• Keine Ergebnisse gefunden

Archiv "Stationäre Versorgung: Das Krankenhaus in der Postmoderne" (13.06.2008)

N/A
N/A
Protected

Academic year: 2022

Aktie "Archiv "Stationäre Versorgung: Das Krankenhaus in der Postmoderne" (13.06.2008)"

Copied!
5
0
0

Wird geladen.... (Jetzt Volltext ansehen)

Volltext

(1)

N

ach Ansicht der Mehrheit der Soziologen leben wir heute in der Postmoderne: einer Phase der ge- sellschaftlichen Entwicklung, wel- che die Moderne (bis circa 1985) ab- gelöst hat. Einige der augenfälligsten Merkmale dieser Epoche ist die Frei- setzung gewohnter Bindungen und Strukturen. In der organisierten Mo- derne von circa 1950 bis Mitte der 80er-Jahre durchlebten die westli- chen Länder eine sehr stabile Periode des „embedding“, der Einbettung in- dividueller Entwicklung in gesell- schaftliche Praktiken, eine Phase konservativer Restauration unter ökonomisch günstigen Rahmenbe- dingungen. Diese Wohlstandsgesell- schaft war gekennzeichnet durch Vollbeschäftigung, steigende Ein- kommen, soziale Leistungen und wachsende Sicherungssysteme. Für das Gesundheitswesen war das Ende dieser Phase durch die erste Gesund- heitsreform 1977 gekennzeichnet, die erste von vielen, die bis heute ge- folgt sind. Seitdem erleben wir einen ständigen Druck auf die Sozialversi- cherungssysteme, Basis der Finan- zierung für Gesundheitsleistungen.

Die Kosten der täglichen Lebens- führung stiegen seit Anfang der 90er-Jahre um ein Vielfaches, was neben bescheidenen Tarifrunden zu einem schmerzhaften Reallohnab- bau führte. Der Bogen, der dies um- spannt, heißt „demografische Ent- wicklung“ und meint die tendenzi- elle strukturelle Unfinanzierbarkeit sozialer Leistungen, wie zum Bei- spiel Renten- und Krankenversiche- rung. Ein noch größerer Bogen nennt sich Globalisierung und wirkt sich hier in einer rasanten Verlage- rung von industriellen Produktions- kapazitäten in Niedriglohnländer aus. Mit spürbaren Folgen: Wenn die Werkbänke nicht mehr in diesem

Land stehen und zunehmend nur noch Dienstleistungen und High- tech-Nischenprodukte hergestellt werden, so bricht damit auch die Finanzierungsbasis der Sozialversi- cherung weg.

Ärzte verlassen die Koalition der Sprachlosen

Im Krankenhaus haben Gewerk- schaften in den letzten 20 Jahren aus sozialpolitischen Gründen die Einkommensunterschiede zwischen den Berufsgruppen so kontinuier- lich schmelzen lassen, dass die zur Demotivierung der Leistungsträger und Hochqualifizierten führt. Von ihnen zu erwarten, die empfundene Ungerechtigkeit mit altruistischen Motiven zu kompensieren, verkennt die Folgen der zunehmenden Indivi- dualisierungstendenzen der Post- moderne. Diese Entwicklungen vollzogen sich in den letzten 20 Jah- ren eigentümlich unpolitisch, als ob niemand dies politisch artikulieren konnte oder wollte.

Bemerkenswert ist, dass die Ärz- te die Ersten waren, die 2006 die Koalition der Sprachlosen verlassen haben. Das von vielen noch als Ent- solidarisierung beklagte Verhalten

hat sich längst normalisiert – spätes- tens mit den Verdi-Tarifverhandlun- gen wurde klar, dass die Mitarbeiter im Gesundheitswesen nicht mehr bereit sind, den Preis zu zahlen in einer Welt, die ihre „Compliance“

nicht zu schätzen wusste.

Die Welt der Postmoderne ist nicht leicht zu durchschauen. Sie zeigt eine fortschreitende Komple- xitätssteigerung durch Ausdifferen- zierung hochperfekter Einzelsyste- me bei gleichzeitiger Anonymi- sierung von Vermittlungsgliedern.

