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Der Künstler als zentrale Randfigur. Benjamin Wests The Family of the Artist und Daniel Nikolaus Chodowieckis Cabinet d'un peintre: zwei programmatische "Familienstücke"

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Martin Kirves (Basel)

Der Künstler als zentrale Randfigur. Benjamin Wests The Family ofthe Artist und Daniel Nikolaus Chodowieckis Cabinet d’un peintre: zwei programmatische >Familienstücke<

»Ichschätze alles, was [die Engländer] Gutesherausgeben, undkaufedavon, so viel mein Beutel es erlaubt; nur Wests Familienstück nicht.«1 Mit diesenWorten be­

schließtDaniel NikolausChodowiecki die1780 verfassteBeschreibungseines künst­ lerischen Werdegangs. Was hatte ihn an dem Gemälde Benjamin Wests, welches Chodowiecki alsSchabkunstblatt bekanntgeworden ist (Abb. 1), derartgestört, dass er ein solch harsches Urteil äußerte?

1 Miscellaneen artistischen Inhalts, hrsg. v. Johann Georg Meusel, 5. Heft, Erfurt 1780, S. 14.

Abb. 1: Georg Siegmund Facius: The West Family, 1779, 56 x 67 cm. Nach: Benjamin West:

The West Family, 1772, 52 x 67 cm, Yale Center for British Art, New Haven Connecticut.

Originalveröffentlichung in: Berndt, Frauke ; Fulda, Daniel (Hrsgg.): Die Sachen der Aufklärung : Beiträge zur DGEJ-Jahrestagung 2010 in Halle a. d. Saale, Hamburg 2012, S. 329-340 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert ; 34)

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Zur apodiktischen Schärfe mag beigetragen haben, dass Chodowiecki nicht über das handwerkliche Können derin England zur höchsten Blüte gebrachten »Schwarz- kunst< verfügte,die in einerzuvornichtgesehenen Intensität malerischeValenzen in der Druckgrafik präsent werden ließ. Dessen ungeachtet ging esihm jedoch — wie wir zeigen wollen - um nichts weniger als seinkünstlerischesSelbstverständnis, das

erals »Sacheder Aufklärung< gefährdet sah.

Ein Blick aufsein nahezu zeitgleich mit Wests Gemälde geschaffenes druckgrafi­

sches Familienstück (Abb. 5) lässt die Differenzen unmittelbar augenfällig werden.

Gehen die Dargestellten bei Chodowiecki einer Beschäftigung nach, bei der die Beteiligten aufeine noch näherzu bestimmendeWeise miteinander interagieren, hat West die porträtierten Personen kommunikativstillgestellt und ihnen auf diese Weiseeinemonumenthafte Wirkung verliehen, die sichvor allem beidensitzenden Männern -Wests Vater John undseinem Halbbruder Thomas— zeigt. Regungslos blicken die beiden Quäker auf Mutter und Kind und doch an ihnen vorbei. Ihr Blickzielt ins Bildjenseits, das fürdievom neuen Leben aufgerufene unbestimmte Zukunft einsteht. Verrät ihreHaltung, insbesonderedie nicht gänzlich zugeknöpften Mäntel,eine der Situation angemessene Gelassenheit, sitzen die beiden dennoch >im Gleichschritt da, um mit ungetrübtem Blick des Kommenden zu harren, dessen Anfechtungen- wie auchimmerdiese ausfallen mögen - ihre religiöse Entschlossen­ heit bezwingen wird. Eine innere Einstellung von der auchdie gebetartig gefalteten Hände zeugen.

Die derart aufgeladene ernste Stille der beiden Quäker thematisiert das Leben als religiöse Prüfung, die einen unbeirrbaren Willen erfordert, der sich tief in die herbe Physiognomie des Vaters eingegraben hat. Als Resultat dieser Haltung ver­ mag er zu gewahren, wasweder den anderen Personenim Bildnoch dem Betrachter zugänglich ist: Sein weit geöffneter Blick ist geradlinig in den bildjenseitigen Be­ reich gerichtet, deraus seinerPerspektivedieweiß leuchtende Mutter-Kind-Gruppe rahmt. Ihmwird dieDualität des Diesseits und Jenseitsdurchlässig2, währenddem Bildbetrachter einzig der allegorische Widerschein derjenseitigenSphäre an der Fen­ sterlaibungzugänglichist. Die hier visionärgegebene personale Offenbarung ist den Quäkerndie lebendige Erfahrung des Bibelwortes.3

2 Auf die Bedeutungsdimension der Lebensalter weist bereits Charles Robert Leslie hin (Allen Staley: Benjamin West. American Painter at the English court. Baltimore 1989, S. 21).

