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Archiv "Die Bedeutung der Retrainingtherapie bei Tinnitus" (05.11.1999)

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arallel zu der Zunahme der Schwerhörigkeit nimmt auch die Prävalenz und Inzidenz von Tinnitus besorgniserregend zu.

Epidemiologische Untersuchungen aus Großbritannien (6), Schweden (1, 2) und den USA (26, 28) zeigen, daß zirka 35 bis 45 Prozent der er- wachsenen Bevölkerung in den Indu- striegesellschaften zu irgendeinem Zeitpunkt Ohrgeräusche wahrgenom- men haben. Acht Prozent der Befrag- ten fühlten sich leicht, 0,5 bis ein Pro- zent erheblich bis schwer beeinträch- tigt. Wie Untersuchungen zur Komor- bidität belegen (8, 12 16), klagen die Betroffenen häufig über Konzentrati- ons- und Schlafstörungen, über Mü- digkeit, Reizbarkeit, Angst, Depressi- on und Hörbeeinträchtigungen. Das Gefühl den Ohrgeräuschen hilflos gegenüber zu stehen, die „Unsicht- barkeit“ und mangelnde Akzeptanz durch andere sowie die häufigen Mißerfolge verschiedener Therapien erhöhen den Leidensdruck.

Neuere epidemiologische Daten, vor allem aus dem deutschsprachigen Raum fehlen, aber die Bedeutung des

Symptoms in den HNO-Praxen und Kliniken nimmt zu: vielleicht als Aus- druck unserer „akustischen Umwelt- verschmutzung“ (34, 35)? Eine Ursa- che ist aber auch in einer Pathologisie- rung des Symptoms in der Laienpres- se und den Medien zu suchen, oft ver- bunden mit unseriösen Heilungsver- sprechen mancher „Therapeuten“.

Mit Hilfe der in den USA und England durch Jastreboff und Hazell (19) propagierten sogenannten Retrainingtherapie besteht die Möglichkeit, den Pati- enten anschaulich genau dieses Problem der Fokus- sierung auf das Signal des Tinnitus und die Möglich- keiten des Abtrainierens zu erklären: während beim akuten Tinnitus medizini- sche Maßnahmen im Vor- dergrund stehen, die auf ei- ne Beseitigung des Tinnitus abzielen, besteht das Be- handlungsziel beim chroni- schen Tinnitus (über sechs Monate) in der Bewältigung der Ohrgeräu- sche und der damit verbundenen Be- einträchtigungen. Voraussetzung da- für ist die exakte HNO-ärztliche Abklärung des Symptoms und der Ausschluß einer organischen Ursa- che. Bewältigungsstrategien für Tin- nitus sind bislang hauptsächlich durch verhaltenstherapeutisch aus- gebildete Berufsgruppen vermittelt

Die Bedeutung

der Retrainingtherapie bei Tinnitus

Eberhard Biesinger Christian Heiden

Mit dem Konzept der Tinnitusretrainingtherapie (TRT) rückt die Habituation an ein chronisches Ohrgeräusch in den Mittelpunkt der therapeutischen Bemühungen. Griffige Erklärungsmodelle und klare Handlungsanweisungen erge- ben eine scheinbar leicht durchzuführende Behandlungs- methode. Die Grundelemente der TRT sind das ausführli- che, aufklärende Gespräch (sogenanntes Counseling) über die zentralen Verarbeitungs- und Filterungsprozesse des akustischen Systems und die Verwendung von Tinnitusmas- kern zur Teilmaskierung der Ohrgeräusche und akustischen Defokussierung. Die genauere Betrachtung zeigt, daß die im angloamerikanischen Bereich entstandenen Gedanken

durchaus nicht neu sind und die Um- setzung im deutschsprachigen Gebiet

nicht unproblematisch ist. Dem Konzept der Tinnitusretrai- ningtherapie fehlt das Element der psychologischen Dia- gnostik, um Komorbiditäten zu erfassen. Die Anwendung eines Gerätes birgt die Gefahr, die Tinnitusbehandlung nur darauf zu reduzieren und damit Kosten zu produzieren.