Grundprinzip der Gegenwartsge- sellschaften scheint zu sein, zu- nehmend schnelleren Veränderungs- prozessen unterworfen zu sein, die sie gleichzeitig in unkontrollierba- re Spannungszustände und eine Gemengelage bringen. Gleichzeitig scheinen die Systeme auseinander- zutreten und nicht mehr mit-, son- dern gegeneinander zu agieren. Po- litiker scheinen hilflos zu sein und vor der Komplexität und wechsel- seitigen Verflechtung zu kapitulie- ren – was sie freilich nicht daran hindert, ihre Projekte ungeachtet der Nebenfolgen und Kollateralschäden weiter zu führen (Stichwort: elek- tronische Patientenkarte).

STATIONÄRE VERSORGUNG

Das Krankenhaus in der Postmoderne

Der Veränderungsdruck auf die Kliniken ist enorm. Meist werden pragmatische Lösungen für einzelne Probleme gesucht. Diese Form der Krisenbewältigung reicht jedoch längst nicht mehr aus.

Holger Richter

Foto:Klaus Fröhlich

(2)

Auch am Beispiel der Umsetzung des Arbeitszeitgesetzes kann gut nachvollzogen werden, wie nicht in- tendierte Nebenfolgen rasch zuneh- men. Aus sozialpolitischen Gründen über ganz Europa verbreitet, be- nötigte die Umsetzung des Arbeits- zeitgesetzes zunächst pragmatische Lösungen. Aus einer etwas distan- zierteren Perspektive wird jedoch deutlich, dass die bisher praktizier- ten Lösungsansätze zu kurz greifen, weil neue und andere Probleme in deren Gefolge entstehen.

Bemerkenswert ist auch die rapi- de Zunahme von Expertensystemen in allen gesellschaftlichen Berei- chen. Die Medizintechnik ist so anspruchsvoll geworden, dass sie gleich mit Full-Service-Wartungs- verträgen gekauft werden muss, weil niemand die komplizierte Funktionsweise versteht. Qualitäts- sicherung ist ebenso ein Feld von Experten, und wer würde sich ernst- haft trauen, die Zertifizierung eines Brust- oder Darmzentrums ohne die kleine Schar von Insidern anzuge- hen? Der Abschluss von neuartigen Leistungsverträgen, zum Beispiel im Disease Management oder der integrierten Versorgung, ist so kom- plex und zeitraubend, das wir uns fragen sollten, wie denn eigentlich das lang erwartete und befürchtete Einkaufsmodell der Kassen prak- tisch bewältigt werden soll ohne ei-

ne Heerschar von Spezialisten in Vertragsangelegenheiten – die auch von irgendjemandem bezahlt wer- den müssen. Tatsächlich versteht kaum noch jemand die Systeme der anderen und vertraut darauf, dass diese (mithilfe der Experten) ir- gendwie ihren Zweck erfüllen. Dar- aus resultiert ein Gefühl der Verlo- renheit, das tendenziell zum Rück- zug in das eigene Ich führt und den Einzelnen schrittweise aus gesell- schaftlichen Verbindlichkeiten löst.

Umstrukturierung des ärztlichen Dienstes

Das Gesundheitswesen ist wegen der zunehmenden Unterfinanzierung der Sozialversicherungen unter ei- nen extremen Effizienzdruck gera- ten, der das persönliche und berufli- che Selbstverständnis der Akteure stark belastet. Gewohntes muss auf- gegeben werden, Neues ist unsicher und muss erprobt werden – paradig- matische Änderungen in der Kran- kenhausorganisation zeichnen sich ab. Dafür sind folgende Sachverhal- te beispielhaft:

