Ärztliche Anm erkungen zu einem faszinierenden Film
DEUTSCHES
ÄRZTEBLATT
ER KOMMENTAR
D
iejenigen Ärzte — vor allem Psychiater, Kinder- und Ju- gendpsychiater sowie Kin- derärzte —, die sich mit dem autisti- schen Syndrom beschäftigen, werden mit einem interessanten Mediener- eignis konfrontiert: Es ist der Mitte März in der Bundesrepublik ange- laufene amerikanische Film „Rain Man" mit Dustin Hoffman und Tom Cruise. Der Elternverband „Hilfe für das autistische Kind" hat an ver- schiedenen Orten auf dieses Ereignis aufmerksam gemacht. Es ist sehr zu begrüßen, daß auf diese Weise zahl- reiche Menschen aus allen Bevölke- rungsschichten diese schwere Ver- haltensstörung kennenlernen kön- nen. Was ist von diesem Film aus der Sicht des Ju-gendpsychiaters im einzelnen zu halten? Zeichnet dieser Film denn ein richtiges Bild vom autistischen Menschen?
Das Urteil über den Film als Ganzes kann zwiespältig sein, die Darstellung des Autisten durch Dus- tin Hoffman ist zweifellos eine Mei- sterleistung. Hier wird in zirka zwei Stunden fast alles vorgeführt, was ein Autist, der nicht geistig behin- dert ist, an psychischen Symptomen und eigenartigen Verhaltensweisen darbieten kann: die schwere Störung des Kontakts zu den Mitmenschen, die Neigung zu Panikreaktionen, die seltsame Motorik mit Stereotypien, die Selbststimulation bis zur Selbst- beschädigung, die geschraubte Aus- drucksweise mit ständigen Iteratio- nen, die z. T. erstaunlichen Mehrlei- stungen, denen manchmal grobe Mängel auf anderen Gebieten ge- genüberstehen.
Beispiel nur für einen Teil der gesamten autistischen Population
Rain Man ist in der Lage, zwei vierstellige Zahlen innerhalb weni- ger Sekunden richtig zu multiplizie- ren; er lernt in kurzer Zeit Namen und Nummern des Telefonbuches von A bis G auswendig; bei einem
Glücksspiel in Las Vegas kann er sich zahlreiche Karten so gut mer- ken, daß sein Bruder ständig gewinnt und damit praktisch die Bank sprengt. Andererseits weiß er nicht, wieviel Geld er bei einem einfachen Kauf in einem Geschäft zurückbe- kommen muß.
Neben dieser positiven Beurtei- lung des Films sind aber auch einige kritische Punkte anzumerken.
Im realen Leben würde man mit einem autistischen Menschen die zahlreichen Abenteuer des Films
Man
nicht bestehen können. Bei der Irr- fahrt von dem Heim, aus dem der Bruder den Autisten entführt, um an die diesem von dem verstorbenen Vater vererbten drei Millionen Dol- lar zu kommen, würde jeder richtige Autist nach kurzer Zeit die Gefolg- schaft verweigert haben. In dem Film muß das aber alles durchgezogen werden, um den Autisten zu seinen symptomatischen Verhaltensweisen zu provozieren. Des weiteren darf der Propagandawert des Films nicht überschätzt werden. Er zeigt einen bereits erwachsenen, meiner Schät- zung nach etwa 30jährigen intelligen- ten — wirklich sehr typischen — Auti- sten.
Die Mehrzahl der Autisten, die der Arzt, Psychologe und/oder Päd- agoge — glücklicherweise schon als Kind — zu sehen bekommt, ist nicht so intelligent, ist eventuell sogar gei- stig behindert, wird aber doch den vom autistischen Syndrom Betroffe- nen zugerechnet. Der von Dustin Hoffman in diesem Film so ausge- zeichnet dargestellte Autist steht al- so nur für einen Teil der gesamten autistischen Population.
Eine weitere ärztliche Wertein- schränkung des Films ist es, daß an keiner Stelle von Therapie die Rede
ist. Rain Man verbringt offenbar Jahrzehnte in dem Heim, in dem man nur Schwerstbehinderte sieht.
Man erfährt aber nur, daß ein Pfle- ger zu ihm ein sehr gutes Verhältnis hat. Der Psychiater ist vorwiegend die juristische Instanz, die darüber zu entscheiden hat, in welcher Weise der Pflegling abnorm ist und wo er sich in Zukunft aufhalten soll.
Die Handlung des Films ist ein amerikanisches Abenteuer, eine Entführung aus finanziellen Grün- den, endlosen Autofahrten durch z. T. wüste Gegenden, Prunk und Glamour in verschiedenen Groß- städten. Dazu kommt die Wandlung des zunächst verständnislosen und habgierigen jüngeren Bruders zu ei- nem liebenden Freund, der den autistischen Bru- der am liebsten für immer bei sich behalten möchte. Der ganze Film erin- nert ein wenig an Vladimir Nabokovs Lolita. Auch in diesem Erfolgsroman und dem danach gedrehten Film wird eine Entführung mit einer abenteuerlichen Autoreise durch die Vereinigten Staaten vorgeführt.
Das Spezialgebiet findet ein breiteres öffentliches Interesse
> Allen Ärzten und sonstigen Personen, denen soziale Probleme am Herzen liegen, kann sehr emp- fohlen werden, sich den Film „Rain Man" anzusehen. Für die speziell am Autismus Interessierten liegt der Wert des Filmes darin, daß ihrem Spezialgebiet eine breitere Öffent- lichkeit eröffnet wird. Dieses Argu- ment gilt natürlich erst recht für die Eltern und sonstigen Angehörigen der autistischen Menschen sowie für diese selbst, soweit sie die Dinge überschauen können.
Prof. Dr. H. E. Kehrer
Institut für Autismusforschung (IFA e.V.)
Albert-Schweitzer-Straße 11 4400 Münster
A-1104 (28) Dt. Ärztebl. 86, Heft 16, 20. April 1989