Gleichwohl hat die TRT in Deutschland zu einer fruchtba- ren interdisziplinären Zusammenarbeit geführt, wodurch sich der Betroffene mit seinem Symptom verstanden fühlt.

Schlüsselwörter: Retraining, Tinnitus, Psychologie, HNO, Habituation

ZUSAMMENFASSUNG

Retraining Therapy in the Treatment of Tinnitus

Tinnitus retraining therapy introduced by Jastreboff (USA) and Hazell (UK) is a new therapeutic approach for patients with tinnitus. The main aspect of this method is counseling on the mechanisms of central habituation as well as the ap- plication of noice generators for acoustic defocusing. How-

ever, patients with severe tinnitus need comple- mental psychological diagnosis and treatment.

Therapy of severe tinnitus therefore requires a teamwork between ENT-doctors and psychologists.

Key words: Retraining, tinnitus, psychology, ENT, habituation

SUMMARY

P

Hals-Nasen-Ohren-Praxis, Traustein Wahrnehmung und Bewertung Auditorischer Kortex und andere kortikale Ebenen

Erkennung Subkortex

Emotionale Assoziation Limbisches System

Belästigung Autonomes Nervensystem Ursprung

Cochlea Grafik 1

Das neurophysiologische Modell nach Jastreboff (19)

(2)

worden. Nun eröffnen die Gedanken und Modelle der Retrainingtherapie auch den Organmedizinern, insbe- sondere den HNO-Ärzten, die Mög- lichkeit, den Patienten zumindest die Prinzipien von Habituation und Ad- aptation an ein Ohrgeräusch zu er- klären. Bei leichter betroffenen Pati- enten wird dies meist ausreichend sein, bei schweren Fällen wird hier- aus die Motivation für psychologi- sche Therapien leichter erreichbar.

Im folgenden werden die Prinzi- pien dieser Retrainingtherapie darge- stellt und die Problematik der Umset- zung im deutschsprachigen Raum, einschließlich der sich ergebenden be- rufspolitischen Konflikte diskutiert.

Das neurophysiologische Modell

Das neurophysiologische Tinni- tusmodell beruht zum Teil auf tier- experimentellen Untersuchungen an Ratten mit einem durch Salizylsäure induzierten Tinnitus (17, 18, 19, 20, 21, 22, 31, 32). Diese Untersuchungen zei- gen, daß auch der peripher entstande- ne Tinnitus (zum Beispiel durch Lärm- einwirkung in der Cochlea) spezifi- sche funktionelle Veränderungen sub- kortikal und kortikal nach sich zieht.

Jastreboff beschreibt in seinen Arbeiten eine tinnitusspezifische, neuronale Aktivität (tinnitus related activity) im Kortex und limbischen System, die zu einer emotionalen Störung, vegetativer Beeinträchti- gung und damit zu einer entsprechen- den Belästigung durch das Ohr- geräusch führt: Das akustische System produziert ein Signal (den Tinnitus), das seine klinische Bedeutung erst durch die Aktivierung des limbischen und vegetativen Systems mit Provo- kation negativer emotionaler und ve- getativer Reaktionen erreicht. Die Dynamik dieser Prozesse verdeutli- chen uns die Patienten täglich: ein zunächst als harmlose „Grille“ inter- pretiertes und damit überhörbares Geräusch wird, sobald erkannt wird, daß es aus dem Körper kommt, als pa- thologisches Signal bewertet und dann katastrophisiert (Grafik 1). Es resultiert der Teufelskreis des Tinni- tus (Grafik 2)mit entsprechender Ko- morbidität.

Dem Phantomschmerz entspre- chend, können zentrale Repräsenta- tionen von peripher entstandenen sensorischen Wahrnehmungen weiter bestehen, auch wenn die periphere Ursache nicht mehr existiert, das heißt ein akuter Tinnitus, der durch ein Lärmtrauma des Innenohres ent- standen ist, kann durch plastische Pro- zesse zentralisieren und chronifizie- ren.

Wesentliche Bedeutung hat die Überlegung, daß die zentralen Bewer- tungs- und Verarbeitungsprozesse ei- nes Ohrgeräusches unabhängig vom Ort seines Entstehens (kochleär = pe- ripher oder zentral) und ihrer sub- jektiven Lautheit betrachtet werden müssen.

