3.4 Der Parallelit¨ atswinkel
In diesem Paragraphen sollen – in aller K¨ urze – die Anfangsgr¨ unde der Geometrie dargestellt werden, die von Gauß, Bolyai und Lobatschewski gefunden wurde.
1. Die absolute Theorie der Parallelen:
Folgendes ist uns von den Untersuchungen von Euklid, Saccheri und Lambert her bekannt:
• Wenn man das f¨ unfte Postulat nicht benutzen will, kann man nicht zeigen, dass die Parallelit¨ at transitiv, also eine ¨ Aquivalenzrelation ist.
• Es kann vorkommen, dass Parallelen von einer dritten Geraden geschnitten werden und dabei innere Winkel bilden, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind.
• Man muss eventuell zwischen asymptotischen Parallelen und solchen unter- scheiden, die mit der gegebenen Geraden eine gemeinsame Senkrechte besit- zen.
Die erste neue Idee, die anscheinend alle zugleich hatten, bestand darin, an Stelle von Geraden nur Strahlen zu betrachten.
Definition
Der Strahl P Q * heißt asymptotisch parallel zu dem Strahl AB, falls gilt: * 1. P Q * und AB * schneiden sich nicht.
2. Jeder Strahl P R * innerhalb des Winkels ∠ AP Q trifft AB. * In Zeichen schreibt man daf¨ ur:
*
P Q||| AB. *
R
A B
P
Q
Satz: Ist
*
AB gegeben, so gibt es zu jedem Punkt P 6∈ AB genau einen Strahl
*
P Q, der asymptotisch parallel zu
*
AB ist, und es ist dann
∠ P AB + ∠ AP Q ≤ π.
Diesen Satz haben wir im Grunde schon bewiesen, wenn auch nur unter der Hypo- these des spitzen Winkels. Jetzt setzen wir die Neutrale Geometrie voraus, und die Tatsache, dass die Hypothese vom stumpfen Winkel ausgeschlossen werden kann.
Man betrachte alle Strahlen
*
P Q, die von P ausgehen und f¨ ur die ∠ QP A ≤ π/2 ist.
Es gibt einen Strahl, der in P auf P A senkrecht steht. Also ist die Menge der Winkel α, die als Winkel zwischen
*
P A und einem schneidenden Strahl
*
P R auftreten, eine Menge von reellen Zahlen, die durch π/2 nach oben beschr¨ ankt ist. Sie besitzt ein Supremum α 0 , und dieses Supremum kann nicht als Winkel bei einem schneidenden Strahl auftreten. Damit tritt er bei einem nicht schneidenden Strahl P Q * 0 auf. Und jeder Strahl, der zu einem Winkel α < α 0 geh¨ ort, muss schneiden (sonst w¨ aren alle Strahlen dazwischen auch noch parallel und α 0 nicht das Supremum). Also ist P Q * 0 asymptotisch parallel zu AB. Jeder Strahl mit kleinerem Winkel muss schneiden, * also ist die asymptotische Parallele eindeutig bestimmt.
Es kommt nicht auf den Anfangspunkt der Strahlen an:
Definition
Zwei Strahlen heißen ¨ aquivalent, wenn sie auf der gleichen Geraden liegen und in die gleiche Richtung weisen.
Satz: Ob der Strahl
*
P Q asymptotisch parallel zum Strahl
*
AB ist, h¨ angt nur von den ¨ Aquivalenzklassen der Strahlen ab.
Der Beweis ist ein bisschen technisches Hantieren mit dem Pasch-Axiom und soll hier nicht ausgef¨ uhrt werden.
Definition
Sei
*
P Q||| AB, * X ∈ AB * und Y ∈ P Q * (oder jeweils aus einem ¨ aquivalenten Strahl).
X und Y heißen korrespondierende Punkte, falls ∠ XY Q = ∠ Y XB ist. In Zeichen schreibt man dann: X l Y .
X Y
A P
B Q
Satz: Sei
*
P Q||| AB. Dann gibt es einen Punkt * A 0 auf AB, so dass A 0 und P
korrespondierende Punkte sind.
Zum Beweis : Ist
*
P R die Winkelhalbierende zu ∠ AP Q, so schneidet sie – nach Definition der asymptotischen Parallelit¨ at – den Strahl
*
AB in einem Punkt R.
Und nach Pasch trifft die Winkelhalbierende zu ∠ BAP den Strahl P R * in einem Punkt S. Die Fußpunkte der Lote von S auf AP , P Q und AB seien jeweils mit U, V und T bezeichnet. Es gilt dann P − V − Q, A − U − P und A − T − B (wenn B und Q weit genug entfernt sind).
B A
P
Q
r
R S r
V
T U
r r r
r
A 0
r M
Jetzt ist es nicht schwer zu zeigen, dass T und V korrespondierende Punkte sind.
Das ist schon der Fall, wenn T , S und V auf einer Geraden liegen. Tun sie das aber nicht, so bilden sie ein Dreieck T V S. Zun¨ achst ist ASU = b AST (SWW) und genauso SP U = b SP V . Daher ist T V S gleichschenklig (mit den Schenkeln T S und V S).