3 Vgl. George Fox: Aufzeichnungen und Briefe des ersten Quäkers. Tübingen 1908, S. 13.

Indem Mutterund Kind durchden Blick des Alten mit dem jenseitigen Bereich in Beziehung gesetzt sind, schlägt der situative Charakter der Szenebildintern ins Überzeitliche um, wozu auch dieanderen dargestellten Personenbeitragen:Der bild­ durchmessende, eine Bedeutungsachse derAugen konstituierende Blick desAlten wird vondem Jungen am Fenster - dem sechsjährigen Sohn Benjamin Wests, Ra­

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phaelLamar,- ins Bild zurückgelenkt. Während er auf der Druckgrafikden Betrach­ teransiehtunddadurch der SzenedieMomenthaftigkeit einesAugen-Blicks verleiht, dieden überzeitlichen Ausdruck der Quäker konterkariert, sieht er aufdem Ölbild in dieRichtung seines kleinen Bruders, ohne ihn allerdings direktin den Blick zu neh­

men. Wie diebeidenQuäker istauch Raphael >über den Dingen« und verdeutlicht, in der Blickachse desAlten stehend,dass der in dieunbestimmteFerne zielende Blick zugleich nach innengerichtet ist, wassich bei ihmfreilich auf seine ganzeigene, von den gesenktenAugenlidern angedeuteteträumerische Art vollzieht. Die dabei einge­

nommene legere Haltung weist bereits insofern einen überzeitlichenZugauf, als sie eine>ewig gültiges aus derAntike abgeleitete akademischePose instanziiert, während die Protagonistin des Bildes, die strahlendweiß gewandete MutterElizabethmitdem Kind Benjamin jr., in der Haltung Mariens erscheint. Die Analogie zur Gottesmutter wird durch den thronähnlichen Sessel und die dorsaleartige Hintergrundfläche - beides von einem goldenen Schimmer gerahmt, und darüber hinaus durch die einen Baldachinaufrufende Draperie und das alsSuppedaneum dienende Kissen verstärkt.

Zudem wird sie im Ölgemälde als farbinszenatorischer Höhepunkt innerhalb des herrschenden modesten Grün-Braun-Kontrastes zur unnahbaren Erscheinung einer höheren Reinheit verklärt und als solche zum konkreten AdorationsobjektderQuä- ker.4Die sakrale Atmosphäre des Bildesgewahrend, bemerktCharlesRobertLeslie:

»[...] and the silence that reigns over the wholeis that ofreligious meditation; which willprobably end, according tothe Quakercustom, in a prayerfrom the patriarch of thefamily.«5

Bei dem gegen 1770in mehrerenVersionen entstandenen Tondo Mrs. Westwith Ra­

phael West(Abb. 2, siehe Seite 342) hatsichder Künstler zur Erzeugungeiner heiligen Aura auf ein ganz bestimmtes Bild, dessen Urheber der Namenspatron seines Sohnes ist, auf RaffaelsMadonna della Sedia bezogen,das West 1762 im PalazzoPitti studiert hatte (Abb. 3). Seine unmittelbare Wirkungentfaltet das Werk RafFaels,indem es ausder ikonografischen Tradition ausschert, ohne siegänzlich abzustreifen. Das rot-blaue Gewand und der Johannesknabe weisenMutterund Kind als MariaundJesus aus, diehier aus derikonografischen Formin ihrer>menschlichen Natürlichkeit hervor­

treten. Bei West fehlt Johannes und die blau-rote Farbgebungistderartig reduziert, dass ihr Zeichencharakter visuellapokryph wird. DieEinsetzung indie unmittelbar wirkende >Lebendigkeitsform< des im Bildbewusstsein der Zeit zur Ikone gewor­ denenWerkes RafFaelsist zur Implantierung des sakralen Gehalts gänzlichhinrei­

chend, womit zugleich derdurchdie Einsetzung implizierte Anspruch, dassWests

4 »White«, so West, »Holding the preeminent places or attractive parts«, während die Farben grün und braun »ever go in the retiring parts and shadows« (Franziska Forster-Hahn: The sources of true taste. Benjamin Wests instruction to a young painter for his studies in Italy. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 30 (1967), S. 381).