Es besteht deshalb keine Korre- lation zwischen der (subjektiv) meß- baren Lautheit des Ohrgeräusches und der Belastung. Audiologische Daten über die subjektive Lautstärke, Frequenz und so weiter lassen also keine Rückschlüsse auf die psychische Beeinträchtigung zu: Patienten mit

„leisem“ Ohrgeräusch leiden mitun- ter mehr als Patienten mit audiolo- gisch „laut“ meßbarem Ohrgeräusch (29).

Verschiedene kortikale und sub- kortikale Areale haben direkte Ver- bindungen zum auditorischen System und können die bewußte Wahrneh- mung des Ohrgeräusches beeinflus- sen. Insbesondere bei negativ besetz- ter Fokussierung auf das Ohrgeräusch kommt es zu einer subjektiven Ver- stärkung. Dagegen führt eine Habi- tuation (Gewöhnung) zu einer Ab- schwächung.

Neurophysiologische Aspekte lassen vermuten, daß der kortikale Erkennungsprozeß des chronisch be- stehenden Signals reversibel ist, wenn das Hörorgan über längere Zeit mit

„weißem Rauschen“ geringer Inten- sität stimuliert wird (18, 30). Diese Er- kenntnis bildet die Grundlage der Geräteversorgung.

Ziel der Retrainingtherapie aber auch aller anderen Tinnitusbewälti- gungskonzepte ist es, die negative Be- wertung dieses Signals und die Fokus- sierung darauf zu beenden. Der Be- troffene lernt, mit seinem Ohr- geräusch zu leben und es zu über- hören. Wenn eine Gewöhnung bezüg- lich der Wahrnehmung (Perzeption

des Ohrgeräusches) erreicht ist, wird das Ohrgeräusch immer weniger be- wußt werden.

Insgesamt verliert der Tinnitus seinen Einfluß auf das Leben des Pati- enten.

Prinzipien der Retrainingtherapie

Die Prinzipien der Retraining- therapie beruhen auf zwei Säulen:

dem sogenannten Counseling, das heißt einer symptomorientierten Be- ratung und individuell einer techni- schen Versorgung mit Tinnitusmas- kern zur Teilmaskierung des Ohr- geräusches oder mit Hörgeräten beim schwerhörigen Patienten (22).

Das therapeutische Vorgehen ist in vier Abschnitte strukturiert: der Befundaufnahme und Anamnese, der symptombezogenen Beratung (soge- nanntes Counseling), der technischen Versorgung, der Befundkontrolle mit weiterer Beratung.

Anamnese und Befunderhebung

In der Erstkonsultation soll die Abklärung der mit dem Ohrgeräusch verknüpften Ängsten, negativen As- soziationen sowie das Vorhandensein von Hyperakusis und Hörproblemen erfolgen. Ferner soll der Einfluß von Tinnitus, Hyperakusis und einer even- tuell vorhandenen Schwerhörigkeit auf das Leben des Patienten unter- sucht werden. Verknüpft mit der Erst- konsultation des Patienten werden die wichtigsten audiologischen Daten erhoben, bestehend aus dem Audio- gramm, der Messung der Unbehag- lichkeitsschwelle, der Tinnitusbestim- mung und den otoakustischen Emis- sionen. Sofern erforderlich, erfolgen weitergehende Untersuchungen zur Abklärung spezifischer otologischer und nichtotologischer Krankheitsbil- der (25).

Das Beratungsgespräch

Für das erste Beratungsgespräch kann eine Dauer von einer Stunde notwendig sein. Als Grundlage zur In- formationsvermittlung dient das neu- rophysiologische Modell. Insbesonde- A-2820 (52) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 44, 5. November 1999

(3)

re soll dem Patienten die Anatomie und Physiologie des auditorischen Sy- stems, die Verarbeitung von akusti- schen Informationen und Signalen im Gehirn, die Funktion der Wahrneh- mung und Nichtwahrnehmung von Geräuschen, die subjektive Bewer- tung von Gehörtem sowie die Ver- knüpfung akustischer Information mit emotionalen und vegetativen Re-

aktionen und das Prinzip von kondi- tionierten Reflexen in bezug auf den Tinnitus erklärt werden. In Abhängig- keit von der individuellen Situation werden das weitere therapeutische Vorgehen, insbesondere die Anwen- dung von Tinnitusmaskern, Hörgerä- ten, die Notwendigkeit von Streßre- duktion und Entspannungsmaßnah- men, die Notwendigkeit der Abklä- rung und Behandlung von Störungen der HWS und des Kiefergelenks(2, 3) sowie die Rolle von Medikamenten erörtert.

