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ransparenz in Bonn? Mit- nichten! Von der überwie- genden Mehrzahl der Bundestagsabgeordneten der Regierungskoalition wird ein Übermaß blinden Glaubens er- wartet: Sie sollen in Kürze ab- segnen, was eine Handvoll mehr oder weniger zielbewußter Ex- perten jüngst ausgetüftelt hat, nämlich die kaum mehr zu über- schauenden Formulierungsva- rianten zum ursprünglichen Re- gierungsentwurf des Gesund- heits-Reformgesetzes.Prof. Dr. Siegfried Häußler monierte: „Den Abgeordneten wird zugemutet, in einer Zeit- spanne von nur vier Wochen hierüber zu beraten . . . Es muß bezweifelt werden, ob die um- fangreichen Gesetzgebungsma- terialien in der zur Verfügung stehenden kurzen Zeit sachge- recht bearbeitet werden kön- nen." Häußler sagte Pressever- tretern Ende September, er ha- be Verständnis dafür, wenn die Abgeordneten sich Zeit für eine verantwortungsvolle Befassung nehmen und das Gesetz ein paar Monate später verabschieden
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ielleicht gehen die Sprachforscher irgend- wann einmal dem Ur- sprung des Ausdrucks „freiheit- lich" nach. Sicher stoßen sie dann auch auf Franz Josef Strauß. Der mag das Wort nicht geprägt haben; sprachschöpfe- risch, wie er war, könnte es je- doch von ihm stammen. Be- stimmt aber gehörte Strauß zu den beredtsten Propheten eines freiheitlichen Staats, jenes Ge- meinwesens, in dem sich Markt- wirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und Parlamentarismus mit kon- servativer Denkart verbinden.In diesem Sinne gibt es auch den Begriff des freiheitlichen Gesundheitswesens. Franz Josef Strauß, der sich vor dem Deut- schen Ärztetag mit der Gesund- heitspolitik auf seine Weise be- schäftigte, sah im bestehenden Gesundheitswesen, so gut es an sich sei, viele die Bewegungs- freiheit einschränkende Ele-
Deutscher Bundestag
Transparenz
würden. Die bedenkliche Alter- native: Einzelvorschriften, die eine gründliche Diskussion ver- dienen, würden aus Zeitmangel einfach „abgehakt".
Apropos „Transparenz":
Das besonders umstrittene Ka- pitel 10 des Gesetzes, das die Transparenzbestimmungen ent- hält, ist in den letzten Wochen völlig umformuliert worden;
kaum ein Satz ist mehr identisch mit dem ursprünglichen Regie- rungsentwurf. Selbst den weni- gen Experten fällt es schwer, sich durch die Neuformulierun- gen und Textumstellungen durchzuarbeiten. Wo sollen die Abgeordneten in den Ausschüs- sen, geschweige im Plenum, die sich mit einer Vielzahl vordring- lich zu lösender politischer Pro- bleme herumschlagen müssen, die Zeit hernehmen, sich diese schwierige Materie wahrhaft
Franz Josef Strauß
Freiheitlich
mente und in der Gesundheits- politik allzu viele Tendenzen zur Bevormundung; Strauß:
„Wir erleben auch auf die- sem Gebiet seit zehn Jahren ei- ne Reformneurose und eine Programminflation in der Ge- sundheitspolitik bei Parteien und Regierungen, Gewerk- schaften und Unternehmern, berufenen und selbsternannten Experten — alles in der Absicht oder mit dem Vorwand der Ver- besserung. Manchmal entsteht der Eindruck, daß im Quadrat des Abstands zum Gesundheits- wesen die selbst angemaßte Legi- timation steigt, einen kritischen Beitrag zur Systemveränderung liefern zu dürfen. Wenn man die-
„transparent” zu machen? — Wie Dr. Otfrid P. Schaefer bei einem Presseseminar der KBV kritisierte, werden weiterhin Kontrollregelungen und Daten- sammlungen im Übermaß und bei unverhältnismäßig großem Aufwand geplant. Dem Patien- ten drohen unverschämte frem- de Einblicke in personenbezo- gene Gesundheitsdaten. Dem Arzt droht in einem Reglement totalitärer Gängelungen und übermäßiger Repressalien künf- tig bei jeder Überschreitung ei- ner „Richtgröße" geradezu ein Tribunal.
Die tiefen Eingriffe in die Vertrauensbeziehung zwischen Patienten und Ärzten haben so- gar den Weltärztebund alar- miert und einen Appell an die Regierung der Bundesrepublik Deutschland zur Wahrung frei- heitlicher, humaner Krankenbe- handlung und nicht zuletzt zur Bewahrung der Vertraulichkeit von Patientendaten ausgelöst.
Was Bonn in dieser Hinsicht bis- her plante, findet auch bei den Ärzten der übrigen freien Welt kein Verständnis. DÄ
se Programme durchblättert, dann stößt man auch auf diesem Gebiet auf eine geradezu flagel- lantistische Lust an Kontrolle, Kommissionen, Überprüfung, Verhinderung, Kürzung, Selbst- beschränkung, Investitionslen- kung, Dirigismus, Vereinheitli- chung, Aufsichtsgremien, und immer wieder ist von dem Erfor- dernis neuer Überprüfung die Rede."
Der lebhafte Beifall war Strauß nach solchen Worten si- cher. Jahr und Anlaß: 1979, Deutscher Ärztetag in Nürn- berg. Damals war die soziallibe- rale Koalition am Ruder und Strauß' Worte waren auch ge- gen diese Koalition gerichtet.
Wer aber fühlt sich heute ange- sichts eines Gesundheits-Re- formgesetzes , das von genau je- ner Lust an Kontrolle zeugt, durch diese Worte des Prophe- ten der freiheitlichen Politik nicht eigentümlich berührt? NJ
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DEUTSCHES ÄRZTEBLATT
Dt. Ärztebl. 85, Heft 41, 13. Oktober 1988 (1) A-2785