W¨ ahlt man A 0 auf AB, auf der gleichen Seite von T V wie P und mit A 0 T = b P V , so sind P und A 0 korrespondierend. Um das zu zeigen, f¨ uhrt man noch den Mittelpunkt M von T V ein. Dann ist P M V = b M A 0 T (SWS) und daher A 0 P M gleichschenklig.
Es folgt, dass ∠ A 0 P Q = b ∠ P A 0 B ist.
Man kann das Konzept der korrespondierenden Punkte benutzen, um zu zeigen, dass die Beziehung
” asymptotisch parallel“ eine ¨ Aquivalenzrelation (zwischen ¨ Aqui- valenzklassen von Strahlen) ist. Der etwas technische Beweis wird hier weggelassen.
Definition
Zwei Geraden heißen asymptotisch parallel, falls sie Strahlen enthalten, die asymptotisch parallel sind.
Zwei Geraden heißen ¨ uberparallel oder divergent, wenn sie parallel, aber nicht asymptotisch parallel sind.
Gegeben seien nun eine Gerade g und ein Punkt P 6∈ g, sowie zwei verschiedene zu
g parallele Geraden g 1 und g 2 durch P . Außerdem sei A der Fußpunkt des Lotes
von P auf g. Man kann Punkte Q ∈ g 1 und R ∈ g 2 w¨ ahlen, so dass Q und R auf der
gleichen Seite von AP liegen. Wir sagen, dass eine Gerade g 0 durch P zwischen
g 1 und g 2 liegt, wenn ihr Schnittwinkel mit AP (auf der Seite von AP , auf der Q
und R liegen) zwischen ∠ QP A und ∠ RP A liegt.
g g 2 g 1
P s g 0
A
s
R s s
Q
Satz: Es gibt h¨ ochstens 2 asymptotische Parallelen g 1 und g 2 zu g durch P . Gilt Postulat V, so stimmen g 1 und g 2 ¨ uberein, und es gibt keine Gerade, die
¨ uberparallel zu g ist.
Sind g 1 und g 2 verschieden, so sind alle dazwischen liegenden Geraden ¨ uberpar- allel zu g. Insbesondere gilt dann Postulat V nicht.
B eweis: In jede der beiden m¨ oglichen Richtungen weist von P aus genau ein zu g asymptotisch paralleler Strahl. Gilt Postulat V, so kann man sofort ¨ uber Win- kelbeziehungen ablesen, dass die beiden Strahlen zusammen eine Gerade bilden, die eindeutig bestimmte Parallele zu g durch P , und jede andere Gerade muss g schneiden.
Geh¨ oren die beiden Strahlen zu verschiedenen Geraden g 1 , g 2 , so sind offensichtlich alle Geraden dazwischen auch parallel zu g , und da sich schneidende Geraden einen beliebig großen Abstand annehmen, k¨ onnen sie nicht asymptotisch parallel sein.
2. Der Parallelit¨ atswinkel:
Satz: Sei l eine Gerade, P 6∈ l, A der Fußpunkt des Lotes von P auf l. Außer- dem seien
*
P Q und
*
P Q 0 die beiden asymptotisch parallelen Strahlen, die von P ausgehen.
Dann ist ∠ AP Q = ∠ AP Q 0 .
B eweis: Wir nehmen an, es sei ∠ AP Q 0 < ∠ AP Q. Dann gibt es einen Strahl P R * im Winkelraum I( ∠ AP Q), so dass ∠ AP R = ∠ AP Q 0 ist. Aber der Strahl P R * muss l treffen, o.B.d.A. in R.
l P s
s
A
Q Q 0
s
R 0
s
R
Nun w¨ ahlen wir einen Punkt R 0 ∈ l mit R 0 − A − R und R 0 A = b AR. Dann ist R 0 AP = b ARP (SWS). Daraus folgt, dass ∠ AP R 0 = b ∠ AP R ist, w¨ ahrend anderer- seits ∠ AP R 0 < ∠ AP Q 0 = ∠ AP R ist. Widerspruch!
In der Situation des obigen Satzes setzen wir
ϕ(P, l) := ∠ AP Q = ∠ AP Q 0 .
Folgerung:
1. ϕ(P, l) ≤ π/2.
2. ϕ(P, l) < π/2 ⇐⇒ ∃ ≥ 2 Parallelen zu l durch P . Der Beweis ist eine triviale ¨ Ubungsaufgabe.
Satz:
ϕ(P, l) h¨ angt nur von der L¨ ange des Lotes von P auf l ab.
B eweis:
Sei A der Fußpunkt des Lotes von P auf l. Wir betrachten die Menge K(P, l) := {r ∈ R | ∃ Strahl
*
P C mit
*
P C ∩ l 6= ∅ und r = ∠ AP C }.