Technische Versorgung, akustische Defokussierung Zur akustischen Defokussie- rung des Tinnitus werden nicht zwangsläufig bestimmte Geräte ver- wendet. Dem Prinzip folgend, daß der Betroffene jetzt nicht die Stille suchen, sondern sie vermeiden muß, um eine Habituation zu erreichen,

gelten zunächst einmal allgemeine Ratschläge wie das Hören von Na- tur- und Umgebungsgeräuschen, lei- ser Hintergrundmusik, das Aufstel- len von Zimmerspringbrunnen oder ähnlichem.

Beim Vorliegen einer Schwer- hörigkeit steht die Versorgung mit ei- nem Hörgerät an erster Stelle, um dadurch die erworbene Stille zu mini- mieren. Liegt keine Schwerhörigkeit vor, werden für eine effektive akusti- sche Defokussierung des Tinnitus Geräte empfohlen, die ein konstan-

tes leises Breitbandrauschen produ- zieren. Diese Geräte sind hierzulan- de als sogenannte Tinnitusmasker im Handel und durch HNO-Ärzte ver- ordnungsfähig. Sie werden im Sinne der Retrainingtherapie aber nur zur Teilmaskierung verwendet. Das pro- duzierte Rauschen wird leiser einge- stellt als der Tinnitus ist. Die Trage- dauer richtet sich nach der privaten und beruflichen Situation und dem Vorhandensein einer Hyperakusis.

Befundkontrolle Um den Erfolg der Therapie zu gewährlei- sten, ist eine regelmäßi- ge Beratung notwendig.

Diese sollte spätestens drei bis sechs Wochen nach der ersten Sitzung und dann nach drei, sechs, zwölf und 18 Monaten er- folgen. Sie orientiert sich inhaltlich an dem oben genannten Beratungsge- spräch.

Diskussion

Seit der erstmaligen internationalen Vorstel- lung der Konzepte auf dem Tinnitusweltkon- gress 1995 in Portland, ist die Tinnitusretraining- therapie auch im deutsch- sprachigen Raum aktuell geworden. Transformiert durch verschiedene Ver- öffentlichungen (5, 23) zeigte sich rasch eine Ak- zeptanz für die klaren Konzepte der Behandlung des chro- nischen Tinnitus.

Das Bestechende an den Thera- piekonzepten ist die Anwendung ei- nes neurophysiologischen Modells, das sowohl dem Betroffenen, als auch dem Mediziner, speziell dem HNO-Arzt, einen gut verständlichen Einblick in die Verarbeitungs- und Bewältigungsprozesse eines chroni- schen Tinnitus ermöglicht. Der Fo- kus bei der Behandlung des chroni- schen Tinnitus liegt nunmehr nicht auf einer Beseitigung des Tinnitus Aufmerksamkeits-

fokussierung

Operante Faktoren Sensorische Ebene

• Individuelle Hörschwelle Dispositionelle Einflüsse

• Persönlicher Informations- verarbeitungsstil (zum Beispiel erhöhte Ablenkbarkeit)

• Funktionelle Beeinträchtigung

• Zentralnervöse Bahnen Verarbeitungsebene

• Momentanes kortikales Erregungsniveau

• Konkurrierende Aufmerk- samkeitsprozesse

• Subjektive Bedeutungsgebung

(nach 24)

• Emotional

• Kognitiv

• Physiologisch

• Motorisch

• Fehlende/falsche Informationen

• Ausmalen von Befürchtungen

Wahrnehmung Was ist los?

Bewertung und emotionale Reaktion

Was bedeutet das für mich?

(Bedrohung, Schaden, Verlust, Herausforderung)

Neubewertung Was kann ich tun?