5 Charles Robert Leslie: A hand-book for young painters. London 1855, S. 293.

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Abb. 2: Benjamin West: Elizabeth West und Benjamin jr, um 1770, 66,5 x 66,5 cm, Cleveland Museum of Fine Art.

Abb. 3: Raffael: Madonna della Sedia, 1513, 71 x 71 cm, Palazzo Pitti, Florenz.

Frauund Kind tatsächlichMariaundChristusseien, negiertwird. Diesverdeutlicht West zusätzlichvermittelsder uns bereits aus dem Familienstück bekanntenikonografischen Etablierung des weißen Gewandes. Als universalesReinheitszeichenverweist es nicht - wie die Gewandfarben Mariens-aufeinekonkretePerson der Heilsgeschichte, son­

dern bezeichnet eine Qualität, die—und hierin liegt der mit der Lehre der Quäker konforme aufklärerische Gehalt - nichtallein Wests Sohn Raphael oder seinerFrau Elizabethzukommt, sondern prinzipiell jedem menschlichen Wesen innewohnt.

Tritt aufdem Bild Raffaels das matürlich Menschliche< aus derikonografischen Würdeform hervor, inkorporiert West diese Form in das matürlich Menschliche<

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des profanen Familienstücks, wodurch, anstelle der unmittelbaren Präsenz beiRaf­

fael,jene Distanz erzeugt wird, die es überhaupt erst ermöglicht, dass Mutter und Kindzum Objekt der indirekten Anbetung werden. Eben dieses von Joshua Rey­

noldsgefordertePrinzipdesborrowing^ hatte West mitgrößtem Erfolg auf seinem Gemälde The Death of General Wolfe (1770) angewendet, das ihm die Ernennung zumPaintertotheCourt für Historienmalerei einbrachte. Vor dem Hintergrund des Kostümstreitsoptierte Westfür zeitgenössische, stattantikisierende Kleidung6 7 8 und kompensiertediedamit einhergehende semantische Depotenzierung durch die Ein­

setzungdesaktuellen Inhalts - General JamesWolfe ist während desFrench andIn­

dian War am 13.09.1759in Quebec verstorben - indie modifizierte Pathosform der Beweinung ChristiA Eben dieses Verfahren hatteChodowieckiauf seinem gleichfalls druckgrafischverbreiteten und ebenso erfolgreichen Bild, demAbschied des Gaias von seiner Familie (1765), angewendet. Bei den borrowings spaltet sich der in die Pathosform insertierte ikonografische Gehalt gleichsam auf:Einerseitssinkt erdurch die szenische Neubesetzungder Form aufden semantischen Grund des Bildes ab, um die Darstellung >von innen her< zu semantisieren, andererseits wird mit dem Auffalligwerden der Pathosform ihr ursprünglicher Gehalt aufs Neue thematisch, wodurch die Darstellung inein Analogieverhältniszur >Urszene<tritt, die in ihrem Nach-Bild revitalisiert Präsenzgewinnt. Die borrowings sind daher nicht als anma­

ßende Gleichsetzung zu verstehen, auch bewirken sie keinesemantische Entleerung der instanziierten Form oder fuhren die Uneinholbarkeit der Urszene vor Augen, vielmehr partizipiert das Dargestellte an ihr,wodurch es zugleichnobilitiert wird.

6 Joshua Reynolds: Discourses on Art, hrsg. v. Robert R. Wark. New Haven, London 1997, S.106.

7 West entgegnet Reynolds, der eine antikisierende Gewandung vorgeschlagen hatte: »[...] the same truth that guides the pen of the historian should govern the pencil of the artist« (John Galt:

The Life, Studies, and Works of Benjamin West. Bd. 2. London 1820, S. 48).

8 Vgl. Charles Mitchell: Benjamin Wests »Death of General Wolfe« and the populär history piece. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 7 (1944), S. 32.