Das Arbeitszeitgesetz hat zwar eine Anpassung an gesetzliche Vor- schriften gebracht, die in der Folge entstehenden Probleme sind jedoch meist ungelöst. Hierzu gehört die ärztliche Präsenz in den produkti- ven Tagesschichten. Die Kranken- häuser erwirtschaften in den 35 Wo-

chenstunden der Tageschicht zwi- schen Montagfrüh und Freitagmit- tag rund 90 bis 95 Prozent ihrer Er- löse. Die Woche hat jedoch 168 Stunden, und in den verbleibenden 133 Stunden ist die für die Kapa- zitätsvorhaltung notwendige Prä- senz ebenfalls sicherzustellen. Mit einer maximalen Arbeitszeit von 48 Stunden (ohne Opt-out) benötigt je- des Haus eine größere Anzahl von Ärzten als bisher. Diese sind jedoch nur ungenügend über die Fallpau- schalen gegenfinanziert, und sie sind zudem nicht verfügbar, weil der Ar- beitsmarkt anders als in der Vergan- genheit kaum genügend Ärzte be- reithält. Hinzu kommt, dass die Ärz- teeinkommen durch die Tarifverträ- ge des Marburger Bundes gestiegen sind und weiter steigen. Das Ergeb- nis sind teurere Ärzte, die in den produktiven Tagesschichten weni- ger anwesend sind, weil ihre 48 Stunden in den Diensten aufgezehrt werden. Chef- und Oberärzte sind frustriert und fragen sich, wie die Arbeit, wie die Besetzung der Sta- tionen und Funktionsbereiche noch sicherzustellen ist.

Eine Neudefinition der Kapazi- tätsvorhaltung ist vor diesem Hin- tergrund unumgänglich. Die Kern- frage lautet: Wie sind die Bereit- schaftsdienste künftig sicherzustel- len? Bisher haben nur wenige Krankenhäuser neue Wege beschrit- ten, wie die Zusammenlegung der Dienste benachbarter Kliniken oder die verstärkte Einführung von Ruf- bereitschaften – zu komplex scheint das Problem, das mit dem Niveau und der Sicherstellung der von der Bevölkerung erwarteten Versorgung unmittelbar zusammenhängt. So- lange den Krankenhäusern nicht ausreichend gegenfinanzierte Ärzte zur Verfügung stehen, muss es zu einer Konzentration der ärztlichen Leistungserbringung in genau jenen Zeiten kommen, in denen die Leis- tungen der Häuser ganz überwie- gend erbracht werden. Ergo ist das Anspruchsniveau für die Spät-, Nacht- und Wochenenddienste deut- lich zu senken.

Logistik als Schlüsselfaktor:

Immer noch werden zu viele Patienten von Pflegekräften kreuz und quer durchs Haus gescho- ben, damit Funkti- onsuntersuchungen durchgeführt werden können.

(3)

der Dienstplanungen in Zusammen- hang mit dem Arbeitszeitgesetz hat deutlich gemacht, dass die Talente zur strukturierten Organisation bei den leitenden Ärzten sehr ungleich verteilt sind. Wenn Rhön-Aufsichts- ratschef Eugen Münch von „Cluster- Organisationen mit Hilfspersonal“

spricht, drückt er hiermit auch aus, dass die meisten Krankenhäuser un- geachtet ihrer millionenschweren Medizintechnik immer noch wie Manufakturen aus der frühen Neu- zeit funktionieren. Die strukturierte Organisation ist ein seltener Glücks- fall. Die Generation der heutigen Klinikärzte hat nicht gelernt zu or- ganisieren. Wenn dann noch die Fle- xibilisierung der Arbeitszeit hinzu- kommt, ist das Durcheinander per- fekt, und die Ampelkonten laufen in kurzer Zeit auf Rot.

Die Einführung der klinischen Behandlungspfade ist bis heute nicht wirklich in der Praxis angekommen, und die Erwartungen, die mit diesen standardisierten Prozessen verbun- den waren, werden oft nicht erfüllt.

Dies wirft ein Schlaglicht auf die übliche Praxis, sich aus dem „Hand- gelenk heraus“ zu organisieren und eine gewisse Beliebigkeit, die den Ärzten ja auch persönliche Frei- heitsgrade gewährt, zu bewahren.

