Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen FEUILLETON
Arzt- und Poet dazu
Jürgen Schwalm
Zuerst die Adresse: Jürgen Schwalm ist Facharzt für Haut- krankheiten in Lübeck, Sandstra- ße 16. Er ist 1932 in Leipzig gebo- ren, hat in Kiel, Österreich und Nie- dersachsen gewohnt, in Freiburg, Düsseldorf und Kiel studiert und eine Ärztin zur Frau. Der Vater ist Geograph, die Großväter waren Ma- ler (in Bremen) und Archäologe, ein Urgroßvater war Pharmazeut.
Schwalm fühlt sich von diesen Vor- fahren entscheidend angeregt und geprägt, zum Beispiel in seiner Sammlertätigkeit in der Mineralo- gie. Er ist davon überzeugt, daß die Menschen grundsätzlich ent- scheidend durch ihre Vorfahren geprägt werden, und zweifellos ist es für denjenigen ein Glück, der nicht nur die Erbeigenschaften, sondern auch anregende Umwelt- einflüsse im Kreis der Familie ge- schenkt bekommt.
„Ich schreibe seit Jahrzehnten;
doch ich habe meine ‚Kinder', die ich bislang nur Freunden ans Herz legte, bislang nicht in die Welt ge- schickt (von der Lyrik-Anthologie von Jüngling abgesehen). Ich glau- be aber ohne Überheblichkeit, daß manchen Zeilen die Konfrontation eines größeren Personenkreises zu- kommen sollte ..."
Außerdem interessiert sich Jürgen Schwalm für Musik. Sprachlich fin- det das seinen Ausdruck in den drei Gedichten, die unter dem Titel
„Passacaglia für Neithard Bethge"
(I. Ratzeburger Dom/II. Animato/III.
Bergkirche) zusammengefaßt sind.
Animato ist, in seiner Bilderspra- che, von Schwalms beiden Hobbies geprägt, der Mineralogie und der Musik:
Animato
In mir: das lamento meiner
schwäche verblichenes hoffnungsgrün
herbarium ohne elixir kein mineral der hilfe der alexandrit meiner zweifel changierte zu rot:
schmerzsignale Aber: die silberfanfare
zerschneidet den stoff der nacht erlösung des violetts
durch die stimme der flöte.
Verwundet von den schlägen meiner dissonanzen leg ich mich in die wiege der celli rührt mich das vertrauen der
violinen.
Deklamationen
pressen das blut der herz-astern.
Im neuen morgen
atmen schon die akkorde die pulse wissen
vom letzten großen tutti doch ihre schwingen tragen
schließlich nur bewegte ruhe.
Takte blättern auf:
eine königskerze glaubensblume.
Da gibt es ein „stenogramm von leiden ...", von dem nicht klar wird, ob es ein privates oder ein Erlebnis im ärztlichen Berufsbe- reich ist, Aber es ist eindrucksvoll in der sprachlichen Durchführung:
Das stenogramm deiner leiden eingetragen im protokoll
meiner depressionen.
Ich seh mich blind an abweichenden kurven pathologische zahlen fallen mich an nachts
nagt dein schmerz mir wunden verirr ich mich
im labyrinth deiner verzweiflung.
Minuten die du lebst sind stunden die ich sterbe.
Dein chaos:
mein Tod
Grabschrift
Weil ich starb
verlor ich meinen traum den traum
den ich leben nannte.
Es war einmal ein Traum in dem die Tage schwiegen in dem die Nächte riefen.
Es war einmal ein Traum in dem mein leben schlief in dem mein tod erwachte.
Ich schritt aus meinem traum:
jetzt schweigen die nächte.
Was mir mein traum verwehrte gab mir mein tod:
ruhe
die ich nun leben nenne.
„Grabschrift" ist das Bekenntnis eines künstlerischen Menschen, der „den Traum . . . Leben nann- te ...", und der diesen Traum nun verloren hat: „Was mir mein Traum verwehrte/gab mit mein Tod ..."
— Es handelt sich bei Schwalm al- so um einen der vielen Ärzte, die sich bewußt sind, daß sich ihre be- sten Kräfte aus künstlerischen oder aus Traumerlebnissen nähren, und die die Fähigkeit pflegen, die- sen Erlebnissen und Erfahrungen sprachlichen Ausdruck zu geben.
Dr. med. Edith Engelke
2404 Heft 38 vom 16. September 1976 DEUTSCHES ÄRZTEBLATT