Im eingangs betrachtetenFamilienstück sind beide zuvor von West durch borro­ wingsevozierte Wirkungen synthetisiert: In den diszipliniert-ernsten Quäkernist die heroische Dimension des Death of General Wolfepräsent, während Mutter und Kind die anmutig-auratischeSphäre von Mrs. West with RaphaelWest freisetzen. Damit übersteigt diesesconversation piece >without conversatiom seineGattungsgrenzen und sublimiert die Alltagsszene zu einer sich schweigend vollziehenden sacra conversa- tione. Dass es sich bei diesem Familienstückum ein im Jahr von Wests Ernennung zum Hofmaler verfassteskünstlerischesManifesthandelt, verdeutlicht schließlichdie bisher unbeachtet gebliebene Figur am rechten Bildrand, bei der es sich um den Künstler selbsthandelt. Nimmt er aucheineHaltungein, die ihn mit seinem älteren Sohnverbindet,wodurch beide die Darstellungnach außen hin rahmen, befindet

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Abb. 4: Daniel Nikolaus Chodowiecki: Frau und Kinder des Künstlers am Tisch, 1771, 11,5 x 17 cm, Kupferstichkabinett Berlin.

sich dieser dennoch innerhalb der bisher betrachteten Szenerie, während West - durch die Rücken der Quäker von ihr getrennt - außerhalb steht. Aufgrundseiner im Gegensatz zu den anderen Figuren höchst bewegtwirkenden Haltung vermittelt er den Eindruck eines hinzugetretenen Beobachters, was der Binnenszene ungewollt denCharakter eines tableauvivant verleiht. Diesen Zuschauer weisen Palette, Pinsel und Malstock zugleich als Urheber der Szene aus, was wiederum Wests periphere Position reflektiert: Als einzige Figur wird er, und mitihm die Palette,vom Rand überschnitten, so dass er sichzugleich innerhalbwie außerhalbdes Bildes befindet.

Damitvereint West in der Darstellung seinerPerson drei Momente, deren fürdie Kunst der Aufklärung charakteristischesZusammenspiel uns bei Chodowiecki wie­

derbegegnen wird: Sein jüngstesKind ansehendpartizipiert er alsFamilienvater an der Szene, währender außerhalb stehend zum verifizierenden Zeugen dessenwird, was er als Künstlergeschaffen hat. Eingedenk der Komplexität dieser zentralenRand­ figurundder virtuosen semantischen Verdichtung,welche die geschilderte Alltagssi­ tuation sakralisiert,bezeichnet Leslie West das >Familienstück< als »his most original picture«,9eine Wertung, der Chodowieckis eingangs angeführtes schroffes Diktum entgegensteht.

9 Staley: Benjamin West, S. 21.

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Auf der Zeichnung, auf der sein Familienstück basiert (Abb. 4), hat Chodowie- cki,dessenHand rechts ins Bildhineinragt, mit dezentenund dennoch bestimmten Bleistiftstrichenjede phänomenale Nuance einzufangengesucht und im nächsten Schritt dasWesentliche der Szene, dieGesichter inihrem momentanen charakteri­

stischenAusdruck, mit Tinte konkretisiert und die Zeichnung nachträglich durch denVermerk »nach der Natur gezeichnet zu No 75« als authentisch dargestelltes

»Hier und Jetzt» verifiziert. Eine handschriftliche Notiz gibt Auskunft über ihrenur­

sprünglichen Zweck: »Die Mutter des Künstlers, geb. HenrietteAyrerin Danzig, batihn umeine Zeichnung vonseinenKindern. Erfing anzu zeichnenund dachte, daß wenner es radirte, würde es ihm nichtviel Mühe mehr kosten, und er radirte es.«10

10 Elisabeth Wormsbächer: Daniel Nikolaus Chodowiecki. Erklärungen und Erläuterungen zu seinen Radierungen. Hannover 1988, S. 16.