(intrapsychisch, aktionsorien- tiert)

Bewältigungsverhalten

Wahrnehmung

Tinnitus

Kognitionen (zum Beispiel katastro- phisierende Gedanken)

Beeinträchtigung

• Geringe Selbst-Effizienz- erwartung

• Sozusagen Rückzug

• Resignation und anderes Defizitäre Bewältigungsstrategie Grafik 2

Teufelskreis des Tinnitus (24)

(4)

durch eine medikamentöse Therapie, sondern auf der Bewältigung des Tin- nitusproblemes mit Hilfe einer aku- stischen und emotionalen Defokus- sierung. Dies gelingt durch die ent- sprechenden Erklärungen der Sig- nalverarbeitung im akustischen Sy- stem und der Anwendung

von Geräten, die ein mög- lichst breitbandiges (= viele Frequenzen enthaltendes) Rauschen abgeben. In der Tat ist es bei richtiger Indi- kation mit diesen beiden Maßnahmen möglich, das Ziel der Therapie, nämlich ein Leben mit dem Tinnitus zu erreichen (4, 20).

Die Anwendung von Modellen zur Erklärung des Symptoms Tinnitus bei Patienten ist nicht neu (10).

Es existieren schon länger medizinisch-wissenschaftli- che (zum Beispiel 3, 7, 27, 33, 36) und psychologisch- verhaltenstherapeutische Modelle (zum Beispiel 14,

15, 24), welche die ursächlichen Fak- toren und die zentralen Verarbei- tungsprozesse eines Ohrgeräusches informativ vermitteln können. Die Problematik bestand bislang darin, daß diese Modelle wenig zur Anwen- dung kamen. Sie sind einerseits di- daktisch sehr wissenschaftlich aufbe- reitet und stehen deshalb nicht der Basis der medizinischen Versorgung zur Verfügung. Andererseits sind manche sehr psychologisch orien- tiert, weshalb sie nur eine schmale Therapeutengruppe nutzen kann.

Jastreboff (20) konnte mit sei- nem Modell die Lücke zwischen der

wissenschaftlichen Theorie und der praktischen Anwendung schließen.

Dennoch ergeben sich bei der Um- setzung im deutschsprachigen Raum einige Probleme: Es besteht die Ge- fahr, daß die Retrainingtherapie auf die Anwendung bestimmter Geräte

reduziert wird und die wichtigeren Maßnahmen der Beratung und die Diagnostik der Begleitsymptome vernachlässigt werden. Man beob- achtet gerade in Deutschland einen Mißbrauch unter dem Aspekt des wirtschaftlichen Gewinns durch den Verkauf der Geräte.

Der hohe Zeitaufwand für die Beratung wird nach geltender kas- senärztlicher Vergütung nicht aus- reichend finanziert, so daß eine An- wendung in der normalen Sprech- stunde nicht möglich ist. Anderer- seits ist eine alleinige psychologische oder psychotherapeutische Inter-

vention nicht angezeigt, da Tinni- tuspatienten sehr an einer somati- schen, das heißt HNO-ärztlichen Mitbetreuung hängen, die auch im- mer indiziert ist. Die von Jastreboff aufgezeigten neurophysiologischen Möglichkeiten sind nach seinen Dar- stellungen aus heutiger Sicht unzu- reichend. Die Erfahrungen mit der Maskierung und Teilmaskierung (7, 30) und die Differenzierung von ver- schiedenen Tinnitusarten (27, 33, 36) müssen auch beim chronischen Tin- nitus berücksichtigt werden, da sich im Einzelfall spezifische medizini- sche Maßnahmen indizieren lassen.

Darüber hinaus zeigt sein Konzept auch Lücken im psychologischen Be- reich: Er beschreibt zwar die Not- wendigkeit der Erhebung eines „psy- chologischen Profils“ und traut sich zu, die subjektive Belastung durch den Tinnitus zu interpretieren, ver- zichtet aber gänzlich auf die Konsul- tation der hierfür ausgebildeten Be- rufsgruppe, der ärztlichen und psy- chologischen Psychotherapeuten. Es darf nicht übersehen werden, daß die Diagnostik von psychischen Störun- gen, die Evaluierung einer Komorbi- dität im psychischen Bereich, die Messung der emotionalen und ko- gnitiven Belastung durch Tinnitus und auch die Therapieverfahren zur Tinnitusbewältigung hierzulande wissenschaftlich exakt evaluiert sind und für die Diagnostik und Therapie zur Verfügung stehen.