Die produktive Kraft der Standardisierung

Die Einführung der Diagnosis Relat- ed Groups hat neben den Finanzie- rungsproblemen einen enormen Stan- dardisierungsdruck erzeugt. Die Fra- ge, wer sich denn nun anzupassen hat, der Patient oder das Kranken- haus, kann heute nicht wirklich gestellt werden – gesellschaftliche Diskussionen über Notwendigkeit und Tiefe der Krankenhausbehand- lung werden nicht geführt. Einziger Ausweg ist es, die produktive Kraft der Standardisierung zu nutzen, um die Organisation strukturell zu verbessern. Die Standardisierung kommt zurzeit wieder mit einem neuen produktionstechnischen An- satz in die Krankenhäuser. Haupt- und Nebenprozesse werden identifi- ziert, gemessen und berechnet. Dies führt in der Regel zu dem für die Be- teiligten erstaunlichen Ergebnis, dass es je Klinik doch gar nicht so viele

Hauptprozesse sind (meist nur zwei, drei oder vier), die – richtig verstan- den und ausgeführt – zu erheblichen Effizienzsteigerungen führen kön- nen. Der entscheidende, eigentlich kulturelle Schritt hierbei sind die Bereitschaft und die Disziplin, die- sen Standards zu folgen. Ein Bei- spiel: Die ärztliche Patientenauf- nahme ist in vielen Krankenhäusern Aufgabe der Stationsassistenten. Um standardisierte Prozesse in Gang zu setzen und gleichzeitig die (teure) Diagnostik auf das fallweise erfor- derliche Maß zu begrenzen, sollten besser Fachärzte für diese Aufgabe eingesetzt werden.

Die Effizienz des ärztlichen Dienstes ist für Krankenhäuser ein Schlüsselfaktor für ihre eigene Zu- kunft. Die Inanspruchnahme der Ärzte durch administrative oder niedrig qualifizierte Tätigkeiten ist deutlich zurückzunehmen – mehr noch, die Ärzte sind in ihrer Tätig- keit durch Hilfspersonal zu unter- stützen. Hier zeigt sich in letzter Zeit, dass Schreibkräfte und Arzt- helferinnen/Medizinische Fachan- gestellte zunehmend auf den Statio- nen eingesetzt werden. Eine Viel- zahl von Tätigkeiten (wie etwa Blut- entnahmen, Infusionen, Vorberei- tung von Funktionsuntersuchungen, Aktenmanagement, Befunde und Berichte zuordnen, faxen, verteilen, Organisation nachstationärer Dia- gnostik) bietet sich an, um die Ärzte produktiver und zugleich zufriede- ner mit ihrem Arbeitsalltag zu ma- chen. Dies ist auch deshalb so Er- folg versprechend, weil die eigentli- chen Kernaufgaben ärztlicher Tätig- keit, Diagnostik und Therapie, mitt- lerweile durch administrative Auf- gaben fast zugedeckt worden sind.

Die Kernaufgaben sind wieder frei- zulegen, damit sich der eigentliche Zweck der ärztlichen Tätigkeit ent- falten kann.

Für die leitenden Klinikärzte wird es wichtig werden, die Organi- sation ihrer Arbeitskapazitäten zu optimieren und insbesondere auch nachzuhalten und im Tagesverlauf im Auge zu behalten. Wie überall sonst auch gibt es bei den Ärzten solche, die sich mehr, und solche, die sich weniger gut organisieren können. Die Krankenhäuser werden

nicht mehr bereit sein, steigende Gehaltskosten zu finanzieren und keine Sicherheit zu haben, dass die bezahlte Arbeitszeit auch sinnvoll genutzt wird. Die Einführung der Flexibilisierung mit schnell auflau- fenden Plusstunden hat auch hier die Problemlage deutlich gemacht.

Die neue Wunderwelt der Daten

Wenn die Krankenhausleitung eine hohe Standardisierung der Behand- lungsprozesse verlangt, so ist es folgerichtig, diese auch bei ihr ein- zufordern. Wer von Ärzten erwartet, die Wirtschaftlichkeit ihrer Behand- lungen zu optimieren, darf sie nicht damit allein lassen.

