist u n f e i n , g r o b u n d rauh, j e stärker er versucht, der A n m u t nahe zu k o m m e n , desto f e m e r steht er ihr. A b e r m ö g e n auch d i e S c h ö n h e i t e n der anderen K ü n s t l e r zahlreicher sein, nur er besitzt w a h r e L e i d e n s c h a f t . „ D e m o s t h e n e s aber", sagt L o n g i n u s , „ d o n n e r t u n d blitzt [...] d i e R e d n e r aller Z e i t e n g l e i c h s a m nieder; u n d eher k ö n n t e m a n in z u c k e n d e B l i t z e schauen als d e n fortgesetzten A u s b r ü c h e n sei­

ner L e i d e n s c h a f t m i t d e m B l i c k standhalten."4 1

A b b . 1 (S. 2 9 5 ) : Pieter Bruegel: Der Bethlehemitische Kindermord, H o l z t a f e l , 111 x 160 c m , u m 1566, K u n s t h i s t o r i s c h e s M u s e u m , W i e n . B i l d a r c h i v F o t o M a r b u r g .

A b b . 2 (S. 2 9 6 ) : Lukas Cranach: Der Bethlehemitische Kindermord, H o l z t a f e l , 122,5 x 86,5 c m , G e m ä l d e g a l e r i e A l t e r Meister, D r e s d e n . B i l d a r c h i v F o t o M a r b u r g .

41 Longinus: Vom Erhabenen (s. Anm. 26), S. 85 u. 87.

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Referenzen

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