Spektrum der Woche
Aufsätze • Notizen FEUILLETON
Arzt — und Poet dazu
Hans Engelhardt
Hans Engelhardt ist am 11. Mai 1918 in Berlin geboren. Nach dem Krieg arbeitete er als Fachchirurg an der Berliner Vollzugsanstalt, seit 1968 als Allgemeinarzt in 7759 Hagnau. Als weitere Stationen nennt er: „Nach Chruschtschows Berlin-Ultimatum ab in die Schweiz: drei Jahre pharmazeuti- sche Industrie, sechs Jahre Ober- arzt in verschiedenen Spitälern, zuletzt in Lugano." Er spricht vier- zehn Sprachen. Eigentlich wollte er Musiker werden.
Man merkt es den Gedichten En- gelhardts an, daß er seine Zeit er- litten hat. Vieles ist bitterste Sa- tire:
Das Hackbrett
Auch Goethe irrt: es dreht sich das Getriebe nicht nur um Hunger und um Liebe.
Der Wolfgang hat zu sagen unter- lassen, daß unsrer Erde breite Massen, sobald sie leergeliebt und sattge-
fressen, sich gerne metzeln und mit In- brunst hassen . An- und Ö-Streicher
„ . sechs Jahre Uniform . . . Ich war bei denen, die es über-
standen.
Nur drei von dreißig gingen nicht zuschanden.
Ich mein: aus meiner Klasse.
Ganz abgesehn von Volk und Rasse.
Die 27 hat er umgebracht, Der Irre an der Macht . . "
Semper idem? (Gegeben Novem- ber 1979)
Engelhardt hat auch seine Zeit in der Vollzugsanstalt als Lernzeit benutzt:
Durchschaut
. . . Ob du was tust, ob du's läßt bleiben . . ob du am Ziele landest, ob weit
davor strandest — du hast nur scheinbar eine freie
Wahl — du tatest, was dein Chromoso- mensatz befahl . . Es ist kein Grund, hier stolz zu sein, dich dort zu schämen.. . Wann brecht Ihr endlich mit dem
alten Kult von Sühne und von Schuld?
Und von den eingebildeten Me- riten?
Den ganzen Unfug sollte man ver- bieten.
Zum Schluß ein sozusagen aktuel- les Thema:
Besten Dank
Mai 1918 ward Mama von mir ent- bunden.
Vielleicht nur, weil die Pille damals nicht erfunden.
Hätt' andernfalls die Mutti wohl Gebrauch davon gemacht?
Wer weiß, dann wär ich heut noch immer nicht erwacht.
Doch offensichtlich hat man mich halt nicht verhütet.
Wollen wir also dem Schicksal danken, das diesem Desillusio- nierten den Eintritt ins bunte Trei- ben unseres irdischen Daseins er- möglichte.
Horst Frey
Horst Frey, Jahrgang 1919, Fach- arzt für Chirurgie in 3380 Goslar, Breite Straße 15, hat sich durch einen „ungewöhnlich schönen Herbst im Harz" zu einem Gedicht anregen lassen: Vierzeiler, ge- reimt, das poetische Handwerk ge-
konnt gehandhabt, das ausge- drückte Gefühl kongruent ausge- drückt:
Herbst — Spätherbst
Das alte Jahr muckt noch mal auf, will sterben nicht, macht sich noch schön, kleckst leuchtend warme Farben drauf, im Herbstgewand läßt es sich sehn.
Doch kühler wird es, dunkel schon, der Hirsch röhrt nachts im Walde, erst leise-sanft, dann laut mit
Drohn, der Nebel senkt sich auf die Halde.
Im Spätherbst kommt die stille Zeit, man gibt sich der Erinnerung und denkt an Liebe, Freud und
Leid, an das, was war, als man noch jung.
Du fühlst die Zeit des letzten Jahres nochmal an dir vorübergehn und fragst am Ende leis' wie war
es?
Ja, kurz war es, sehr kurz — doch schön!
Helmut Ries
Helmut Ries aus 2391 Westerholz ist Facharzt für Kinderheilkunde.
Er legt zehn Gedichte vor, darun- ter ein französisches, zwei engli- sche, und in den deutschen finden sich auch etliche fremdsprachige Zeilen. Die Anmut des Sprach- wechsels bei durchgehaltener An- mut der Rhythmen ist ein wesentli- cher Reiz in diesen Versen.
Auf dem Seil
. . . Liebe vergiß nicht tu me fais mal
bluten werd ich aus Deinen
Wunden.>
Ausgabe A DEUTSCHES ÄRZTEBLATT 80. Jahrgang Heft 32 vom 12. August 1983 59
Spektrum der Woche Aufsätze • Notizen Arzt — und Poet dazu
Das Deutsche ist ihm biegsamer:
Tutzing
. So schön und so groß wie ein Psalm
Im Tal liegt die Stadt
Das Neue bettet sich fugenlos ins Alte und Uralte . . .