Zu viele Krankenhäuser produ- zieren heute noch Datenfriedhöfe, die mit entscheidungsrelevanten Da- ten wenig zu tun haben. Wichtig ist es, die Brücke zu schlagen zu der praktischen Ebene des Handelns, auf der Entscheidungen für oder gegen Kosten und Erlöse getroffen werden.

Diese Entscheidungen treffen ganz überwiegend Ärzte. Der heutige Standard in Krankenhäusern sind die INEK-Profitcenterrechnung (die für jede Klinik eine eigene, benchmark- orientierte Erfolgsrechnung liefert), die automatisch mitlaufende Fall- kostenkalkulation (die die tatsächli- chen Kosten und ihre Struktur für je- den konkreten Behandlungsfall und so Über- und Unterschreitungen er- kennbar und die Ursachen analysier- bar macht) sowie ein Data-Ware- house (das diese neuen Datenqua- litäten in akzeptabler Zeit und indi- viduellem Zuschnitt auf den Schreib- tisch holt). Die Daten für diese neue Wunderwelt sind durch Schnittstel- len bei der Krankenhaus-EDV und den vielen Teilsystemen in den Funktionsbereichen zu holen – ma- nuelle Dateneingabe kann vermie- den beziehungsweise auf ein Mini- mum reduziert werden.

Die Einführung der genannten Systeme ist heute der neue Stan- dard. Ihre praktische Einführung dauert bis zur Entfaltung ihrer vol- len Leistungsfähigkeit bis zu drei Jahre, ist aber für Krankenhäuser künftig ebenso unverzichtbar wie die bereits genannte Standardisierung der medizinischen Prozesse.

(4)

In diesem Zusammenhang ist auch die Logistik zu nennen. Das gewohnte Bild, überall und ständig Mitarbeiter in Weiß über die Gänge laufen zu sehen, mag vertraut vor- kommen, zeigt jedoch nur, dass die- se Mitarbeiter nicht an ihrem Ar- beitsplatz sind – wo sie eigentlich hingehören. Die meisten Kranken- häuser sind so extrem zersiedelt in ihren Funktions-, Behandlungs- und Pflegeräumen sowie den Büros, dass ein erheblicher Kostenanteil – man spricht heute von mehr als 20 Prozent – auf die logistischen Pro- zesse entfällt. Medienbrüche in den EDV-Systemen sowie die seit Lan- gem versprochene, aber bislang wohl nirgendwo vollständig reali- sierte elektronische Patientenakte sorgen für das ständige Herumtra- gen von Aufträgen, Befunden und

Blutproben. Bei nicht vorhandenen PACS (digitalen Bildarchivierungs- systemen) werden Röntgenbilder, Schlüsselfaktoren für die Behand- lung, fast schon regelmäßig gesucht.

Patienten werden vom Pflegeperso- nal oder von eigens eingerichteten Transportmitarbeitern kreuz und quer durchs Haus geschoben, damit zum Beispiel Funktionsuntersuchun- gen durchgeführt werden können.

Die Zentralisierung der vergan- genen Jahrzehnte wurde meistens mit Investitionsbedarf, manchmal auch mit Qualität begründet. Wir wissen heute jedoch, dass mit Aus- nahme einiger weniger Bereiche, wie zum Beispiel das zentrale Rönt- gen, die Dezentralisierung der Pro- zesseffizienz im Krankenhaus deut- lich mehr entgegenkommt. Das, was in der Industrie schon seit Jahr- zehnten praktiziert wird, die Ar- beitsplatzanalyse mit Erfassung der Wegezeiten, wird für ein Kranken- haus bemerkenswerte, aber auch de- primierende Ergebnisse zeigen.