Indem Chodowiecki von sichselbst inder dritten Person spricht,verliert die No­ tiz ihren privaten Charakter:Als Erzähler teilt er sein Handelneiner fiktiven Öffent­

lichkeit mit. Eben dieserWechsel der Sprecherebene kennzeichnet auch denÜber­

gang von der intimen Zeichnung fürdie MutterinDanzig zur öffentlichverfügba­ renDruckgrafik. Ein Übergang, der, wiedem Vermerkzuentnehmen ist, nicht viel Mühekoste,da - so die kunsttheoretische Pointe—die Mühe einzig der medialen Übertragunggeschuldet sei, während die eigentlich künstlerische Leistung bereits vollständig erbracht wurde, schließlich müsste jeder nachträgliche Eingriff in die Darstellung eine Abschattung ihrerWahrhaftigkeit zur Folge haben. Und dennoch vollzieht sich mit der Übertragung ein Wechsel der Ebenen, den der Untertitel her­ vorhebt: DasSujet wird nichtetwa als »Die Familie Chodowiecki» oder »Die Familie des Künstlers» bezeichnet, sondern als »Kabinett eines Malers» ausgewiesen,wobei erst der Titelzusatz darüber Auskunfterteilt, um welchen Künstleressich handelt.

Entscheidender als das »Wer» ist folglich das »Was» der Darstellung,nämlich dass hier ein Maler inseinem Kabinett arbeitet, wodurch Chodowiecki,geradeaufgrunddes ihn selbst zurücknehmenden unbestimmtenArtikels, für-den Künstler als solchen einstehtund die hier formulierte programmatische PositionAllgemeingültigkeit für die»Kunst der Aufklärung» beansprucht.

Dievermittels derparatextuellen Rahmung eröffnete kunsttheoretische Perspek- tivierung wird innerbildlich nicht allein inder ebenfalls am Rand situierten Person Chodowieckis explizit, sondern auchdurch die Konkretion des auf derZeichnung unbestimmten Ortes als Raum der Kunst. Dieser ist mit Gemälden ausgekleidet, zwischen denen auf Rocaille-geschmückten KonsolenStatuetten zusehen sind,wäh­

rend im unteren Bereich, links neben dem Tisch, großformatige Grafikmappen an der Wand lehnen.

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Ist auf herkömmlichen Kabinettbildern größter Wert aufWiedererkennbarkeit der einzelnen Gemälde gelegt, die en minature als piktoraler Katalog einen homo­

gen beleuchteten Raum füllen, tritt die Kunst in Chodowieckis Kabinett wie eine Schattenwand hinter die >reale<, hell erleuchteteVordergrundszene zurück. Nicht die Kunstwerke an derWand,sondern das von Chodowieckibeobachtete,vor der Kunst stattfindende Leben soll betrachtet werden, beidem es sich doch um nichts anderes, als umein von ihm selbst angefertigtes Kunstwerk handelt,das sich allerdings gerade darin erfüllt, dass es nichtals Kunstwerk auffällig wird, sondern diedargestellteSzene

>ihrer Natur nach< freigibt.In der Allgemeinen Theorie der schönenKünste (1771—74) formuliertJohann Georg Sulzer eine diesemkünstlerischen Anliegen entsprechende Rezeptionsanleitung, die zugleich einen Qualitätstest des betrachteten Werkes be­

reitstellt:

Sehet ihr ein historisches Gemälde, so suchet zu vergessen, dass es einGemälde ist; vergeßt den Maler [...].Stellt euch vorwirkliche Menschen zusehen undgebet dann auf die Handlungen dieserMenschen Achtung.Sehetzu,ob sie wichtig seien, ob die Personen in ihren Gesichtern, Gebärdenund Bewegungen, Gedanken und Empfindungen anzeigen; ob ihrdie Spracheihrer Mienen und Gebärden versteht undobsie euchetwasMerkwürdiges sagen. Findet ihr es nicht der Mühewert, die­ senin eurerEinbildung wirklichen Menschen zuzusehen, so hat der Maler schlecht gedacht.11