So ergeben sich eine Reihe von Problemen, die bei der Umsetzung im deutschsprachigen Raum berück- sichtigt werden müssen. Eine Ar- beitsgruppe der ADANO (Arbeits- gemeinschaft deutschsprachiger Au- diologen und Neurootologen), ein wissenschaftliches Gremium der deutschen Gesellschaft für HNO- Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie, befaßt sich mit dieser Thematik und versucht, durch entsprechende Re- gelungen, die Anwendung dieser therapeutischen Konzepte im deutschsprachigen Raum sinnvoll zu ermöglichen. Die Antwort auf dro- hende Kompetenzprobleme hierzu- lande ist nicht eine Abgrenzung und Konfrontation, sondern die Bildung von Behandlungsteams, bestehend aus HNO-Arzt als primäre Anlauf- stelle für den Patienten, dem Hör- A-2824 (56) Deutsches Ärzteblatt 96,Heft 44, 5. November 1999

Indikation der Behandlungsmaßnahmen entsprechend dem individuellen Belastungsgrad (4) Grad I Keine Therapie, aus Retrainingtherapie: Counseling.

Grad II Beratung über entspannende Maßnahmen, Streßreduktion (Tin- nitus als Belastungsbarometer). Retrainingtherapie. Eventuell:

psychologische Diagnostik und Beratung, Focus: „Streßanalyse“.

Grad III Psychologische Diagnostik und ambulante Therapie, systemati- sche Entspannungsmaßnahmen (zum Beispiel autogenes Trai- ning, Muskelrelaxation nach Jacobson), Retrainingtherapie.

Grad IV Zunächst stationäre Behandlung unter verhaltenstherapeuti- schen Gesichtspunkten. Danach Wiedereingliederung und weite- re ambulante Betreuung entsprechend Grad III.

PStaging der Tinnitusbelastung (4) Grad I Der Tinnitus ist gut kompensiert,

es besteht kein Leidensdruck.

Grad II Der Tinnitus tritt hauptsächlich in Stille in Erscheinung und wirkt stö- rend bei Streß und Belastungen.

Grad III Der Tinnitus führt zu einer dau- ernden Beeinträchtigung im priva- ten und beruflichen Bereich. Es treten Störungen im emotionalen, kognitiven und körperlichen Be- reich auf.

Grad IV Der Tinnitus führt zur völligen Dekompensation im privaten und beruflichen Bereich und drohen- der Berufsunfähigkeit.

(5)

geräteakustiker zur Geräteversor- gung und im Bedarfsfall eines spezi- ell in der Tinnitustherapie ausgebil- deten Psychologen zur Diagnostik von Komorbiditäten und folgend in der Therapie die Integration von ärztlichen und psychologischen Psy- chotherapeuten.

Umsetzung

In den Sprechstunden der HNO-Praxen und -Kliniken wird ei- ne Indikation zur Therapie bei Tinnituspatienten in Abhängigkeit vom Belastungsgrad gesucht (4).

Dieser wird an klinischen Parame- tern gemessen (Textkästen: Tinnitus- belastung und Behandlungsmaßnah- men). Eine solche Einteilung ermög- licht ein pragmatisches Vorgehen.

Weitere Hilfsmittel sind evaluierte Fragebögen zur Diagnostik der Tin- nitusbelastung (11, 9, 13). In der Sprechstunde der HNO-Ärzte bie- ten diese Fragebögen ein Screening- verfahren zur Feststellung der psy- chischen und somatischen Bela- stung. In der Hand der Psychologen und Psychotherapeuten ist in der Folge eine exaktere Differenzierung möglich. Hält man sich nur an das Konzept der klassischen Retraining- therapie, so ist eine Behandlungsin- dikation bei leichter betroffenen Fällen (Grad II und teilweise Grad III) gegeben. Bei Grad III der Tinni- tusbelastung ist zumindest eine psy- chologische Diagnostik indiziert, die eine Komorbidität im psychischen Bereich ausschließen und gegebe- nenfalls die einzuschlagenden psy-