Da ϕ(P, l) = sup K(P, l) ist, gen¨ ugt es zu zeigen, dass K(P, l) nur von der Kon- gruenzklasse von AP abh¨ angt.
Dazu sei l 0 eine weitere Gerade, P 0 6∈ l 0 , A 0 der Fußpunkt des Lots von P 0 auf l 0 , sowie AP = b A 0 P 0 . Es ist dann zu zeigen, dass K(P, l) = K (P 0 , l 0 ) ist, und aus Symmetriegr¨ unden reicht es sogar z.z., dass K (P, l) ⊂ K (P 0 , l 0 ) ist.
Seien
*
P Q bzw.
*
P 0 Q 0 die asymptotisch parallelen Strahlen (wir brauchen wegen des vorangegangenen Satzes nur eine Seite zu betrachten). Ist s ∈ K(P, l), so gibt es ein C ∈ l (in der gleichen Richtung wie Q) mit ∠ AP C = s. Wir w¨ ahlen dann einen Punkt C 0 ∈ l 0 (in der gleichen Richtung wie Q 0 ) mit A 0 C 0 = b AC . Dann ist ACP = b A 0 C 0 P 0 (SWS) und daher s = ∠ AP C = ∠ A 0 P 0 C 0 . Aber das bedeutet, dass auch s ∈ K(P 0 , l 0 ) ist.
F¨ uhrt man noch eine L¨ angenfunktion λ ein, so erh¨ alt man eine Funktion Π : {t : t > 0} → (0, π
2 ]
mit Π(λ(P A)) := ϕ(P, l).
Definition
Π(t) heißt der (durch t bestimmte) Parallelit¨ atswinkel.
Die Bezeichnung stammt von Lobatschewski.
Satz: Π(t) ist schwach monoton fallend.
B eweis: Sei t 0 > t. Man kann eine Gerade l und einen Punkt P 6∈ l finden, so dass – mit dem Fußpunkt A des Lots von P auf l – gilt:
t ist die L¨ ange von AP , und es gibt einen Punkt P 0 mit A − P − P 0 , so dass t 0 die L¨ ange von AP 0 ist.
s l A P s
P 0 s
Π(t) Π(t)
Q Q 0
t 0 t
Tr¨ agt man Π(t) bei P 0 an AP 0 an, so erh¨ alt man eine Parallele P 0 Q → 0 zu P Q → (F-Winkel). Aber das bedeutet, dass Π(t 0 ) ≤ Π(t) sein muss.
Satz:
Gilt Postulat V, so ist Π(t) ≡ π/2.
Gilt Postulat V nicht, so ist Π(t) < π/2 f¨ ur alle t.
B eweis: Wenn Postulat V nicht gilt, dann gilt die Hypothese vom spitzen Winkel, und es gibt
” unterhalb“ der Parallelen, die in P senkrecht auf AP steht, eine asymptotische Parallele. Ist t die L¨ ange von AP , so ist Π(t) < π/2.
Die logische Verneinung des Euklidischen Parallelenaxioms (in der Formulierung von Playfair) sieht folgendermaßen aus:
Hyperbolisches Parallelenaxiom:
(H-P) Es gibt eine Gerade l und einen Punkt P 6∈ l, so dass durch P mindestens
zwei Parallelen zu l gehen.
Satz: Setzt man (H-P) voraus, so gilt:
1. Die Hypothese vom spitzen Winkel ist erf¨ ullt.
2. Die Funktion t 7→ Π(t) ist streng monoton fallend.
3. ∀ ϕ ∈ (0, π/2) ∃ ! t mit Π(t) = ϕ.
B eweis: 1) ist klar!
2) Zur Vereinfachung der Notationen nehmen wir an, es sei eine L¨ angenfunktion gegeben, und setzen Π(XY ) := Π(λ(XY ).
Seien P, R zwei Punkte auf der Senkrechten zur Geraden l in A, und es sei AP >
AR. Dann ist Π(AP ) ≤ Π(AR).
Annahme, Π(AP ) = Π(AR). Sei M der Mittelpunkt von P R, X der Fußpunkt des Lotes von M auf die asymptotische Parallele
*
RQ 0 und Y der Fußpunkt des Lotes von M auf die asymptotische Parallele P Q. Dann ist * XRM = b M Y P (SWW). Also ist ∠ XM R = b ∠ P M Y , d.h. X − M − Y .
Das bedeutet, dass P Q und RQ 0 eine gemeinsame Senkrechte besitzen. Sie sind dann ¨ uberparallel, aber nicht asymptotisch parallel. Das ist ein Widerspruch zur Transitivit¨ at der Relation
” |||“.
l A
s R
s M
P s
X
Y
Q 0 Q
r r
3) Ist ϕ ein gegebener spitzer Winkel, so haben wir schon an fr¨ uherer Stelle gezeigt, dass es eine Senkrechte zu einem der Schenkel von ϕ gibt, die asymptotisch parallel zum anderen Schenkel ist.
Folgerung: Π : (0, ∞) → (0, π/2) ist bijektiv und stetig, und es ist lim
t→0t>0