11 Johann Georg Sulzer: Allgemeine Theorie der schönen Künste. Bd. 1. Berlin 1771, S. 432.

Das adäquate Werk macht die >Arbeit des Vergessens«, dass es sich bei der be­

trachteten Szeneum ein Kunstwerk handelt, so unbeschwert als möglich, indem die imaginativkonstituierten Personen von einem Eigenleben getragen werden, das sie von sichaus gegenwärtig werdenlässt. Dieangestrebte Präsenz macht,um einenBe­

griff Dagobert Freys zu verwenden, den spezifischenRealitätscharakterder Kunstder Aufklärungaus,dersich imCabinet d'unPeintre geradevermittels des Kontrastes zu den Kunst-Sachenetabliert. Folglich erschöpfen sichdie gezeigten Kunstwerke kei­ neswegsdarin, ein diffuses Dekorum des Kabinettraums zu bilden;sie gehen in die Bildargumentation ein und stehen summarischfür die sich in einzelne Gattungen gliedernde Kunst, der in hellem Licht dieparadigmatischvon Chodowiecki vertre­ tene >Kunst der Aufklärung« gegenübergestellt ist.Sierückt den Menschen in seinen lebensweltlichen Zusammenhängen insZentrum und positioniert sich damit jenseits der Gattungshierarchie.

DasaufWilliam Hogarths TheBattle ofthe pictures(1743) offensivausgetragene Oppositionsverhältnis zielt hier allerdings nicht auf gegenseitige Vernichtung - Chodowiecki hat seine Bildersammlung sehr geschätzt - und dennoch wird die Gegensätzlichkeit forciert, indem die Ausfüllung des zur freien Disposition stehen­

den Raums der Vorzeichnung mit Kunstwerken, unabhängig davon, ob die Bilder

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tatsächlichso gehangen haben mögen, gezielt gesetzte Bezüge etabliert.12So wirkt das Bild hinter der stehendenTochter Suzette, das einen ambivalenten, zwischen Spiegelbild und Gemälde changierenden Status aufweist, wie ein piktorales Echo der MutterJeanne und ist alssolches ein blasses Abbild der raumgreifenden leben­ digen Hauptfigur,dem anstelle der Tochter eininseinem Bildstatus nichtnäher zu bestimmendes Wesen beigeordnet ist, welches sich mitgefalteten Händen Suzette zuzuwenden scheint.

12 An einer Identifizierung der einzelnen Bilder anhand der verschiedenen Auflagen von Fried­

rich Nicolais Beschreibung der königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam und Chodowieckis Nachlassverzeichnis versucht sich Karl Heinz Janda (ders.: Chodowieckis als Sammler. In: Fest­

schrift Johannes Jahn. Leipzig 1958, S. 295).

Abb. 5: Daniel Nikolaus Chodowiecki: Cabinet d’un peintre, 1771, 18x23 cm (E75, B 136).

Darüber hinaus ist die Mutter die positive Gegenfigur zu der als Halbporträt dar­

gestellten Dame ganz links, die mit weit ausgeschnittenem Dekollete, von einer

»scheinheiligem Lichtaura umgeben, hochnäsig dieSzeneim Vordergrund ignorie­

rend aus demBilderrahmen blickt und doch bereits durchdie Höheder Hängung der»realen» Person untergeordnet ist. Schließlich offenbart das inzweiterReihe über demzeichnendenWilhelmangebrachteGemälde dasnarzisstische Verhältnisdieser Kunst: eine Selbstbespiegelung, der Chodowiecki diepräzise Beobachtung des empi­ rischenMenschenentgegensetzt.

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Dassdie Kunst realeMenschenundkeine NachschöpfungenidealerGestaltenzu bilden habe, verdeutlicht die Darstellung der Skulpturen aufden Konsolen, deren kontrapostische Haltungen, wiewir sie bei dem Jungen in Wests Bild beobachtet hatten, Antikennachbildungen aufruft, deren Oberkörper allerdings durch denBild­ rand fein säuberlichvon den Beinen abgetrennt sind, während der antikisierende Kopf unter dem Rocailletischchen dazu verurteilt ist, das Treiben der lebendigen Beine unter dem Tisch zu beobachten. Die ausschließliche Betrachtung solcher Werke prägegeradewegs einen Blick,der das Lebendige erkalten lasse und zur künst­ lerischen Produktiontot wirkender Formen führe: »[...] so übersetzen sie [...] das Natürliche Fleisch in Gibs.Und ichwollte lieber sie machtenaus ihrem GibsFleisch.