Mindeststandard. Lagersysteme mit Meldebestand und automatischer Nachlieferung sowie Versorgungs- assistenten gehören ebenfalls dazu wie automatische Warentransportan- lagen. Ziel ist es, die Mitarbeiter auf ihren eigentlichen Arbeitsplätzen zu halten und sie mit intelligenten teil-, oder vollautomatisierten Versor- gungs- und Informationssystemen zu unterstützen. Die Kernarbeitsberei- che einer Klinik sind neu zu struktu- rieren, Funktionsräume, Büros (As- sistenten und Oberärzte, Stationsse- kretariat, Medizinische Fachange- stellte) und Stationen sind zusam- menzuführen, um kurze Wege, kür- zere Wartezeiten, eine höhere Leis- tungsfähigkeit mit zufriedeneren Mit- arbeitern und Patienten zu erreichen.

Dabei wird den Krankenhäusern zunehmend klar, dass die Verkür-

zung der Verweildauern sowie der Transfer von Leistungen in den am- bulanten Bereich einen Nebeneffekt erzeugen, an den bisher kaum jemand gedacht hat: Das Kleid passt nicht mehr richtig – die Kapazitäten und Räume sind neu zu strukturieren.

Hatte man beispielsweise noch vor Jahren eine Klinik mit einer 25-Bet- ten-Station, die zu 85 Prozent aus- gelastet war, so kann diese Klinik heute mit durchschnittlich 16 Betten (in der Woche) und acht Betten am Wochenende arbeiten – bei glei- chem Umsatz. Die Kostensituation hat sich jedoch verändert: Mindest- besetzung und Organisationsauf- wand sind die Gleichen wie für eine 25-Betten-Station. Man kann es mit Wochenendstationen probieren, mit Stationskopplungen, mit interdiszi- plinären Stationen, mit Zentren oder auch mit Streubetten. Lösungsmög- lichkeiten für diese Entwicklung werden zurzeit überall erprobt, er- fordern aber auch Veränderungsbe- reitschaft und kreative Energie.

Krankenhaus zur hochgeachteten Niederlassung in der Praxis oder die Weiterqualifikation zum Oberarzt mit anschließender Klinikleitung er- scheint vielen jungen Ärzten immer fragwürdiger. Alternativen werden gesucht, die auch innerhalb des Krankenhauses anzubieten sind und darin bestehen, dass auch unterhalb der Chefarztebene finanziell attrak- tive, angesehene und persönlich zu- friedenstellende Jobs entstehen. Die Niederlassung besteht dann künftig mehr darin, sich mit seiner Familie am Ort anzusiedeln, und das mit ei- ner längerfristigen Perspektive, die auch den familiären Ansprüchen ge- recht wird. Da niemand mit einer langfristigen Anstellung als Altas- sistent zufrieden sein kann, wird ei- ne neue Leitungsebene von Oberärz- ten entstehen. Diese Oberärzte sind dann zum Beispiel als Funktions- oberärzte tätig, eignen sich spezielle Qualifikationen an und/oder leiten Sektionen und Teilbereiche. Die Krankenhäuser sollten sich heute schon darauf einstellen, dass diese Fachärzte ihre eigenen Vorstellun- gen von angemessenen Gehältern haben und diese in Einzelverhand- lungen durchsetzen können. Ein Facharztanteil von bis zu 70 Prozent wird erwartet (und angestrebt). Da- mit dreht sich die heutige Verteilung dramatisch um. Dadurch erhöht sich auch die Leistungsfähigkeit der Krankenhäuser. Die Frage, wie dann die bereits erwähnte Vorhaltung der medizinischen Kapazitäten in den Spät-, Nacht- und Wochenend- schichten sichergestellt werden kann, ist damit noch nicht beantwor- tet, eine Lösung dieses Dilemmas je- doch unverzichtbar.

Anspruchsvollere Aufgaben für die Pflege

Der Pflegedienst dürfte sich auf eine ähnlich nachhaltige Weise verän- dern wie der ärztliche Dienst. Je- doch wird sich die Beziehung zwi- schen Ärzten und Pflegekräften, die von gegenseitiger Abhängigkeit und Distanz zugleich gekennzeichnet ist, wohl in eine ganz andere Rich-

Ein Facharztanteil von bis zu 70 Prozent wird erwartet.

Damit dreht sich die heutige Verteilung dramatisch um.