chotherapeutischen Behandlungs- perspektiven aufzeigen muß. In idealer Weise wird dies realisiert, in- dem nach einer medizinischen Dia- gnostik eine zirka fünfstündige psy- chologische Diagnostik erfolgt (in Anlehnung an die fünf probatori- schen psychotherapeutischen Sit- zungen). Anschließend soll eine so- genannte Tinnituskonferenz, von Patient, HNO-Arzt und Psychologen stattfinden (Grafik 3). Der Vorteil einer solchen Konferenz ist, daß die subjektiven Krankheitstheorien, die medizinischen und die psycholo- gischen diagnostischen Ergebnisse zusammengetragen und auf ein gemeinsames therapeutisches Ziel konzentriert werden können.

Dieses aus der Diskussion um die Tinnitusretrainingtherapie ge- wachsene Modell ist eines der wert-

vollsten Ergebnisse, das diversen Fachdisziplinen im Umgang mit der Bewältigung von chronischen Krank- heiten und Beschwerden ein Beispiel geben könnte.

Resümee

Das Zusammenwirken von HNO-Ärzten mit Verhaltensthera- peuten ist die Grundlage des hier vorgestellten Konzeptes, das somit über die Prinzipien des Retraining- konzeptes hinausgeht. In der Folge der Auseinandersetzung mit der Re- trainingtherapie wurden in Deutsch- land dringend notwendige interdiszi- plinäre Diagnostik- und Therapie- ansätze initiiert. In Zukunft steht da- mit eine neue Kompetenz in der Be-

handlung von Patienten mit chroni- schem Tinnitus zur Verfügung.

Da wir in Deutschland im Ge- gensatz zu den USA dank unseres immer noch effizienten Gesund- heitssystems die Möglichkeit haben, eine Therapie des akuten Ohrgeräu- sches durchzuführen, kommt den Konzepten weitere große Bedeutung zu: das Prinzip der Defokussierung vom Ohrgeräusch ist von der ersten Stunde des Auftretens (gegebenen- falls einschließlich der passageren Anwendung von Tinnitusmaskern zur Teilmaskierung) schon während der medizinischen Beseitigungsbe- handlung notwendig und sinnvoll, um eine Chronifizierung zu verhin- dern.

Die entpathologisierende Bera- tung mit der Aufklärung der Patien- ten über die akustischen Verarbei- tungsprozesse sowie der sichere Ausschluß einer körperlichen Erkrankung sind die weiteren ent- scheidenden Maßnahmen.

Dieses Vorgehen wird in Zukunft wahrscheinlich ein wichtiger Faktor sein, um die Zunahme von Tin- nituskranken zu verhin- dern und einer Pathologi- sierung durch die Medien und sogenannte Thera- peuten entgegenwirken zu können.

Die Erfahrungen mit einem so strukturierten Vorgehen lassen es sinnvoll erschei- nen, die Verhandlungen mit den Ko- stenträgern über eine entsprechen- de Vergütung für die ausgebildeten Fachleute zu führen.

Zitierweise dieses Beitrags:

Dt Ärztebl 1999; 96: A-2817–2825 [Heft 44]

Die Zahlen in Klammern beziehen sich auf das Literaturverzeichnis, das über den Son- derdruck beim Verfasser und über die Inter- netseiten (unter http://www.aerzteblatt.de) erhältlich ist.

Anschrift für die Verfasser Dr. med. Eberhard Biesinger Hals-Nasen-Ohrenarzt Maxplatz 5

83278 Traustein Eigene

Krankheitstheorie

Behandlungsplan Medizinische

Krankheitstheorien

Eigene Bewältigungsversuche

Theoretisches Wissen zur Behandlung beziehungsweise Krankheitsbewältigung

Einigung auf ein gemeinsames Erklärungsmodell Patienten-

ebene

Medizinische Ebene

Psychologische Ebene

Psychologische Krankheitstheorien Grafik 3

Ergebnis der Tinnituskonferenz: ein gemeinsamer Behandlungsplan

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