Sogeht’s auch Denen die in Romnichtsals die Antiken zeichnen,wennsie wiederzu hause kommen mahlen sie steinerne Leblose Figuren, anstat lebende undhandelnde [,..].«13 Dementsprechend nimmt Chodowiecki nichtdie Schönheit der vor ihm hockenden Venus in den Blick, sondern fasst, zur Verfertigung eines Miniaturpor­ träts, scharf seine Tochter Jeanette ins Auge, wobei erselbst unentdeckt bleibt. Denn um »die Natur selbst reden [zu] hören«,14 15musssich der Künstler als PersonzumVer­

schwinden bringen: »[...]wenn ein Frauenzimmer (und auch zuweilenMannsper­ sonen) weiß, daßman’szeichnenwill, so will es sichangenehmstellenundverdirbt alles,die Stellungwird gezwungen. [...] Ich habe stehend, gehend, reitend gezeich­ net; ich habe Mädchen im Bettein allerliebsten, sichselbst überlassenen Stellungen durchs Schlüsselloch gezeichnet.«13

13 Robert Violet: Daniel Chodowiecki (1726-1801). Eine verschollen geglaubte Autobiogra­

phie. Bad Karlshafen 2010, S. 64 f.

14 Violet: Daniel Chodowiecki (1726-1801), S.60f.

15 Wolfgang von Oettingen: Daniel Chodowiecki. Ein Berliner Künstlerleben im achtzehnten Jahrhundert. Berlin 1895, S.63f.

16 Ludwig Kaemmerer: Chodowiecki. Bielefeld 1898, S. 110.

17 Violet: Daniel Chodowiecki (1726-1801), S. 62.

Der Künstler hat sich aber nichtallein als Beobachter,sondern auch als Künstler zum Verschwinden zu bringen: »Die Manier istimmereinAbweichenvon derWahr­ heit und jedeAbweichung vonderselben ein Fehler.«16 Aber:»Kein Künstler ist ohne Manier, amglücklichsten ist der, der am wenigstenhatt; und sieentsteht ohnstreitig aus dem Leidigen idealisieren.«17

Die Hand des Künstlers hat zum Seismografenseines Auges zu werden, wobei das Ziel nichtdarin besteht,möglichstgenau- wie das spiegelnde Wasser das Antlitz des Narziss- die >äußere< Form zu reduplizieren. Der Blick des Künstlers hat tiefer zu dringen und die von AnthonyEarl ofShaftesbury am Beginn der Aufklärung syste­

matisch unterästhetischen Vorzeichen thematisierte >innere< Form des Menschen, seine charakterlicheDisposition, die sich insbesondere inHandlungszusammenhän­

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gen zeigt, zu gewahren.18 Die schöpferische Aufgabe des Künstlers besteht folglich darin, die >innere< Form inder >äußeren< zu veranschaulichen.Weil dies Chodowiecki in den Augenseiner Zeitgenossen besonders eindringlich gelungen ist, wurde er im­ merwieder als >Seelenmahler< tituliert. VordiesemHintergrund sind die marginalen unddoch bedeutenden Veränderungen innerhalb der >bruchlosen<Übertragungder Zeichnung in das Mediumder Grafik,wie die Hand, mit der die Mutter die stehende Tochter berührt, nicht nur legitim, sondern geradewegs vom Künstler geforderte Präzisierungen.

18 Zu einer näheren Bestimmung des Verhältnisses von >innerer< und >äußerer< Form siehe mei­

nen Aufsatz Das Urteil des Herkules. Shafteshurys gemalte Kunsttheorie. In: Aufklärung. Interdiszipli­

näres Jahrbuch zur Erforschung des 18. Jahrhunderts und seiner Wirkungsgeschichte 22 (2010), S. 173-201.