(5)

net. Voll examinierte Pflegekräfte dominieren inzwischen das Stel- lenprofil auf den Stationen. Neben der Entwicklung anspruchsvollerer Pflegeformen und Teilaufgaben, wie zum Beispiel Wundmanage- ment, ist jedoch die Mehrzahl der Aufgaben, die auf einer Station an- fallen, weitgehend die gleiche ge- blieben. So haben Untersuchungen zur Aufgabenverteilung auf Nor- malstationen in den Krankenhäu- sern ergeben, dass die eigentlichen Kernaufgaben der anspruchsvollen Pflege nur noch rund 25 Prozent der Tätigkeiten ausmachen (ein durchschnittlicher Patient auf ei- ner 25-Betten-Station erhält in ei- nem 24-Stunden-Zeitraum nur rund 17 Minuten direkte Pflege). Haus- wirtschaftliche Tätigkeiten, Betten- machen, Essenverteilen, Aktenfüh- ren, Warenlagern und Logistikbe- treiben sind neben Botengängen und Fragen der Selbstorganisation (Dienstplanung, Supervision) das, was den Arbeitsalltag der Pflege ausmacht. Für diese Tätigkeiten sind die Pflegekräfte überqualifi- ziert, was demotiviert.

Einfühlungsvermögen als entscheidendes Kriterium

Eine neue Berufsgruppenstruktur auf den Normalstationen wäre dem- nach angebracht. Dies könnte auch eine Höherqualifikation des Pflege- personals nach sich ziehen. Damit ist weniger die Akademisierung der Pflegeberufe gemeint, sondern die Übernahme von ärztlichen Assis- tenztätigkeiten oder von Manage- mentfunktionen in der Prozesssteue- rung. Case-Management ist hier der neue Begriff, der die Prozesssteue- rung kennzeichnet. Ob die Pflege- kräfte diese Aufgabe wirklich über- nehmen dürfen, ist jedoch fraglich.

Traditionelle Vorbehalte und Res- sentiments zwischen Ärzten und Pfle- gepersonal lassen befürchten, dass die Ärzte die Fallsteuerung durch eine pflegerische Case-Managerin nicht als Segen empfinden werden.

In der Frage der Assistenztätig- keiten sehen wir ein sehr gemischtes Bild mit einer gewissen Beliebig- keit. Ob die Krankenhäuser so lange warten können, bis der Gang durch die internen Gremien bewältigt

worden ist, erscheint fraglich – steht doch mit den Arzthelferinnen/Medi- zinischen Fachangestellten eine Be- rufsgruppe zur Verfügung, die ohne viel Wenn und Aber die Assistenz- aufgaben erledigt. Für die Pflege ist jedoch mit der Übernahme von Spe- zialqualifikation, wie zum Beispiel

„Stroke-nurse“, und anderen be- sonderen Funktionsbereichen eine Chance gegeben, über das ange- stammte Tätigkeitsgebiet hinauszu- wachsen. Hier dürfte das größte Wachstumspotenzial zu finden sein.

Bezüglich der niedriger qualifi- zierten Tätigkeiten wird es auch aus Gründen der besseren Kosteneffizi- enz eine weitgehende Neuverteilung der Aufgaben geben nach dem Mot- to: „die richtige Berufsgruppe für jede Aufgabengruppe“, und zu Pfle- gehelfern, Hauswirtschaftskräften, zentralen Transportdiensten, Versor- gungsassistenten und sogar Hotel- fachpersonal führen. Erste Projekte in deutschen Krankenhäusern mit dem Einsatz von Hotelfachpersonal haben gezeigt, dass dieses erfolgreich eingesetzt werden kann und dass diese Mitarbeiter wegen der attrakti- veren Gehälter im Verhältnis zum DEHOGA-Tarif auch ein Interesse am Krankenhaus haben.

Das Krankenhaus ist in der Post- moderne angekommen – unfreiwil- lig zwar, wie alle anderen Institutio- nen und Systeme auch, aber bis auf Weiteres ohne Alternative. Was ma- chen wir nun daraus? Eine breitere Diskussion darüber, was eigentlich das Wesen eines Krankenhauses im neuen Jahrtausend ausmachen soll, ist überfällig. Dabei sollte nicht ver- gessen werden, dass sich auch die Mitarbeiter verändert haben.