Finis Germaniae Tot tot die Liebe Tot auch das Wort Erstickt im Angstbrei Das Gedächtnis der Väter Ach die Unzahl der Kreuze Aber ist nicht Leben Im Pfeifen des Hamsters Im Trommellauf der Maus Im ruckhaften Sprung des
Hammels im Pferch Welche Art Leben
Schuld — ja
Verlieren ist Schuld Sich selbst verlieren Vorbei denn
Gelöscht sind Name und Art
Sentiments
Ein Gefühl — wie lange Darf es dauern
Ist eine Stunde schon viel Oder sagen wir mal Bis zur Tagesschau Wir müssen
Das ist zweifellos richtig Den Kopf freihalten
Für die relevanten Angelegen- heiten Ries selbst interpretiert: „,Finis Germaniae` soll meine Gedanken über den geistigen Zustand Deutschlands nach dem letzten Krieg wiedergeben ... Trauer über das Fehlen jeglicher völki- scher Verbundenheit (tot die Lie- be). Trauer über die so herunter- gekommene deutsche Sprache (tot das Wort). Trauer über die aus Angst vor Nachteilen verdrängte deutsche Geschichte (im Angst- brei erstickt das Gedächtnis der Väter). Das heutige Leben: Pfeifen
des Hamsters als Bild für die rein materielle Einstellung zum Leben, der Trommellauf der Maus als Bild für die sinnlose Zeitvergeudung, Freizeitgestaltung, welche an das Rennen einer zahmen Maus in einer Lauftrommel erinnert . ."
Tieferer Pessimismus ist nicht vor- stellbar als im Endbild: „Gelöscht sind Name und Art." Ries schreibt, daß er heute ein wenig anders denke.
Lona Tobien
Lona Tobien ist im ursprünglichen Sinn des Wortes eine „Frau von Welt": Sie ist 1941 in Berlin gebo- ren, hat dort auch studiert und promoviert. Dann ging sie mit ih- rem Mann, der damals beim Aus- wärtigen Amt arbeitete, ins Aus- land. In Pakistan arbeitete sie an einem Leprakrankenhaus. Jahre- lang war sie kinderärztlich am größten Krankenhaus Nordnige- rias tätig — unter Bedingungen, die von hier aus kaum vorstellbar sind, sowohl was die Zahl der Pa- tienten pro Arzt anlangt als auch was die Versorgung mit Medika- menten betrifft, die so häufig statt im Krankenhaus auf dem Schwarzmarkt landen. Ihre Toch- ter ist in Karatschi, ihr Sohn in Nigeria geboren. Die heiß ersehnte Rückkehr nach Deutschland (1975) wurde zur bitteren Enttäu- schung.
Rückkehr Ich habe
in tropischen Ländern Deutschland so sehr vermißt, daß ich,
die Fremde zu lindern,
schwarzrotgold vor dem Haus ge- hißt.
Ich lag,
wenn die Schwüle den Schlaf mir vertrieb, voller Verlangen
nach Deutschlands Kühle, die nur in Gedanken mir blieb.
Ich sah
in Pakistans Wüste
Wasserschildkröten liegen.
Tödlicher Irrtum, wenn ich nur wüßte, wie ihn besiegen.
Mir blies
in der Sahel-Zone
staubiger Wind ins Gesicht.
Mir war,
in den Tränen wohne
ein zentnerschweres Gewicht.
Ich stieg
über Asche und Stroh,
den verbrannten Busch zu durch- queren.
Ich lachte.
Die Gewißheit stimmte mich froh, in Kürze heimzukehren.
Aber dann,
aber dann ist es anders ge- kommen.
Das Bild von der glücklichen Heimkehr ist trübe zerronnen.
Ich bin nicht willkommen.
Ich passe nicht mehr.
Lona Tobien, 1980
Um kein Mißverständnis aufkom- men zu lassen: Lona Tobien steht auch nach der Heimkehr erfolg- reich im Leben: Am Gesundheits- amt Bad Oldesloe ist sie unter an- derem für Tropenmedizin zustän- dig, daneben erzieht sie ihre Kin- der, daneben findet sie gelegent- lich noch Zeit für das andere Hob- by: Aquarelle und Federstift- zeichnungen. Ihre Gedichte zei- gen sprachliches Können, Beherr- schung der gebundenen Form, vor allem aber die Fähigkeit, psycho- logische Inhalte überzeugend aus- zusprechen.
Aus ihrer ärztlichen Tätigkeit in den Entwicklungsländern stam- men zahlreiche eindrucksvolle Fo- tos von Krankheiten, die bei uns unbekannt sind. Ihre Privatan- schrift lautet: Schütjenstraße 10, 2060 Bad Oldesloe.
Edith Engelke DEUTSCHES ÄRZTEBLATT Ausgabe A
60 Heft 32 vom 12. August 1983 80. Jahrgang