Die Kunst vermag die>innere< Form des Menschen aber nicht alleinzuerkennen zu geben, sondern diese auch zu bilden. Einerseitsverdeutlicht die imSchatten lie­ gendeBilderwand, dassdieKunst dem Leben nachgeordnet ist, schließlich istsie - was ChodowieckisBlick veranschaulicht—auf ein realesUrbild angewiesen, das al­

lerdings vermittels des künstlerischen Abbildes epistemisch aufgeschlossen werden kann, andererseits ist die Kunst aber auch im Zentrum des Bildes präsent,wo sie innerhalb einerkommunikativ eingebetteten Selbstformung zumLebensmittelpunkt wird. Der stilleunddennoch intensiveAustausch der hier Versammeltenbringtdie unauflösliche Verzahnung vonKunstundLebenzum Ausdruck:So hat Jeanettedie Betrachtung der Kupfer des Foliobandes unterbrochen, umdas Entstehen der Pfer­

dezeichnung ihres Bruders Wilhelm zu betrachten, was ebenso wie der den jungen Künstler ansehende kleine IsaacHeinrichvomPrimat des Schaffensprozesses vor der Werkbetrachtungzeugt. Die Interaktion vermittels derKunst findet ihr Gegenstück im zärtlichen Umgang der anderen drei Personen: Währenddie Mutter Jeanneihre zweitältesteTochter Suzette liebkost, nimmt sich diese Justine Henriettes an, vor der wiederumeine Puppe liegt, die auch als künstlerisches Übungsmodell fungieren könnte.

An diesem Tisch ist, wasdie große,parallel zum Stuhl des Zeichentischesstehende Lehne anzeigt, Chodowieckis angestammter Platz, den das leicht aus der Mitte ge­

rückte jüngste Familienmitglied nicht gänzlich einnimmt. Damit kommt Chodo­

wiecki zwei Positionen im Bild zu: Am Tisch partizipiert er als Familienvater am häuslichen Leben, während er im Modus des kunsttheoretischen Bildes- wie West - alszentrale Randfigurerscheint, um sich,außerhalb der Szenerie sitzend, als Künstler zum Verschwinden zu bringen undzugleich die vonihm verfertigteDarstellung als bildinterner Zeuge zu verifizieren.

Istdie Parallelität,dieChodowiecki inunmittelbare Nachbarschaft zu West rückt, deutlich geworden - sieberuht auf einemgemeinsamen, das alltäglich Lebenswelt-

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340 5. Sektion • Martin Kirves

liehe als genreübersteigendesSujetetablierenden >Realismus< der Aufklärung,-hat der Vergleich beider »Familienstücke« auch ihre kunsttheoretischen Differenzen offenbart: Wests Anliegen ist es, die Kunst vermittels eines synthetisch verschmel­

zenden Eklektizismusneu zu semantisieren, ein Verfahren,fürwelches ihm Raffael einsteht: »[...] hisStile is made up from all heeversaw inworks of art and nature.«19 Seinem AdeptenJohann HeinrichRamberg empfiehlter, auf seiner Italienreise, wie er es ehemals selbst tat, die Madonnadella Sedia zu kopieren,20 denn Raffael »made everyman apainter that made him the subject of his emulation.«21 Dagegen steht Chodowieckis kunsttheoretischer Standpunkt, den erindembündigen Satz zusam­

menfasst: »[DieNatur] istmeine einzige Lehrerin.«22 Die Opposition zeigt sichauf der Darstellungsebene, indem das In-Form-Bringenvermittels der Modifikation des tradierten Formenkanonsbei West Chodowieckis Freisetzung derinneren Form in­ nerhalb der »naturalistisch« geerdeten »äußeren« Form entgegensteht. Soll aufCho­

dowieckis Familienstück dieseelische Dispositionder Dargestellten ins Bildgesetzt werden, indem die Unmittelbarkeit derin ihrer Intensität nicht konstruierbaren Si­ tuation dauerhaft festgehalten wird, soll eben dieses Darstellungszielauf WestsFami­ lienstück durch denUmschlag des situativen Augenblicks ins Überzeitliche eingelöst werden. Dies führt zu einer tendenziellenIsolierungder dargestellten Personen,die Chodowiecki als konstruierte Additionin Pose gesetzter Einzelfiguren erschienen, derenFormelhaftigkeit, fürwelcheihm insbesondere die erstarrtePhysiognomie der wie aus demBildherausgeschnittenenQuäkereingestanden haben mag, derEntfal­ tung eines seelischen Innenlebens keinerlei Raum lässt, worin Chodowiecki nicht nur die»Sache der Kunst«, sondern auch diejenige der Aufklärung gefährdetsah.

Forster-Hahn: The sources of true taste, S. 377.

Ebd., S. 382.

Ebd., S. 377.

Oettingen: Daniel Chodowiecki, S. 64.

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