Ein künftiger Erfolgsfaktor für Krankenhäuser wird die empathi- sche Zuwendung zum Patienten sein, die heute wegen Organisations- und Strukturmängeln rückläufig ist und von den Patienten immer öfter kriti- siert wird. Der Blick der im Kranken- haus arbeitenden Mitarbeiter sagt zu wenig darüber aus, wie Patienten als unfreiwillige und kurzzeitige Besu- cher diesen Ort empfinden. Ein

„Blueprint“, die erfahrene Wirklich- keit von Patienten und Besuchern mit den Augen derselben, gibt viel deutlicher Auskunft, wo und wie viel

es an dieser Empathie fehlt. Den Mit- arbeitern ist häufig nicht bewusst, dass das emotionale Verhältnis der Menschen zum Krankenhaus durch eine fast archaisch anmutende Angst geprägt ist, die durch Erlebnisse von Tod, Schmerz und Verlust verursacht sind. Die Bedeutung, die in der neu- zeitlichen Zivilisation die Vermei- dung von Leiden erlangt hat, ist im- mens, und die familiäre, empathische Aufnahme von Menschen kann hier – neben der Schmerztherapie – Wun- der wirken. Wenn konstatiert wird, dass dieses Ziel bisher nicht zufrie- denstellend erreicht wurde, ergibt sich die Frage: Wer macht es besser?

Die in diesem Beitrag vorgestellten Organisationsmittel und Strukturver- änderungen sollten daher auch im- mer mit dem Ziel betrieben werden, dieses „Mehr“ an Empathie zu er- möglichen.

❚Zitierweise dieses Beitrags:

Dtsch Arztebl 2008; 105(24): A 1328–33

Anschrift des Verfassers Holger Richter Geschäftsführung

Klinikum Bremerhaven-Reinkenheide gGmbH Postbrookstraße 103, 27574 Bremerhaven E-Mail: holger.richter@klinikum-bremerhaven.de Fürsorge macht

den Unterschied:

Nur Krankenhäuser, die ein „Mehr“ an Empathie bieten und einen entsprechend guten Ruf genießen, bestehen im Wett- bewerb.

Foto:mauritius images

Referenzen

ÄHNLICHE DOKUMENTE

Insbesondere muß die stationäre Behandlung in den Kran- kenhäusern und Hochschulkliniken und die ambulante Behandlung durch niedergelassene Ärzte lücken- los

enormen Aufwandes schon aus Gründen der Rentabilität und auch zur Sicherung eines ausreichenden Erfahrungsschatzes von einer be- stimmten Mindestzahl von Patien- ten

Bis dahin werden sich die Preise für die Krankenhausbehand- lung nicht nur weiterhin an der Entwicklung der Grundlohnsumme orientieren, sondern sie werden auch mit Abschlägen

Juli 2014 hat die Sauklar GmbH die erfindungsgemäßen Zielfernrohre mit dem erfindungsgemäßen Entfernungsmesser produziert und an die konzernverbundene Wumme KG zum Preis

Voraussetzung für eine Reform des Krankenhauswesens ist eine Kran- kenhausplanung, die eine bedarfs- gerechte Gliederung der Kranken- häuser sowohl nach der Aufgaben- stellung als

Sachverständigen (LwSV VO) vom 14.10.1997 (GVBl. 886) in der Fassung der Dritte Verordnung zur Änderung der Verordnung über die öffentliche Bestellung von

BÄK-Präsident Hoppe wertete Schmidts Zugeständnisse an die Krankenhäuser vor allem als cleve- ren politischen Schachzug: „Die versprochene Soforthilfe für die Krankenhäuser

Eine Exper- tengruppe definiert dabei für be- stimmte Arbeitsabläufe oder auch für eine bestimmte Station die po- tenziellen Risikobereiche und setzt sie mit dem Wissen